Sagenhaft skurriles Island

Der Erzählband „Die glücklichste Nation unter der Sonne“ von Thórarinn Eldjárn vereint dreizehn meisterhaft geschriebene und kurzweilige Prosatexte aus mehr als drei Jahrzehnten

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich ist dieses Land, das sein Dasein an der Peripherie unserer europäischen Landkarten und zumeist auch unseres Bewusstseins fristet, ein magisches Fleckchen Erde. In ihrer Fülle schier überwältigend sind schon die Darbietungen der Mutter Natur: die abenteuerlichen Lavaformationen, Wasserfälle, Gletscher und Geysire, die Mitternachtssonne im Sommer, das Nordlicht im Winter. In den bunten Wellblechhäusern wohnen Menschen, die so eigensinnig wirken, wie die Landschaft, in der sie – immerhin weitestgehend im Einklang mit ihr – leben. Sie sind künstlerisch äußerst interessiert, und seit jeher auch erzählwütig. Landnahme, Besiedlung und Fahrten über den Atlantik boten für Jahrhunderte Stoff und liefern bis heute den Beweis für die Größe einer zahlenmäßig kleinen Nation. Das Motto der Frankfurter Buchmesse 2011 – „Sagenhaftes Island“ – bringt es einmal mehr auf den Punkt.

Gerade dieser Stereotype und Klischees bedient sich Thórarinn Eldjárn, einer der beliebtesten Gegenwartsautoren des Landes, augenzwinkernd in seinen Kurzgeschichten. Der Erzählband „Die glücklichste Nation unter der Sonne“ enthält dreizehn von ihnen, unter anderem auch eine bisher unveröffentlichte. Mit viel Ironie und Witz nimmt Eldjárn Bezug auf Phänomene der nationalen Geschichte und Kultur, um die Tücken im öffentlichen Umgang mit den Traditionen aufzudecken. Denn Island ist, wie man an den gesellschaftlichen Auswüchsen einer fragwürdigen Modernität unschwer erkennen kann, längst im 21. Jahrhundert angekommen.

So karikiert „Die Zauberformel“ die Strategie der Isländer, die eigene Größe und Bedeutung „in einer großen und unsicheren Welt unter lauter Riesen, die nicht immer gut genug achtgeben, wo sie hintreten“, im Gedächtnis eben dieser Riesen zu verankern. „Gemessen an der Bevölkerungszahl“ seien nämlich ein Literaturnobelpreisträger, sechs Großmeister im Schach oder sogar ein Opernsänger an der Mailänder Scala großartige Leistungen. Solche Erfolge werden in Island zur Quelle persönlichen Glücks, die Zauberformel, mag sie auch ein abgedroschener Spruch sein, Garant seiner Beständigkeit.

Besonders nachdenklich wird der Leser dort, wo die Spannung der Texte aus der Konfrontation der Vergangenheit mit dem modernen Alltag erwächst. In „Die Saga von den Siedlern in der Knüppelbucht“ landet gegen Ende des 20. Jahrhunderts in der menschenleeren Bucht von Keflavík ein klobiges Wikingerschiff mit einer Siedlerfamilie samt Sklaven. Durch Zufall wird man Zeuge der Landnahme und die Behörden erklären die nördlichen Fjorde zum Sperrgebiet. Mit dem Erkenntnisinteresse eines Wissenschaftlers verfolgt daraufhin ganz Island die Direktübertragung aus der Bucht, um über „die Ursprünge des isländischen Volkstums“ Näheres zu erfahren.

Doch der Kitt der Zivilisation ist bröckelig. Nicht nur dieses Projekt nimmt ein jähes Ende, als einige der kultivierten Isländer die Brutalität des wilden, versoffenen Landnehmers nicht mehr hinnehmen wollen und auf Gewalt mit Gewalt antworten, sondern auch der Bau eines traditionellen isländischen Schrofenhofes zum Zwecke von Dreharbeiten in der Geschichte „Die Hohnstange“. Das „prickelnde […], schäumende […] Wohlgefühl“ nach der getanen Arbeit, das „Körper und Seele bis in die hintersten Winkel“ wie Champagner durchrieselt, verfliegt, als der Vater des Regisseurs, ein alter Greis, die Authentizität des fertigen Gebäudes in Frage stellt. Bald torkeln die in ihrer Ehre verletzten Bauarbeiter besoffen auf dem Hof herum, vergreifen sich am Haus, errichten dem Alten schließlich eine traditionelle Hohnstange, um die sie einen improvisierten Kriegstanz vollführen, der aus alten isländischen Sagas und im Fernsehen gesehenen „Kulttänzen von irgendwelchen Wilden“ seine schauerliche Choreografie entlehnt.

Auch sonst sind Eldjárns Geschichten voller skurriler Ideen und Gestalten. Als eine Künstlerin ein Schild mit der Aufschrift „Hier werden keine Taschen repariert“, das sie ursprünglich für ihre Kuriositätensammlung gekauft hat, an ihrer Wohnungstür aufhängt, löst sie damit eine Massenhysterie aus. Die Stationen der darauffolgenden (Staats-)Krise werden in 30 Kurznotizen („Die Taschenkrise“), die sich des erzählerischen Spannungspotentials der trockenen Fakten bedienen, festgehalten. In anderen Geschichten stiften herrenlose Fahrräder Unruhe („Der Besitzer“), wird ein kleines Kind von einem Adler fortgetragen („Höhenflug“) oder sehnt sich ein Bankbevollmächtigter nach einem „lauten, schallenden und einmaligen“ Lachen und engagiert einen Imitator, um bei ihm Unterricht zu nehmen („Lachen erwünscht“).

Nur die erste Geschichte – „Der Klang der Wörter“ – über eine Stadt, in der die Menschen solange in Frieden und Eintracht zusammen leben, bis kein Mensch dieselbe Sprache spricht, fällt auf den ersten Blick aus dem Rahmen. Erst nach der Lektüre des 155 Seiten dicken Erzählbandes, die einer Gewöhnungsphase an Eldjárns ungewöhnliche Betrachtungsweise der Welt gleichkommt, erscheint der treffsichere, stilistisch gewandte Text in einem neuen Licht.

Man versteht plötzlich, nachdem – direkt oder indirekt – so viel in einer weitestgehend individualisierten Welt von Nationalstolz und Tradition die Rede war, was „die Sprache des Ichs“, die vor der Muttersprache Vorrang hat, bedeutet, und wie gegenseitige „Verständnislosigkeit“ dazu führen kann, Verständnis und Einvernehmen zu intensivieren. In diesem Sinne sind die dezidiert aus der Außenperspektive geschriebenen und doch höchst isländischen Geschichten von Thórarinn Eldjárn die richtigen Wegweiser für einen literarischen Annäherungsversuch an das Land am Rande Europas.

Titelbild

Thórarinn Eldjárn: Die glücklichste Nation unter der Sonne. Geschichten aus Island.
Übersetzt aus dem Isländischen von Coletta Bürling.
Conte-Verlag, Saarbrücken 2011.
156 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783941657335

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