Den Anschluss verpasst

Horst Junginger will das „Missing link“ zwischen christlichem und rassistischem Antisemitismus gefunden haben

Von Benno KirschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benno Kirsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Ideologie des Nationalsozialismus war ein konfuses Gemisch aus schrankenloser Fortschrittsbegeisterung und Blut-und-Boden-Mystik. Einerseits bediente man sich auf allen Gebieten modernster Methoden und Erkenntnisse, andererseits huldigte man durch und durch irrationalen Konstrukten, vor allem dem Rassismus. Hier, im Zentrum des nationalsozialistischen Denkens, kam es zu einem eigenartigen Zusammentreffen beider Stoßrichtungen: Der Antisemitismus der Nazis wollte sich einerseits vom vormodernen – das heißt vom christlichen – Antisemitismus absetzen und ihn rationalisieren. Doch andererseits blieb er dennoch stets auf das religiöse Merkmal der Taufe verwiesen, weil für das Rassekonzept einfach keine weiteren Kriterien zur Verfügung standen. Diesen Widerspruch macht der Autor des vorliegenden Buches zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung.

Auf seinen interessanten Befund setzt Junginger eine überraschende These auf. Er behauptet, dass sich eine direkte Linie vom mittelalterlichen christlichen Antijudaismus zum modernen Rassenantisemitismus ziehen lasse. Was den modernen Antisemitismus angehe, so bestehe zum vormodernen „ein enger symbiotischer Zusammenhang“, und „statt eines antagonistischen Verhältnisses [sei] eines der Beeinflussung und Durchdringung anzunehmen“. So wie die Religion sich durch die Zeitläufte immer wieder angepasst und behauptet habe, so würde sich auch das Ressentiment immer wieder anpassen. „Nachdem sich die Theorie vom Absterben der Religion in der Moderne als falsch herausstellte, steht auch nicht zu erwarten, dass sich religiöse Vorurteile unter dem Einfluss der Wissenschaft und des Säkularismus einfach in Luft auflösen. Vielmehr eröffnen vertraute und allgemein verbreitete religiöse Klischees der Kirche in einer Säkularisierungstendenzen ausgesetzten Gesellschaft die Möglichkeit, sich mit ihrer Hilfe zu behaupten und dem drohenden Einflussverlust entgegenzuwirken. Der Antijudaismus kann unter solchen Umständen selbst zu einem mächtigen Faktor der religiösen Erneuerung werden. Er verfügt einerseits über ein breites und tief eingewachsenes Wurzelwerk und wird andererseits auch von solchen Menschen akzeptiert, die der Kirche und einen mehr oder weniger großen Teil ihrer Dogmatik den Rücken gekehrt haben.“

Junginger wählt für seine Untersuchung – behauptet er jedenfalls – einen religionswissenschaftlichen Ansatz, dem er bescheinigt: „Es ist das große Verdienst der Religionswissenschaft, die enge Verwobenheit des Religiösen mit dem Nichtreligiösen erkannt und theoretisch verarbeitet zu haben.“ Weiters ist von „Methoden der Religionswissenschaft“ die Rede und von „methodischen Grundannahmen der Religionswissenschaft“, von der eine sei, sich „vom religiösen Gehalt ihrer Gegenstände“ zu distanzieren. Worin der religionswissenschaftliche Ansatz genau besteht und warum nicht ein geschichtswissenschaftlicher Ansatz vielleicht angemessener gewesen wäre, den Nationalsozialismus zu untersuchen, wird gleichwohl nicht wirklich deutlich. Auch im weiteren Verlauf wird diese Frage nicht geklärt, auch wenn er immer wieder darauf zurückkommt. Das ist unbefriedigend, weil man ja erst vom Autor auf diese Spur gebracht wird, die dann aber nicht weiterverfolgt wird.

Junginger gibt in seinem Opus, das mit 480 Seiten deutlich zu umfangreich geraten ist, einen Überblick über die antisemitische Geschichte der Tübinger Universität vom Mittelalter bis zum Zweiten Weltkrieg – allerdings unter anderem, indem er die nationalsozialistisch geschwängerte Darstellung eines Doktoranden der 1930er-Jahre zu Rate zieht, was ein wenig irritierend ist. Weiterhin schildert er, wie die fest in protestantischer Hand befindliche Alma Mater es bis 1933 erfolgreich verhindern konnte, dass Juden Lehrstühle erhielten. In seinen langatmigen methodischen Reflexionen bringt er schließlich noch einen nicht uninteressanten Abriss über ein spätmittelalterliches Konzept der Blutreinheit in Spanien, dessen Stellung im Gesamt des Buches sich jedoch nicht sofort erschließt.

In der Hauptsache geht es in Jungingers Buch vorrangig um Karl Georg Kuhn, der 1936 von der Universität Tübingen einen „Lehrauftrag für das Studium des Judentums mit einem unzweideutig antisemitischen Charakter“ erhielt und das Fachgebiet ab 1942 auch als Professor vertrat. Kuhn hatte seine tiefen Kenntnisse des Judentums von Beginn an in den Dienst der NS-Propaganda gestellt. Dabei verfolgte er den Anspruch, nicht einfach nur Ressentiments zu bedienen, sondern objektivierbares Wissen zu liefern. „Kuhn verstand sich zwar als Wissenschaftler und verfiel nur gelegentlich in einen Tonfall der offenen politischen Agitation. Dennoch lief seine Argumentation auf einen für das deutsche Volk unumgänglichen Kampf gegen das Judentum hinaus, der im innersten Wesen des Talmudjudentums begründet lag.“ Kuhns Absicht war es, „dem Antisemitismus des Nationalsozialismus einen besseren Dienst zu erweisen [als die vulgären Antisemiten der 1930er-Jahre – B.K.] und über ein seriöses, akademisch geschultes Quellenstudium einer Lösung der ‚Judenfrage‘ vorzuarbeiten.“ Diese Versuche führten ihn beispielsweise auf Tagungen, an denen NS-Chefpropagandist Alfred Rosenberg und andere SS-Leute teilnahmen, und in die Ghettos in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten. Auch zur Beteiligung am Raub von Bibliotheken exilierter oder ermordeter jüdischer Wissenschaftler verstieg er sich.

Kuhns akademischer Lehrer war Gerhard Kittel, der seit 1926 Professor für evangelische Theologie an der Universität Tübingen war und der sich durch die Herausgabe des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament bleibende Meriten erwarb. Allerdings beschreibt ihn Junginger vor allem als einen Vordenker der Vernichtung, der seine theologischen Versuche, das Verhältnis zwischen Christentum und Judentum zu klären, auch der Hitlerdiktatur andiente und sich dadurch tief in ihre Verbrechen verstrickte. So verfasste er beispielsweise ein Gutachten über Herschel Grynszpan, der 1938 den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath erschoss (eine Tat, die den Nazis den Anlass für das Novemberpogrom lieferte). In diesem Gutachten knüpfte Kittel an seine zuvor entwickelten Gedanken zum Judentum an und überführte sie in die NS-Ideologie. „Ohne dass er einen konkreten Beleg dafür erbringen musste, dass Herschel Grynszpan ein vom internationalen Weltjudentum gedungener Mörder war, konnte er über eine indirekte Beweisführung darlegen, wie dieser durch die normativen Schriften der Juden zu seiner Tat angestiftet wurde. Dazu brauchte Grynszpan kein Mitglied der jüdischen Religion zu sein.“

Jungingers Befund ist eindeutig: Kittel, Kuhn und andere protestantische Theologen fanden im Nationalsozialismus eine Ideologie und Herrschaftsform, die ihren Wertvorstellungen und ihrem theologischen Schaffen auf politischer Ebene entsprachen. Die dem Christentum innewohnende Judenfeindlichkeit versuchten sie durch ihre Arbeit in den politischen und rassistischen Antisemitismus des Nationalsozialismus zu überführen. Wie Kittel und Kuhn die Grenze zwischen Theologie und Herrschaftspraxis zu überschreiten suchten, stellt Junginger gut dar. Auch seine Rekonstruktion des Versuchs in der Weimarer Republik, einen Lehrstuhl zur Erforschung des Judentums einzurichten, ist – wenn man davon absieht, dass hier wie in den anderen Kapiteln und überhaupt im gesamten Buch ein roter Faden nicht immer zu erkennen ist und die Darstellung recht langatmig ist – gelungen.

Die These indes, auf die das Buch hingearbeitet zu sein scheint, ist haarsträubend. Junginger schreibt: „Die im Medium der Rasse erfolgte wissenschaftliche Begründung für das ‚Judenproblem‘ war nicht nur imstande, religiöse und nichtreligiöse Aspekte der Judenfeindschaft zu einer explosiven ideologischen Mischung zusammenzuballen. Sie bildete auch das Missing link zwischen ‚gewöhnlichen‘ Formen der Judenfeindschaft und dem genozidalen Antisemitismus der Schoah. […] Selbst wenn man das Kausalgefüge zwischen antisemitischer Theorie und Praxis etwas weiter fasst oder nur als mittelbar gegeben ansieht, kommt man nicht um die Feststellung umhin, dass die Vertreter beider Seiten am gleichen Projekt einer Befreiung der Welt vom jüdischen Unglück arbeiteten.“

Wenn Junginger behauptet, er habe das „Missing link“ gefunden, ist das wenig überzeugend. Auch liefert er keine Beweise, sondern bloß eine ressentimentgetränkte Assoziationskette: Zu den Besuchern im Hause Kittel gehörte auch der Pfarrerssohn Gustav Adolf Scheel, der im NS-Staat Karriere machte und Studenten für den SD rekrutierte, unter ihnen auch Martin Sandberger. Für Junginger ist dieser lose Zusammenhang Beweis genug: „Einige Mitglieder des NS-Studentenbundes beteiligten sich nach dem Überfall auf die Sowjetunion an verantwortlicher Stelle daran, den Holocaust in die Tat umzusetzen. Zweifellos wurden sie in ihrer antisemitischen Einstellung und auch in der Überzeugung, dass es bei dem Zweiten Weltkrieg um die schlichte Alternative ‚sie oder wir‘ ging, durch die Argumente eines wissenschaftlich so renommierten Universitätsprofessors wie Kittel bestärkt. […] einige unter ihnen [die Mörder in Uniform, die zuvor an der Uni Tübingen studiert hatten – B.K.] hatten mit hoher Wahrscheinlichkeit am 1. Juli 1933 zu den Zuhörern des [berüchtigten, antisemitischen – B.K.] Kittel’schen Vortrags über die ‚Judenfrage‘ gehört.“

Nachdem Junginger also dem Leser unter Zuhilfenahme vieler durchaus interessanter biografischer Skizzen die Sinne vernebelt hat, reichen Suggestivfragen und schwammige Formulierungen aus, um sein Argument abzuschließen: „Kann es im Kontext dieser Studie einen deutlicheren Beweis für den geschlossenen Stromkreis von theoretischer und praktischer Energie geben, als die Ermordung Lazar Gulkowitschs durch das unter der Führung Martin Sandbergers stehende Sonderkommando 1a der Einsatzgruppe A? […] Auch das Leben von Charles Horowitz und Sophie Ettlinger zeigt in bedrückender Weise eine mehr als nur mittelbare Beziehung zwischen dem Antisemitismus des Wortes und der Tat. Der Nexus zwischen einer Tübinger Lehrkanzel, von der das Ausscheiden der Juden aus dem Volkskörper verkündet wurde, und dem Anus mundi in den rückwärtigen Frontgebieten, wo dieses in den von den Juden selbst ausgehobenen Gruben vollzogen wurde, lässt sich schwerlich bestreiten“.

Genau diese Behauptung – die Existenz „eine[s] geschlossenen Stromkreis[es] von theoretischer und praktischer Energie“, der „sich schwerlich bestreiten“ lässt – darf bestritten werden. Das „Kausalgefüge zwischen antisemitischer Theorie und Praxis“ und den genannten „Nexus“, den Junginger bemüht, gibt es nicht, und auch das „Missing link“ hat er garantiert nicht gefunden. Das ist eine Denkweise, die einem jeden Tag in Zeitung und Fernsehen begegnet, wann immer eine auf den ersten Blick unerklärliche Gewalttat wie ein Amoklauf den Medienkonsumenten kopfschüttelnd zurücklässt. Der Reflex ist immer derselbe: Um nach dem Schock wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen (bei Junginger heißt es: „Ihr Tun wäre ohne Sinn gewesen, hätte es sich nicht auf die Ideologie des Antisemitismus beziehen können“), fordert man mehr Prävention, ein Verbot von „Killer-Spielen“, mehr Sozialarbeiter, eine Zensur des Internets und so weiter. Wenn das alles, so die Hoffnung, umgesetzt wird, dann, ja dann, wird es derart schreckliche Taten nicht mehr geben. Politikern, die um ihre Wiederwahl besorgt sind, und Sozialarbeitern, die um die Finanzierung ihres nächsten „Projekts“ fürchten, sei diese Argumentation verziehen. Einem, der mit wissenschaftlichem Anspruch auftritt, jedoch nicht. Wie schrieb der Journalist und gelernte Psychotherapeut Eugen Sorg? „Man überschätzt im Westen Ideologien und Theorien und unterschätzt die Neigung zu irrationalen, zerstörerischen Handlungen. Die meisten Menschen berauschen sich nicht an Ideen, sondern sie benutzen Ideen, um ihren Rausch zu legitimieren.“

Jungingers These ist – über die ihr zugrunde liegende unhaltbare Annahme hinaus – zudem erkennbar kirchenkämpferisch motiviert und schon deshalb wertlos. Man kennt sie von Daniel Goldhagen, dessen „Hitlers willige Vollstrecker“ und „Die katholische Kirche und der Holocaust“ Junginger zwar im Literaturverzeichnis vermerkt, im Hauptteil allerdings nicht erwähnt (zumindest hat sie der Rezensent nicht gefunden). Goldhagen entwickelte sich seinerzeit zwar zu einem Medienstar, aber von Fachhistorikern wurde er nicht ernst genommen. Dass Junginger seine Thesen nun wieder aufwärmt, deutet darauf hin, dass er den Anschluss an die wissenschaftliche Diskussion nicht gefunden hat. So wies Thomas Brechenmacher 2005 beispielsweise in „Der Vatikan und die Juden“ darauf hin, dass das Verhältnis der Päpste zu den Juden immer zumindest ambivalent war. Sicherlich erhoben auch sie gegen die Juden den Vorwurf der Gottesmörderschaft, gängelten sie und legten ihnen Bürden auf. Doch die religiösen Wurzeln des Christentums – das Judentum – kappten sie niemals. Anders als Kuhn und Kittel wussten sie, dass es ohne die Juden kein Christentum geben konnte, dass beide zusammengehören. Aus dem Kirchenstaat wurden die Juden deshalb auch nie vertrieben wie aus anderen, weltlichen Fürstentümern Italiens und Europas.

Desgleichen betont auch Steven T. Katz, der in seinem Standardwerk zu Völkermord und Massenvernichtung in der Geschichte (The Holocaust in Historical Context, Vol. 1, 1994) immer wieder den fundamentalen Unterschied zwischen christlichem und nationalsozialistischem Antisemitismus: „There can be no doubt that the former [der christliche Antijudaismus] was the precondition of the latter [der Antisemitismus der Nazis], that had Christianity not irrevocably transformed ‚the Jews‘ into mythical beings, Nazism would not have chosen to do the same. To this degree Christianity cannot avoid its heavy responsibility for marking out ‚the Jews‘ – flesh and blood Jews – for ostracization, alienation, marginalization, torment, and, on many occasions, death. This ist he real legacy of the Adversos Judaeos tradition. However, the imperious myth into which Christianity placed ‚the Jews‘ – for all the centuries of actualized mistreatment and brutality – was not genocidal. In contrast, the sovereign myth into which Nazism placed ‚the Jews‘ was.“

Kurzum: Christlicher und moderner rassistischer Antisemitismus sind nicht dasselbe; der rassistische kann sich mit dem christlichen schlechterdings nicht im Gleichklang wissen, weil dem der Vernichtungswille fehlt. Die Moderne zeichnet sich eben doch – anders als Junginger glauben machen will – durch bestimmte Eigenschaften aus, die sie von der Vormoderne unterscheidet. Und der Nationalsozialismus mit seinem Rassismus und genozidalen Antisemitismus ist ein modernes Phänomen. Diese Differenz bleibt bei Junginger unberücksichtigt – vermutlich aus gutem Grund: Der religionswissenschaftlich apostrophierte Kirchenkampf ist ihm eben wichtiger. Das ist schade, denn der Versuch der Nazis, die Wissenschaft – und sei es nur die protestantische Theologie oder Religionswissenschaft – für ihre Weltanschauung zu vereinnahmen, ist ein interessantes Thema, das eine weniger voreingenommene Behandlung verdient hätte.

Titelbild

Horst Junginger: Die Verwissenschaftlichung der 'Judenfrage' im Nationalsozialismus.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2011.
480 Seiten, 59,90 EUR.
ISBN-13: 9783534239771

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