Schon verrückt, was so ein Buch heraufbeschwört!

Marie-Sabine Rogers Roman „Das Labyrinth der Wörter“ ist ein Plädoyer für die Kraft der Sprache

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Labyrinth der Wörter“ ist die anrührende Geschichte des stumpfsinnigen Mittvierzigers Germain Chazes, der von Kindesbeinen an wegen seines schwergängigen Verstandes gehänselt wurde. Germains Mutter nannte ihn „Idiot“, „Esel“ oder „Trottel“ und, weil er sich scheinbar weniger Gedanken über finanzielle und andere Probleme machte, „glücklicher Schwachkopf“. „Aber das stimmte nicht, ich war nicht glücklich. Ein Schwachkopf, meinetwegen“, sagt Germaine. In einem Park lernt Germain eines Tages die „kleine Alte“ Margueritte kennen – sie nimmt ihn ernst, redet mit ihm. Über Wochen trifft sich das ungleiche Paar, die belesene und promovierte Seniorin und der ungehobelte Ungebildete. Margueritte beginnt ihm vorzulesen – ausgerechnet Albert Camus’ „Die Pest“, nicht gerade die leichteste Kost, doch ihr Zuhörer folgt ihr gefesselt und entwickelt einen erstaunlichen Antrieb, alles verstehen zu wollen. Mit Hilfe eines Wörterbuchs entschlüsselt Germain die Bedeutung von Wörtern, die er nicht kennt. Der scheinbare Schwachkopf hat sich in die Welt der Poesie begeben.

Bildung und Wissen blieben für Germain bislang unerreichbar. Sein Lehrer schalt ihn Dummkopf. Und auch seine Kneipenfreunde lachen gerne über ihn: „Nix im Schädel und keine Chance, dass sich das mal ändert“, grinst „Kneipenkumpel“ Landremont immer wieder. Dem Dummen haftet die Konnotation des Sonderbaren, Unnormalen und Komischen an. Das Überlegenheitsgefühl, das Landremont verspürt und das ihm so viel Freude bereitet, wird nachhaltig erschüttert, als Germain Camus zitiert und Wörter benutzt, die er in der Überzeugung der anderen Kneipengäste nicht kennt. Die Sprache und die Wörter, die sich auch im Kopf Germains zu Kunstwerken zu vereinen beginnen, sind das kräftige Bindeglied zwischen Germain und Margueritte. Doch nicht nur das: Germain hat „entdeckt, was es für ein Gefühl ist, wenn sich jemand für einen interessiert“. Margueritte behauptet, „dass Bildung einsam macht“. Germain denkt darüber nach und beschließt herrlich naiv, dass er dann lieber nicht alles wissen möchte: „Ich werde auf halber Höhe stehen bleiben und glücklich sein, wenn ich es so weit schaffe.“

Indem Germain sich in die Welt der Bücher begibt, öffnet er auch seine Augen für die Realität. Während er Margueritte zuhört, erinnert Germain sich etwa an einen Besuch beim Zahnarzt oder die Verzweiflung in der Schule und ist zu grundphilosophischen Betrachtungen seines Lebens fähig: „Zeit habe ich mehr als genug. Was würde ich gewinnen, wenn ich aufhören würde, welche zu verlieren?“ Germain resümiert: „Schon verrückt, was so ein Buch heraufbeschwört!“ Die Perspektive auf das Leben ändert alles. Nicht das Erlebte ist entscheidend, sondern mit welchen Augen man es sieht. „Das Labyrinth der Wörter“ ist daher ein Plädoyer für die Kraft der Sprache und die Kraft der Bücher.

Und es ist ein modernes Märchen in der Tradition von Winston Grooms Roman „Forrest Gump“, der Geschichte vom reinen Tor auf der Suche nach dem Glück. Zitierte Forrest stets, dass das Leben wie eine Pralinenschachtel sei, so bezeichnet Germain Wörter als Schachteln, in die er „seine Gedanken einsortiert, um sie den anderen besser präsentieren und verkaufen zu können“. Forrest erzählte auf einer Bank an einer Busstation sitzend sein Leben, während Margueritte Germain mit ihren Erzählungen die Welt der Bücher näherbringt. Nachdem Winston Grooms Roman „Forrest Gump“ 1994 verfilmt und die Leinwandadaption mit sechs Oscars ausgezeichnet der erfolgreichste Film des Jahres wurde, mag es deswegen nicht wundern, dass auch Marie-Sabine Rogers Roman das Interesse der Filmemacher weckte. Gérard Depardieu schlüpfte in die Rolle Germains, Gisèle Casadeus spielt Margueritte – französisches Arthouse-Kino der rührenden Art.

2008 erschien „Das Labyrinth der Wörter“ in der französischen Originalausgabe („La tête en friche“). Längst ist Rogers Roman auch in Deutschland ein Bestseller. Rechtzeitig legte der Verlag Hoffmann und Campe im November 2010 auch eine „Buch zum Film“-Ausgabe auf – mit dem Werbeplakat des Filmes als Cover. Die günstigste Ausgabe ist im Deutschen Taschenbuch Verlag erhältlich. Das Taschenbuch erreichte in diesem Jahr seine zweite Auflage.

„Das Labyrinth der Wörter“ wurde in viele Sprachen übersetzt, Claudia Kalscheuer ist die Übersetzerin der deutschen Ausgaben. Einziger Kritikpunkt an ihrer Arbeit ist, dass sie sich weigert, in ihrer Übersetzung den deutschen Genitiv konsequent anzuwenden. Natürlich muss man akzeptieren, dass zum Einen Germains an Koprolalie grenzende, derbe Sprache (er spricht vom „Arsch der Welt“ oder auch: „Ein Arschloch ist ein Arschloch – ich kann doch nichts dafür, dass es diese Wörter gibt.“) und die Einnahme seiner Perspektive das sprachliche Niveau bestimmen muss und dass zum Anderen der Dativ ohnehin den Genitiv zerstört, aber gerade in einem Werk, das den Blick so verliebt auf die Kunst der Wort-Jonglage lenkt, wäre es angenehm, wenn solch scheinbar nebensächliche Details penibel beachtet würden.

Den Lesegenuss schmälern diese Details nicht. Die zauberhafte Mär des Toren, der sich an die Welt der Bücher herantastet und dabei eine besondere Form der Liebe für eine Frau entwickelt, die seine Großmutter sein könnte und die er am liebsten adoptieren möchte, fesselt von der ersten bis zur letzten Seite. „Das Labyrinth der Wörter“ ist kein Buch, das man zuschlägt und schnell vergisst. Germain und Margueritte wachsen dem Leser ans Herz. Die Lektüre kann uneingeschränkt empfohlen werden.

Titelbild

Marie-Sabine Roger: Das Labyrinth der Wörter. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2010.
207 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783455402544

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