Die Zähmung des wilden Kindes

Eine Erzählung von Ludger Lütkehaus beschreibt Friedrich Nietzsches Jahre im Wahn

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor vielen Jahren erlebte ich Lütkehaus im Rahmen einer Lesung in der Rubens-Geburtsstadt Siegen – ein unauslöschlicher Eindruck, der mich zu einer treuen Leserin seiner zahlreichen Schriften werden ließ. Mich begeistern stets sein scharfer analytischer Blick, sein Kenntnisreichtum sowie die Kunstfertigkeit seines Stils. Umso neugieriger war ich, den Literaturwissenschaftler Lütkehaus als Autor mit einer „Erzählung“ zu erleben. Als mir der Titel in die Hände fiel, war die Spannung groß: Welche Sprache würde Lütkehaus finden, um Friedrich Nietzsches Jahre im Wahn darzustellen? Was würde das Büchlein an neuen Erkenntnissen bringen? In welchem Verhältnis zueinander stünden Fiktion und historische Wahrheit?

Der Prolog gibt Aufschluss über das literarische Verfahren: „Die biographischen Fakten werden durchweg respektiert. Nur gelegentlich ist der Autor abweichende Wege gegangen.“ Der Dank Lütkehaus‘ gilt denn auch der neueren Nietzsche-Forschung und -Edition.

Die „biographische Erzählung“ spricht aus der Perspektive der Mutter und will zugleich „die Stimme des Sohnes unterschwellig hörbar“ machen. Nachgezeichnet wird „das abgründige Beziehungsdrama“ zwischen Mutter und Sohn Nietzsche: Während Teil I von der Tragödie des verlorenen Sohnes spricht, der nach dem frühen Tod des Vaters durch das geistliche Rollendiktat der Mutter „auf den Weg des Spaltungsirreseins gedrängt wird“, gilt Teil II der Heimholung des wiedergewonnenen Sohns im Wahn. Der dritte, epilogische Teil schließlich spricht vom fatalen Triumph der Schwester.

Abgrund, menschliches Drama, Tragödie, Fatalität – ein großer (und dankbarer) Stoff für eine Erzählung, die mit ihren beiden Teilen, umschlossen von Pro- und Epilog, straff gegliedert ist.

„Fast immer war er ihr guter Sohn, ihr innigst geliebtes Herzenskind gewesen“ – dies ist der Auftakt des ersten Teils. Auf der Bahnreise von Basel hat Nietzsche mehrere Tobsuchtsanfälle bekommen, der heftigste Wutausbruch richtete sich gegen die Mutter; seither reisen sie in getrennten Abteilen: „Wie furchtbar war es für sie, ihr herzensliebes Kind während der Fahrt nicht mehr selbst pflegen zu dürfen […] Dabei hatte die Heimreise eigentlich gut begonnen, wenn man die Schwere seiner Erkrankung in Rechnung stellte“.

Nach dem Erhalt der Hiobsbotschaft eines Freundes über die Einweisung ihres Sohnes in die Basler Irrenanstalt war die Mutter unverzüglich dorthin geeilt, um ihren erkrankten Sohn in Empfang zu nehmen: „Die Wiederbegegnung mit ihm im Sprechzimmer der Irrenanstalt […] war für sie noch schrecklicher, als von ihr befürchtet. […] Wie jäh war der Bruch“. Die Mutter sieht im Zustand ihres Sohnes „die letzte Steigerung seiner bisherigen Qualen. Genaugenommen hatte man bei ihm nie zwischen Krankheit und Leben unterscheiden können“. Ihr „Herzensfritz“ ist zu einem „Irren“ geworden – was die Mutter nicht davon abhält, ihn zu sich heimzuholen: zu „ihr und zu Gott, ihrer aller Gott, dem Gott ihres früh verstorbenen Mannes, dem Gott ihrer und seiner Väter, sollte er zurückfinden und von seinem Wahn, nicht bloß seiner Erkrankung genesen“. Die Mutter erkennt im Wahn des Sohnes eine Strafe Gottes für dessen „sündige Phantasien“, Verirrung und Überhebung: „Unsäglich lästerliche Dinge über sich als Nachfolger des angeblich ‚toten Gottes‘ hatte er herausgeschrien“. Den Behauptungen der Ärzte – Paralysis progressiva als Folge einer spezifischen Infizierung – mag die Mutter keinen Glauben schenken: „Waren nicht die Irrenärzte, die solche Urteile fällten, in Wahrheit selbst die irren Ärzte? […] Ihr war klar: In Basel, wo man von ‚religiösem Wahnsinn‘ sprach und ihn einer geschlechtlichen Ansteckung für fähig hielt, durfte er auf keinen Fall bleiben“. Sie mag in ihrem Sohn keineswegs den hoffnungslosen Fall sehen, von dem die Basler Ärzte sprechen. „Spezifisch infiziert“ hat er sich ihrer Meinung nach in seinem 22. Lebensjahr mit dem Werk jenes „berüchtigten Philosophen“, der „schon vor ihrem Sohn zu dem traurigen Ruf des Atheisten gekommen war. Durch ihn war er auf die schiefe Bahn seines gottlosen Denkens gebracht worden“.

Retrospektiv vollzieht die Mutter den Lebenslauf ihres Sohnes nach, dessen Berufung von Anfang an klar zu sein schien: In einer Familie, die väterlicher- wie mütterlicherseits Generationen von Pastoren hervorgebracht hatte, sollte auch er den Beruf seines Vaters wie seiner Großväter ergreifen. Der Sohn soll das Leben seines früh verstorbenen Vaters fortführen. Nach der Matura beginnt Friedrich das Studium der Theologie und der klassischen Sprachen – doch eine jähe Enttäuschung trifft die Mutter, als er das Studium der Theologie aufgibt, nachdem es schon in seinen ersten Semesterferien zu Missstimmigkeiten in Glaubensfragen gekommen war: „Er hatte das Abendmahl verweigert und mit ihr darüber gestritten, ob die christliche Lehre die allein gültige sei. Ja, welche denn sonst?“

Nach der fluchtartigen Abreise aus Basel wird Nietzsche in die geschlossene Anstalt Jena eingewiesen. Eigentlich war es der Plan der Mutter, ihn sofort zur Pflege in ihr Haus in Naumburg mitzunehmen, was ihr von den Ärzten aber verboten wurde. Wie in Basel lautet die Diagnose „Paralysis progressiva“; und erneut wird eine Geschlechtskrankheit als Ursache für das Irresein verantwortlich gemacht: „Aber glauben mochte sie das weniger denn je. Und erblich sollte die Krankheit jetzt auch noch sein […]. Sie hatte das Gefühl, ihn wie das wehrlose Lamm Gottes zur Schlachtbank geführt zu haben“.

Zwei Monate lang darf die Mutter den Sohn nicht sehen und ist für die Zeit der Trennung auf die Auskünfte der Ärzte angewiesen, die die krankhafte Unruhe des Patienten sowie sein Verlangen nach „zahllosen Frauenzimmern“ beschreiben. Liest man ihm aus seinen Werken vor, erinnert er sich nicht an sie. Gegen Mitpatienten wird er gewalttätig: „Auch sie, jetzt gestand sie es sich ein, würde sich vor ihm schützen müssen, wenn es ihr nicht gelingen sollte, durch ihre Liebe Macht über ihn zu gewinnen“.

Je selbstgewisser die Ärzte Friedrich für unheilbar erklären, desto mehr hält die Mutter an ihrer Hoffnung auf Heilung fest. Sie glaubt, dass die Heilung nur gegen die Ärzte möglich sei und lässt den Sohn, um nicht weiter auf die Zustimmung der Ärzte angewiesen zu sein, gerichtlich entmündigen und die Vormundschaft auf sich übertragen. „Damit beendete sie […] das selbständige bürgerliche Leben ihres Sohnes, wie sie wohl wusste. Aber was hieß das denn? Er war doch nur gleichsam in ihren Schoß heimgekehrt“. In der Pflege ihres nun entmündigten Sohnes findet sie die Aufgabe ihres späten Lebens, eine Verantwortung, die sie mit niemandem mehr teilen möchte, denn „sie war ihr von Gott selbst gegeben“.

Teil II der Erzählung beschreibt das Leben der Mutter mit ihrem Sohn in Naumburg, jener „dumme[n] Beamtenstadt“, jenem „Ort zum Zugrundegehen“. „Ihr Haus, einstmals ihr Witwenhaus, ist nun im vollsten Sinn das Mutterhaus, ihr Mutter- und Sohneshaus“, wie sie lächelnd und nicht ohne Stolz verkündet. In Naumburg sieht sie „ihre schönste Zeit“ beginnen, eine „Hoch-Zeit“: „Sie hatte ihn wieder wie er sie. […] Von dem ‚kleinen Pastor‘, der zum aufsässigen gottlosen Ketzer geworden war, hatte er an ihrer Hand zum lenksamen lieben Kind zurückgefunden.“ Es ist die Heimholung des verlorenen Sohnes, Auferstehung und Heimkehr zugleich, seine Rückkehr in den mütterlichen Schoß des Glaubens. Gemeinsam mit ihrem Bruder, dem als Gegenvormund bestimmten Pastor sowie Friedrichs Schwester verbietet die Mutter zunächst die Veröffentlichung und Auslieferung der Werke ihres Sohnes: „Auch wenn seine irregeleiteten Freunde von ‚Zensur‘ sprachen – Gott und ihr Sohn gingen vor. […] So blieb sein blasphemisches Werk bis auf weiteres ungedruckt“.

Der gemeinsame Tagesablauf in Naumburg ist streng geregelt – vom gemeinsamen Frühstück über Spaziergang, Mittagessen und Mittagsschlaf, Vorlesen und Fantasieren am Klavier bis zum Abendmahl mit Kakao und Schinkensemmeln sowie dem späten Spaziergang: „Zusammen mit ihr wurde er wieder der Wanderer, der er sein Lebtag gewesen war. Erst gegen elf, nachdem sie noch alles für den nächsten Tag vorbereitet hatte, brachte sie ihn ins Bett“. Es beginnt die Zähmung des „wilden Kindes“. Mit der Fügsamkeit gehen allerdings Apathie, Empfindungslosigkeit und geistiger Abbau einher: „Selbst seine ältesten Freunde erkannte er nun nicht mehr […]. Seine Hände konnte er stundenlang betrachten, als ob sie gar nicht die seinen wären“.

Die Prognose der Ärzte, dass die Krankheit seinen Geist, wenn auch nicht seinen Körper, vernichten werde, ist nun nicht mehr abzuweisen. Auch sein inneres Leben geht zurück. Sie selbst fühlt sich zunehmend müde. Die wachsende Bekanntheit ihres Sohnes lockt Besucher ins Haus, seine Schriften, die „einst wie Blei bei seinen verschiedenen Verlegern gelagert hatten, sind nun dank der ans Licht gezerrten Krankheit ausverkauft“, ihr Sohn wird „wie ein geniales und irres Wundertier“ bestaunt. Die Mutter kann sich dem zunehmenden Interesse der Öffentlichkeit nicht entziehen, zumal mit dem Verkauf seiner Bücher sein Lebensabend finanziell gesichert werden soll.

Hinzu kommen die Machenschaften der Schwester Elisabeth, die alles darauf anlegt, sich das Archiv und die Verlagsrechte über das Werk ihres Bruders anzueignen. Die Mutter empfindet es als pietäts- und treulos, den Geistesschatz ihres geliebten Sohnes an fremdes Geld zu verraten, doch gibt sie den Bestrebungen der Tochter am Ende erschöpft und krank nach. Das Archiv wandert nach Weimar, wo Elisabeth ihr ehrgeiziges gesellschaftliches Leben beginnt: Reichlicher denn je fließt der Mutter nach dem Verkauf der Verlagsrechte ihres Sohnes Geld für ihn zu, doch nie wird sie das Gefühl los, dass es sich bei dem Geld „gewissermaßen um Blutgeld, Judas-Geld für den Verrat ihres Sohnes am Christentum“ handelt.

Sie muss ihren ganzen Glauben aufbieten, um im Ende ihres Lebens noch Gnade und Barmherzigkeit Gottes entdecken zu können: Sie ist an Unterleibskrebs erkrankt, während er, „die Frucht ihres nunmehr ebenfalls unrettbar kranken Leibes“, im Wahn darniederliegt. „War das nicht die bitterste aller Krankheiten, die einer Mutter beschieden sein konnte? Wollte ihr todkranker Leib ihr etwa sagen, dass sie den Sohn besser nie geboren hätte?“ Aber „ihr Herzenskind war nicht der Krebs ihres Lebens gewesen, sondern dessen schönstes Geschenk“.

Sie stirbt, voller Sehnsucht nach ihm, getrennt von ihm, da sie ihn in ihren letzten Tagen nicht mehr sehen darf. Ohne überhaupt vom Ende der Mutter zu wissen, dämmert der Sohn in seinem Zimmer vor sich hin. Jetzt kann Elisabeth triumphieren: „Nun hatte sie den Bruder endgültig für sich allein. Nun war auch der Zeitpunkt für die Übersiedlung des Kranken nach Weimar gekommen. Es war seine letzte Eisenbahnfahrt“. Wie ein Hohepriester in einen weißen Mantel gewandet, liegt Nietzsche für die Besuche seiner Verehrer „als ehrfurchtgebietender lebender Leichnam“ auf seinem Sofa in der Weimarer Villa der Schwester aufgebahrt, in deren Namen er schließlich zu Grabe getragen wird.

110 Seiten umfasst das Büchlein, die sich leicht und schnell lesen lassen. Neue Einblicke in Nietzsches letzte Jahre gibt es kaum. Historisch-biografische Treue überwiegt, wie schon zu Beginn erwähnt, erzählerische Freiheit und Imagination. Es gibt keine Brüche im Text, keine Diskontinuitäten, keine Stilmittel, die Spannung oder Überraschung erzeugen. Es ist ein gleichmäßiger, primär chronologischer Erzählfluss.

Was erfährt man wirklich über die Mutter? Wenn auch aus ihrer Sicht erzählt wird, bleibt sie doch seltsam abstrakt und unlebendig, ein Schemen mit der Anmutung des Naiven, zu wenig komplex, vor allem in emotionaler Hinsicht. Ein Charakter wird sie nicht. Ihre Reaktion auf die Krebsdiagnose beispielsweise hätte als innerer Monolog ausgeformt werden können, um einmal wirklich nah an sie heranzukommen. Auch ihr langsames Zerfressen- und Zerrieben-Werden; das Schwinden ihrer Kräfte; ihre Sehnsucht nach dem ungreifbar gewordenen (oder schon immer ungreifbar gewesenen?) Sohn im Verlauf ihres Sterbens; das unaufhaltsame Entgleiten des Lebens, der Dinge. Das sind jedoch Erkenntnisse und eine Reflexivität, die der Erzähler ihr vorenthält. Und wie sieht es aus mit der „unterschwellig hörbaren“ Stimme Nietzsches? Sie ist kaum vernehmbar. Das „Spaltungsirresein“ wird nicht wirklich erzählt. Die Problematik des Textes liegt in der dem Untertitel beigefügten Genrebezeichnung – wäre der Titel lediglich „Die Heimholung. Nietzsches Jahre im Wahn“, so könnte man den Text als (biografisch-historisch) gelungen betrachten. Um der Genrebezeichnung gerecht zu werden, hätte man die spezifischen Mittel des Erzählens nutzen müssen: Versatzstücke in den Text hinein montieren, Perspektiven wechseln, mit Sprache und (Erzähl-)Ebenen spielen, das ureigene Potenzial des Erzählerischen nutzen. So aber bleibt der Text ohne die Kraft der Fiktion und weitestgehend gesichtslos. Es scheint, als habe der Analytiker und Kritiker Lütkehaus hier nicht zu seiner Sprache gefunden.

Titelbild

Ludger Lütkehaus: Die Heimholung. Nietzsches Jahre im Wahn. Eine Erzählung.
Schwabe Verlag, Basel 2011.
110 Seiten, 13,80 EUR.
ISBN-13: 9783796527289

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