LSD, Martin Walser und Marburg

Christian Y. Schmidt begibt sich in „Zum ersten Mal tot“ in 18 Kolumnen auf autobiografische „Ursachenforschung“

Von Max BeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Max Beck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein Hirnforscher hat mir einmal erzählt, dass ein Zweijähriger jeden Tag etwa 50 Dinge zum ersten Mal macht. Und wenn man etwas zum ersten Mal macht, dann löst das Glücksgefühle aus. Wenn mein Sohn Linus also einen Wäschekorb umdreht, sich drauf stellt, den Wasserhahn aufdreht, einen Becher voll macht und danach wieder auskippt, dann hat er fünf neue Dinge gemacht. Und jubiliert vor Glück. Ein 50-jähriger wie ich hat nach Meinung des Hirnforschers nur einmal im Monat so ein Erlebnis, alles andere ist eher Routine. Das ist jetzt bei mir anders: Als Bundespräsident kann ich oft etwas zum ersten Mal machen. (lacht)“

Christian Wulff, glücklicher Bundespräsident, im Interview mit „Dein Spiegel“ 12/10, dem Kindermagazin des Magazins „Der Spiegel“

Die Hirnforschung beschäftigt sich nicht nur damit, was Bundespräsidenten „glücklich“ macht. Als Teil der Disziplin „Glücksforschung“ wird untersucht, wie der Mensch in Zeiten des „Selbstmanagements“ sein persönliches „Glück“ steigern kann, wenn die Verhältnisse dieses nicht schon von ganz allein fördern. Und das hängt laut Hirnforschung via Bundespräsident Wulff irgendwie mit den Premieren im Leben zusammen.

Jenem ideologischen Forschungsdrang lässt sich Christian Y. Schmidts „Erste-Mal-Forschung“ beiseite stellen, die ganz ohne Magnetresonanztomografie auskommt und doch viel mehr über den Menschen auszusagen vermag. So erfährt man in 18 nicht chronologisch geordneten Kapiteln, was Schmidt wann und wie zum ersten Mal getan hat. Man ist dabei, wenn Schmidt „zum ersten Mal dagegen (13 Jahre)“ und „zum ersten Mal Kulturpessimist (46 Jahre)“ ist. Aus den verschiedenen Kapiteln fügt sich eine „Autobiographie“ zusammen, die ein idealisiertes Bild von Schmidt ergibt.

„Das heißt, es geht darum, wann ich etwas zu ersten Mal im Leben tat oder dachte. Das zu erkunden, so sagt die Erste-Mal-Forschung, ist interessant, weil es uns viel über eine Person verrät.“ So erklärt Schmidt den Ansatz eines neuen „Forschungsgebiets“ im Vorwort. Bei einem Buch eines Ex-„Titanic“-Redakteurs sollte jedoch klar sein, dass die Forschungsergebnisse nicht den Kriterien wissenschaftlicher „Objektivität“ entsprechen müssen.

Schnell wird deutlich, dass in Schmidts bisherigem Leben so einiges los war. LSD, Martin Walser, Marburg, Mao, Joseph Beuys, DDR. Schmidts Begegnung mit Walser im Speisewagen endet mit der einleuchtenden Erkenntnis: „Ich weiß seitdem, dass ich Walsers Bücher nicht lesen muss. Das bisschen Angeberliteratur kann ich mir leicht selber schreiben.“

Willy Brandt hingegen interessiert sich mehr für Schmidts Hund „Fuchs“: „Sofort stürzten sich alle Fotografen auf das von Brandt geadelte Tier, und später wurde sein Bild im Stern veröffentlicht. ,Der Hund heißt Foxl‘, stand dazu im Fließtext. Das war für mich die erste Lektion des Lehrgangs: ,So funktioniert der deutsche Journalismus.‘‘‘

„Zum ersten Mal drüben (33 Jahre)“ stellt sich schnell Ernüchterung ein: Auf der Montags-Demo erkennt Schmidt: „Ich hatte noch nie in meinem Leben so viele hässliche Menschen auf einem Haufen gesehen. Lauter Deix-Fressen, dazu ganz grau und bleich. Ich hatte mir Revolutionäre immer als schöne Menschen vorgestellt, aber das hier war eine Freakversammlung.“

Fraglich hingegen ist die Einschätzung der „FAZ“, die „Zum ersten Mal tot“ „phantastisch lustig“ findet. Deutet das doch auf ein Verhältnis zur Satire hin, das auf der einen Seite nur den ehrlichen, authentischen Schriftsteller kennt und auf der anderen Seite den Kasper, der irgendwie „lustig“ ist und bei dem man gar nicht mehr zwischen dumpfen Witz und gelungener Satire zu unterscheiden vermag. Diesem Verständnis von „lustig“ nach gibt es dann auch keinen Unterschied zwischen der auf die Ideologie zielenden Polemik und dem dumpfen deutschen Kabarett von Mathias Richling oder Hagen Rether, deren Humor nicht einmal den ideologischen Horizont einer rot-rot-grünen Bundesregierung erreicht.

Wer sprachliche Exaktheit und gewandte Formulierungen schätzt, wird an Christian Y. Schmidts Buch „Zum ersten Mal tot“ seine Freude haben. Enttäuschend mag hingegen für den Schmidt-Adept sein, dass die meisten der „achtzehn Premieren“ – so der Untertitel – dies aus publizistischer Sicht gar nicht sind, da sie bereits in anderen Kontexten erschienen: nämlich als Kolumnen in der „Berliner Zeitung“ und in den Städtebüchern des Verbrecher Verlags.

Titelbild

Christian Y. Schmidt: Zum ersten Mal tot. Achtzehn Premieren.
edition TIAMAT, Berlin 2010.
174 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783893201471

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