Kettenreaktion der Ängste

In ihrem Romandebüt „Der Reaktor“ erzählt Elisabeth Filhol von einem Zeitarbeiter, der Putzarbeiten im Inneren von Atomkraftwerken verrichtet

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sommerzeit ist Revisionszeit. Die Atomkraftwerke werden heruntergefahren, damit alle Komponenten überprüft und gereinigt werden können. In Deutschland sollen es rund 24.000 Zeitarbeiter sein, die diese Jobs erledigen.

Im Februar 2011 berichteten die Medien von einem Vorfall im Schweizer AKW Leibstadt, der ein halbes Jahr zuvor stattgefunden habe. Ein Taucher hatte damals vom Grund eines Brennelement-Transferbeckens ein Rohrstück heraufgeholt, das radioaktiv verstrahlt war – womit der Taucher auf einen Schlag mehr als die zulässige Jahresdosis von 20 Milisievert abbekam. Von einem ganz ähnlichen Vorfall erzählt die Französin Elisabeth Filhol in ihrem Debütroman „Der Reaktor“, der bereits anfangs 2010 in Frankreich erschienen war.

Yann jobbt seit Jahren von einer Revision zur nächsten, stets auf Basis von kurzfristigen Zeitarbeitsverträgen. Irgendwann hat sich das so ergeben, nachdem er in der Automobilindustrie seine Stelle verlor. Die Idee stammte eigentlich von seinem Freund Loïc. Am Ende schien es beiden verlockender, dieser Leiharbeit nachzugehen als sich auf den Arbeitsämtern herumzuärgern.

Loïc ist allerdings nicht mehr im Geschäft, er nahm den Abschied – unter tragischen Umständen. Und nun hat es auch Yann im AKW Chinon erwischt. Mit seinen Schutzhandschuhen klaubte er ungelenk ein verstrahltes Corpus delicti – eine kleine Sicherheitsscheibe – vom Boden des Wasserkastens gleich unterhalb des Reaktorkernss auf. Das reichte für eine Jahresdosis mit dem Effekt: „Zwölf Monate ohne Bewährung wegen einer idiotischen Handbewegung“. Dieser persönliche „Störfall“ bedeutet, dass er ein Jahr lang pausieren muss. Doch er hat Glück, im Werk Blayais bei Bordeaux eröffnet sich ihm die Chance einer Weiterbildung zum Strahlenschutzbeauftragten. Die Kosten hat er allerdings selbst zu tragen, die Electricité de France spart sich diese seit einigen Jahren. „EDF streicht die Gewinne ein, du streichst die Dosis ein“, bringt es ein Kumpel von Yann auf die kurze Formel. So ist das in diesem Business, das höchste Ansprüche an die Sicherheit mit rigider Kostenoptimierung zu verbinden weiß.

Die deutsche Linke hat jüngst in diesem Zusammenhang von einem „Strahlen-Proletariat“ gesprochen. Bei Elisabeth Filhol heißen die zwischen Tollkühnheit und Besonnenheit schwankenden Zeitarbeiter „Neutronenfutter“, dem sich die Sicherheit der Atomkraftwerke verdankt. Wie es um ihre Psyche bestellt ist, schildert ihr Roman mit einer Mischung aus lakonischer Sachlichkeit und flirrender, frei schwebender Unrast. Während der erste Teil, Chinon betreffend, aus der Perspektive Yanns nüchtern Bericht erstattet, neigt das darauf folgende Blayais-Kapitel zum Sprunghaften – als ob das Malheur bei Yann selbst eine Kettenreaktion ausgelöst hätte, dass auch sein emotionales Dosimeter hektisch auszuschlagen beginnt.

Wer im inneren Bereich von AKWs arbeitet, muss einen kühlen Kopf bewahren. Insbesondere in heißen Situationen, wenn die Strahlendosis steigt, gilt es schnell und gezielt zu reagieren. Alle haben sie Respekt vor diesen Gefahren und vor der Angst, dass die Ruhe sie im fraglichen Moment verlassen könnte.

Elisabeth Filhol gelingt es eindrücklich, diese psychische Sensibilität einzufangen. Beispielsweise in der Beschreibung des ersten Einsatzes eines neuen Arbeiters, dessen Körper mit aller Macht sich sträubt, in die kontaminierte Grube hinunter zu steigen. „Er bleibt stehen, wie gelähmt, er grübelt nicht einmal nach, ringt nicht mit sich. Vor ihm das Becken. Das klaffende Loch eines Betonsarkophags, leer.“ Damit wiegt die Autorin gewisse Schwächen im erzählerischen Aufbau ihres Buches auf.

Voneinander abhängig teilen die Arbeitskollegen ein flüchtiges Vertrauen miteinander. Je mehr Yann unter erhöhter Spannung nachdenkt, umso ungreifbarer erscheint ihm freilich dieses Wanderleben. Er fühlt sich gewissermaßen von einer Faszination kontaminiert, der unmerklich Angst und Ziellosigkeit zugrunde liegt.

Der Zuverlässigkeit dieses „Strahlen-Proletariats“ ist es zu verdanken, dass keine groben Störfälle passieren. Keine? Mit instruktiver Anschaulichkeit erinnert Filhols Roman auch an den 26. April 1986, als in einem russischen Graphitreaktor südlich von Kiew Experimente unternommen wurden, die das atomare System außer Kontrolle geraten ließen. Ein barometrisches Hoch über Nordeuropa trug damals die Winde von Osten nach Westen, wo die Menschen die Strahlung der frühlingshaften Sonne genossen.

Mit dieser Reminiszenz weitet Elisabeth Filhol den Gegenstand ihrer Erzählung ins Weite, Allgemeine. Die Angst vor den AKWs – immerhin einer Apparatur, deren Ausstrahlung sich nicht stoppen lässt – grundiert unser Leben, auch wenn sie gerne hinter dem Schutzschild der technologischen Zuversicht verborgen bleibt.

„Der Reaktor“ ist im Original vor Fukushima erschienen, die jüngsten Ereignisse verleihen dem Buch aber noch einmal eine besondere Brisanz. Dabei geht es Elisabeth Filhol nicht darum, Angst zu schüren. Ihr Roman gibt sich trotz der stilistischen Unrast diesbezüglich zurückhaltend. Was wir erfahren, ist nicht der Super-GAU, wir lesen vielmehr in den Gedanken eines Menschen, der sich mit dieser Apparatur arrangiert hat, allerdings in problematischen und – wenn Medienberichten zu trauen ist – keineswegs fiktiven Arbeitsverhältnissen. Gerade dies müsste uns zu denken geben.

Titelbild

Elisabeth Filhol: Der Reaktor. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Cornelia Wend.
Edition Nautilus, Hamburg 2011.
122 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783894017408

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