Ein Plädoyer für Aufklärung

Tilman Jens über die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule und die Folgen des „Aufklärungsdrucks“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Thema behandelt: Missbrauch an der Odenwaldschule. Bei dem Schlagwort ‚Missbrauch‘ sind sich die meisten Menschen einig über die folgenden Reaktionen: Ablehnung, Einforderung schonungsloser Strafmaßnahmen und Aufklärung der Vorfälle. Aber das Thema ist auch: die Innenansicht der Odenwaldschule, der Missbrauch des Missbrauchs und die Verschiebung von Schuld, Schuldvermeidungsstrategien und Hilflosigkeit. Und das muss nun unbedingt ein ehemaliger Odenwaldschüler in einem Buch beschreiben?

Diese Frage kann man nach der Lektüre des Buches nur mit einem eindeutigen „Ja“ beantworten. Tilman Jens hat den Mut, sich zwischen diese Stühle zu setzen. Das macht dem Leser die Lektüre nicht nur erträglich, sondern macht diese sogar spannend – insofern man dies bei diesem problematischen Thema sagen kann. Und damit ist der Rezensent schon bei einem der vielen Widersprüche, bei der Unauflösbarkeit von Ereignissen, den Missverständnissen und dem Ringen um Worte. Auch um die Worte dieses Textes. An dieser Stelle sei ein Zitat herausgegriffen, das für eine Vielzahl von Anmerkungen steht, die bei der Lektüre des Buches die Seiten füllten.

Einer der Täter an der Odenwaldschule ist Wolfgang Held. In einer kleinen Beschreibung skizziert Jens die ganze Problematik der Aufklärung: „Alljährlich am 1. Mai, seinem [Helds, Anmerkung des Verfassers] Geburtstag, versammeln sich etwas zehn einstige Schüler zum ehrfürchtigen Toten-Gedenken. Klaus spricht von der Ehre der Heldfamilie, die es gerade in diesen Tagen hochzuhalten gelte. Sie sind ein verschworener Clan – bis heute. Als Opfer sieht sich da keiner. Das ist verstörend, das passt nicht ins Bild und gehört doch zur abgründig-facettenreichen Geschichte des Missbrauchs im Odenwald.“

So verstörend wie diese Aussagen sind auch die Erkenntnisse, die aus der Lektüre des Buches zurückbleiben. Und es fehlen die Worte, über dieses Buch zu schreiben. Diskussionen folgten, erneute Lektüre folgte. So wie Tilman Jens in dem Buch zu keinem Urteil gelangt und auch nicht gelangen möchte, so ergeht es dem Rezensenten und wohl auch dem Leser. Verdienstvoll ist dabei vor allem die Multiperspektivität, die Tilman Jens mit dieser Lektüre ermöglicht und die Erkenntnis, dass der einzig mögliche Schritt angesichts der Ereignisse die Forderung nach „Aufklärung“ ist – Aufklärung der Verbrechen, aber auch Aufklärung undurchsichtiger „Aufklärungsversuche“, die für niemanden hilfreich sind, am wenigsten für die Opfer – auch wenn die Forderung nach Vergeltung, Rache und Gerechtigkeit oft verständlich ist. Respekt Herr Jens, für diese Forderung nach Aufklärung!

Titelbild

Tilman Jens: Freiwild. Die Odenwaldschule - Ein Lehrstück von Opfern und Tätern.
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011.
192 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783579067445

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