“Bloßlegung“ im Kampf gegen die Vergänglichkeit

Zum Tod des Malers Lucian Freud

Von Ingrid Lange-SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingrid Lange-Schmidt

Lucian Freud ist in England fast ein Mythos. Als Enkel des Psychoanalytikers Sigmund Freud schon mit einem großen Namen geboren, wurde auch er selbst inzwischen „der Freud“: Der große „Intensivierer“, der das „Portrait“ neu definiert und der figurativen Malerei einen festen Platz durch die nachfolgenden Kunstrichtungen hindurch verschafft hat. Fast sein gesamtes Werk ist der Darstellung der menschlichen Figur gewidmet, die in all ihren Seiten und Haltungen mit außerordentlichem Verismus und ohne jegliche Beschönigung gezeigt wird.

Lucian Freud verstarb am 20. Juli 2011 in London. Aufgrund seiner außergewöhnlichen Beobachtungsgabe und seiner enormen Ausdruckskraft gilt er als einer der markantesten Maler des 20. Jahrhunderts – und als einer der teuersten. Seit Jahren erreichen seine Gemälde auf Auktionen zweistellige Millionenbeträge, und der Verkauf des Portraits seines auf einem Sofa lagernden überaus üppigen Modells Sue Tilley „Benefits Supervisor Sleeping“ wurde 2008 bei Christies für umgerechnet fast 22 Millionen Euro versteigert: Das ist der höchste Preis, der jemals bei einer Auktion für ein Bild eines noch lebenden Künstlers erzielt wurde.

Lucian Freud, geboren am 8. Dezember 1922, wuchs gemeinsam mit seinen beiden Brüdern bei seinen Eltern, der Philologin Lucie Freud, geb. Brasch, und dem Architekten Ernst Freud in großbürgerlich-jüdischem Milieu in Berlin auf. Kurz nach Hitlers Machtübernahme emigrierte die Familie nach London – ein großer Einschnitt auch im Leben des zehnjährigen Lucian Freud. Abgeschnitten von Freunden und Verwandten, ohne Englischkenntnisse und aus familiärem Zusammenhalt nun in ein Internat gesteckt, zog sich er sich zurück und verweigerte den Unterricht, später rebellierte er als Jugendlicher so massiv, dass er von der Schule gewiesen wurde. Durch die Entdeckung des künstlerischen Ausdrucks, durch Zeichnen und Malen, fand Freud dann eine Verarbeitungsform für seine Emigrationserlebnisse und für einen Selbstausdruck, der von anderen verstanden und anerkannt wurde. Er warf sich dann so versessen auf die künstlerische Arbeit, dass er schnell zum „Wunderkind“ avancierte. Auf Londons Straßen sah man sich nach ihm um – und als „Ingres des Existentialismus“ konnte er schon früh seine Bilder an reiche Sammler und an die Tate Gallery verkaufen.

Für die künstlerische Entwicklung Lucian Freuds war sicherlich die persönliche Begegnung mit Picasso und Giacometti bedeutsam, deren Werke er auf einer Frankreichreise schon als Student besichtigen durfte. Mehr zählte dann aber die 1944 beginnende langjährige Freundschaft und enge Zusammenarbeit mit dem dreizehn Jahre älteren Francis Bacon, der damals schon von einigen Kollegen als bester Maler Englands angesehen wurde.

Bacon und Freud gehörten dem lockeren Kreis einiger vorrangig jüdischer Maler wie R.B. Kitaj, Frank Auerbach, Leon Kossoff an, die 1976 für sich die Bezeichnung „School of London“ schufen. Diese Maler wollten – in bewusster Opposition zur vorherrschenden abstrakten Malerei – die figurative Malerei erneuern. Dabei verarbeiteten sie thematisch häufig ihre existentiellen Erfahrungen und die Stimmung im Exil. So kann Freuds ausdrückliches Ziel, „wiedererkennbare Individuen“ zu gestalten sowie seine Beschäftigung mit dem Menschen als „animalische, auf seine fleischliche Hülle reduzierte Existenz“ auch als künstlerische Auseinandersetzung mit den frühen Erlebnissen verstanden werden.

In seiner ersten Lebenshälfte wurde Freud durch einen unkonventionellen Lebenswandel mit wechselnden Partnerschaften, durch seine Zugehörigkeit zur prominenten Künstlerszene, dem „Bohemian Bloomsbury Set“, durch ausgedehntes Nachtleben und leidenschaftliche Pferdewetten nicht nur als Künstler zu einer öffentlichen Figur. Später galt er eher als scheuer Exzentriker, der sehr zurückgezogen nur noch für seine Kunst lebte und Fotografen selbst bei offizieller Ehrung durch die Queen den Rücken zudrehte. Man kennt ihn daher auch besser von seinen Selbstportraits als von den sehr raren Fotos.

Obwohl in England schon seit den fünfziger Jahren geachtet, ereichte Freud den internationalen Durchbruch erst in den siebziger Jahren, als er mit seinen irritierenden großformatigen „Naked Portraits“ heftigste Kontroversen auslöste, die zwischen Ekel und Ehrfurcht schwankten. Von seinen Kritikern sowohl als „Altmeister des Hautausschlages“ als auch als „der größte lebende realistische Maler“ benannt, erregte Freud Aufsehen damit, dass er mit mehrfach aufgeschichteter, fast fleischlich gewordener Farbe den Körper seiner Modelle gnadenlos ehrlich mit allen körperlichen Mängel und Deformationen, mit allen Falten und Fettpolstern malte. Er stellte bewusst keine „Nudes“ (Nackte) im Sinne klassischer Aktmalerei dar, sondern seine „Naked Portraits“ sollten die Menschen in ihren meist sehr intimen Posen „unverhüllt“, „bloßgelegt“ zeigen, sie in ihrer natürlichen ungeschützten Körperlichkeit und dabei gleichzeitig in ihrer individuellen Wesenseigenschaft darstellen. Er wollte ihre inneren Zustände sichtbar machen. Und mehr noch: “Ich wünsche mir, dass Portraits sozusagen die Leute selbst sind, nicht nur deren äußere Erscheinung“. Auch mit diesem Anspruch, den Menschen nicht nur abzubilden, ihn nicht zu idealisieren, sondern die Bilder geradezu zum Gleichnis zu machen, rang Freud deutlich mit der Vergänglichkeit.

Mit den sexuellen Inhalten seiner „Naked Portraits“ provozierte Freud häufig die Betrachter: Er stellte hetero- und homosexuelle Freunde, Familienangehörige und selbst einzelne Töchter lebensgroß in intimen Situationen dar. Bei manchen Gemälden rückte er dabei das Geschlecht der Portraitierten fast in den Mittelpunkt der Gemälde. Durch die häufig gekippten Bildachsen scheinen die so Dargestellten oft direkt auf den Betrachter zuzurutschen.

Durch sein malerisches Spiel mit Nähe und Distanz und seine eigenartige Perspektivwahl zwang Freud die Betrachter geradezu, die Rolle eines Voyeurs einzunehmen. Es wird angenommen, dass die außergewöhnlich eindringliche Wirkung seiner Bilder darauf beruht, dass der Betrachter durch die Besonderheit des Inhalts, durch die ungewöhnliche Perspektive sowie den intensiven Farbeindruck, der mit spezieller Farbe und dem eigenwilligen Farbauftrag erreicht wurde, enorm gefordert ist, dem Bild mit sehr eigenen Emotionen zu begegnen. Wie heftig und zum Teil widersprüchlich dies geschieht, lässt sich beim Rundgang durch entsprechende Ausstellungen gut beobachten. Diese Bilder wird niemand so leicht los.

Die künstlerische „Bloßlegung“ von Freuds Modellen in ihrer oft melancholischen Gestimmtheit sowie deren Darstellung als voneinander abgegrenzte Personen, die selbst in der Intimität auf sich als Vereinzelte zurückgeworfen sind, lässt neben der sexuellen Ebene noch eine andere Darstellungsebene erscheinen . Sie zeigt die die von Freud lebenslang empfundene „immer präsente Bedrohung der Lebensfülle“ an. Vielleicht ist es auch dieses Oszillieren, das die Faszination seiner Gemälde ausmacht.

Nach vielen bedeutenden Preisen und Auszeichnungen erlangte Lucian Freud 1993 mit dem „Order of Merit“ die höchste Ehrung, die in Großbritannien außerhalb des Ritterschlages vergeben wird. Schon seit Jahren sind seine Werke in allen großen Museen der Welt zu finden. Freud war bis zu seinem Tod ein unermüdlich schaffender Künstler, der das Malen als Berufung verstanden hat, mit der er seinem Leben einen Sinn gab. Thematisch stellte Freud seine Malerei dar als „ausschließlich biographisch. Sie erzählt von mir und meiner Umgebung. Sie ist der Versuch eines Berichts. Ich arbeite mit Leuten, die mich interessieren und die ich mag, in Räumen, in denen ich lebe und die ich kenne“. Für diesen „Bericht“ hat Freud gelebt, seine Technik dafür lebenslang verfeinert. Nun ist er mit 88 Jahren nach kurzer Krankheit in seinem Haus in London gestorben. In seinen Gemälden aber hat er sich und seine Freunde unvergänglich gemacht.

Anmerkung der Redaktion: Die Verfasserin dieses Beitrages ist Autorin des Buches: Lucian Freud. Viel mehr als nur „der Enkel‘‘ – Aspekte einer künstlerischen Entwicklung (LIT Verlag, Münster 2010).