Die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben

Die Alternativen werden gesichtet, allerdings mit zweifelhaftem Ergebnis. Der von Sven Reichardt und Detlef Siegfried herausgegebene Sammelband über „Das Alternative Milieu“ kann nur der Anfang sein

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Selbstverständnis des alternativen Milieus der 1970er- und 1980er-Jahre ist von der Gewissheit geprägt, ein Gegengewicht zur kompakten Mehrheitsgesellschaft zu sein, deren rationales Gesicht von Helmut Schmidt verkörpert wurde. Für die wahre Qualität der Mehrheitsgesellschaft (wahlweise dem „System“ oder dem „Establishment“) stand jedoch jener Nachfolger Schmidts im Kanzleramt, der allein schon durch seine Körperfülle für eine selbstgewisse und selbstzufriedene Gesellschaft stand – Helmut Kohl. Schmidt und Kohl als Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft – und auf der anderen Seite Hausbesetzer, alternative Ökonomen, AKW-Gegner, Bürger- und Friedensbewegte bis hin zu den Hausbesetzern und Autonomen als deren Schreckgespenst.

Die Anfänge waren klein, und dennoch hat das alternative Milieu die Gesellschaft nach 1968 stärker beeinflusst, als ihm das vielleicht selbst klar ist. Die hedonistische urbane Kultur des neuen Jahrtausends wurde wesentlich von ihm geprägt: Offenheit, Nachhaltigkeit, die Konjunktur einer globalen Kultur, die Differenzen wahrnimmt, ohne sie zum Anlass für Abgrenzung zu machen, ja, auch der Atomausstieg Angela Merkels – all das ist von diesem alternativem Milieu mit auf den Weg gebracht worden.

Nicht minder groß ist sein Einfluss jedoch auch auf die politische Kultur, in der Bürgernähe und -beteiligung zu bemühten, wenn auch längst nicht immer erreichten Standards geworden sind. Der Gewissheit, zu nichts weniger als der Rettung der Welt angetreten zu sein, ist dabei auch die Durchsetzung von Moral als politischem Gradmesser zu verdanken. Die guten Systeme müssen heute wie die guten Herrscher rigiden moralischen Vorstellungen genügen, weshalb auch kleinere Fehltritte zu Rücktritten führen können. Eine Figur wie Franz-Josef Strauß heute? Unvorstellbar. Was auch sein Gutes hat. Aber Moral ist eben auch ein unnachgiebiges Maß, das nach Belieben zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch zu unterscheiden vermag und dabei Grauzonen nicht zulässt. Ein altes Problem.

Politische Wirkung? Die Bürgerinitiativen der 1970er- und 1980er-Jahre verstanden sich als Korrektur eines politischen Establishments, das über die Verfahren die Beteiligung vergessen hatte und deshalb dazu neigte, Entwicklungen nicht bei den Betroffenen mit zu verankern. Et vice versa: Protestaktionen wie Stuttgart 21 zitieren die Bürgerinitiativen dieser Jahre, auch wenn sie wie deren Wiedergänger erscheinen mögen.

Sogar in den ökonomischen Fortbildungsschriften des modernen Kapitalismus sind seine Spuren zu finden: Veränderungsmanagement als Selbstfindungsbewegung? Mitarbeiterführung als Wohlfühlveranstaltung? Da mag vieles auf Papier stehen, was niemals auch nur ansatzweise Realität wird, aber wie in vielen Bereichen: Das Bewusstsein bestimmt die Wahrnehmung des Seins.

Das alternative Milieu ist vielfältig, zweifellos, und widersprüchlich zugleich, wie eine Reihe von Stichworten zeigen mag, die in den vergangenen Jahrzehnten durch die Gazetten der Republik gejagt wurden, unter Einschluss der einschlägigen Erzeugnisse des Milieus selbst.

Hedonismus? Ja sicher, auch wenn mit den zahlreichen Varianten des Ökoaktivismus auch asketische Positionen Raum fanden. Petra Kelly und Baldur Springmann – Gründungsfiguren der Grünen – stehen auch in der heutigen Sicht nicht für eine alternative Genusssucht – vielleicht aber Jutta Ditfurth? Auf ihre Art vielleicht.

Selbstverwirklichung? War immerhin als Anspruch ständig präsent, auch wenn das Spektrum von Egoismus bis Esoterik reichte und reicht und manche Selbsterfahrung in der Selbstvernichtung endete.

Kreativität? Mit einem spiritus rector wie Joseph Beuys immer, dessen Hit „Sonne, statt Reagan“ jüngst wieder auf einem Sampler mit Protestliedern neu veröffentlicht wurde.

Verstetigung? Ja auch das. Man mag den Grünen vorwerfen, dass sie ihre basisdemokratischen Ansichten mit der Beteiligung an der Macht aufgegeben haben (Alain Badiou hat dies jüngst noch als Kernproblem der Revolution im Vorfeld der Machtübernahme gekennzeichnet), sie haben aber eben auch die Konsequenz gezogen, dass sich ins System einpassen muss, wer auf Dauer politische Wirkung haben und gestalten will. Dafür müssen sie sich von einem Springer-Blatt heute als grüne Spießer titulieren lassen. Verkehrte Welt? Nein, nur konsequent.

Vielfältige Protestformen gehen auf die Alternativen zurück, Alternativszenarien, die heute breite politische Unterstützung finden, wurden hier erstmals angedacht, die aktive Entwicklung anderer, egalitärer Lebensweisen wurden hier gestartet – nicht immer zur Zufriedenheit ihrer Protagonisten und nicht immer mit Erfolg gekrönt. Wenn das Alternativmilieu heute in der Gesellschaft aufgegangen ist und sie in vielen Bereichen geprägt hat, dann liegt das an seinem Variantenreichtum, daran dass es letztlich vor allem modern war und in die Moderne passt, daran dass es in den Grünen einen etatistischen Arm begründet hat – und am Altern seiner Protagonisten. Dass es in der RAF und der Bewegung 2. Juni auch einen – wenngleich ungeliebten – militanten Zweig hatte, sei dabei nicht vergessen. Dessen Scheitern ist freilich eben auch ein Indiz für den Willen des Milieus, es sich in der Marginalität nicht zu bequem zu machen. Es ist eben auch einfach, im Kapital, international oder chauvinistisch, stets das Böse am Werk zu sehen.

Zählt man die Protagonisten der Studentenbewegung Ende der 1960er-Jahre ebenso dazu, wie die Politaktivisten der 1970er-Jahre oder die Hausbesetzer, Friedensbewegten, Internationalisten und AKW-Gegner und Ökoaktivisten der 1980er-Jahre, dann wird die Breite und des Milieus, das sich als Bewegung verstand, erkennbar.

Das sehen auch die Herausgeber dieses breit angelegten Bandes zum „Alternativen Milieu“, Sven Reichardt und Detlef Siegfried. Sie ziehen die historischen Grenzen der Alternativen bei der Hochzeit der Studentenbewegung, 1968, einerseits und beim Machtantritt Helmut Kohls, 1983, andererseits. Das ist eine nachvollziehbare Entscheidung, auch wenn sie viele Entwicklungen abschneidet: Die Entstehung der Studentenbewegung aus den vielfältigen kritischen und neomodernen Strömungen der 1950er- und 1960er-Jahre einerseits und die Konvertierung von Friedensbewegung, Ökoaktivismus und Hausbesetzer in politisch und gesellschaftlich nachhaltigere Formen im Laufe der 1980er- und 1990er-Jahre. Nun muss man sich beschränken, um Erkenntnis produzieren zu können, und so kann man diese Grenzziehung durchaus akzeptieren, wenn sie denn, um einen der Vorväter des Milieus zu zitieren, der „Wahrheitsfindung dient“.

Reichardt/Siegfried haben nun Einiges zur Beschreibung des Milieus zusammengetragen, das sie in der Einleitung referieren, die – so sei es gelobt – tatsächlich nützlich ist: So verwenden sie den Milieubegriff, um das Phänomen besser beschreiben zu können, was als Lebensform – bei aller Vielfalt – durchaus treffend ist. Der Milieubegriff selbst verweist auch darauf, warum es einen institutionellen Rahmen nie gegeben hat, versteht man darunter ein Zentralkomitee des alternativen Milieus samt Unterbau. Eine Bewegung könnte so etwa entwickeln, aber ein Lebensraum samt Bewohnern? Mehr als die Grünen als Partei, die „taz“ als Hauptmedium, zahlreiche institutionelle Kleinformen und ein Durchmarsch in der Gesellschaft war wohl in dieser Hinsicht nicht zu erwarten.

Um 1980, so die Herausgeber, habe das Milieu etwa 80.000 Aktivisten und 11.500 Projekte umfasst, was man in der Tat als eindrucksvoll bezeichnen kann – und zugleich als nicht wirklich korrekte Zahl (die niemand herbeischaffen könnte). Bleiben wir also bei Schätzungen: Mitte der 1980er-Jahre (die allerdings nicht mehr zum Berichtszeitraum gehören) habe das Milieu bereits 200.000 aktive Teilnehmer umfasst, die in 18.000 Projekten aktiv gewesen seien. Projekte allerdings, die vor allem im Dienstleistungssektor und nicht in der Produktion angesiedelt waren. Das Cafe und das Umzugsunternehmen sind leichter zu gründen und zum Erfolg zu führen als der Ökobauernhof und die Vollkornbäckerei. In der AG SPAK lässt sich trefflich über alternative Ökonomie streiten, aber sie umzusetzen ist eben eine andere Sache. Firmen wie Enercon oder Solarworld machen so etwas heute, deren Gründer wie zahlreiche ihrer Mitarbeiter dem Milieu einmal verbunden waren. Aber davon reden Reichardt und Siegfried nicht, nicht zuletzt, weil ihr Untersuchungsfeld zeitlich vorher angesiedelt ist.

Besonders groß sei die Sympathie des Milieus im akademischen Umfeld gewesen, betonen Reichardt und Siegfried. Bis zu 20 Prozent der Studierenden um 1980 hätten sich dem Milieu zugerechnet, was die, die dabei gewesen sind, bestätigen werden. Ja, wir waren schon viele.

Biografisch habe das Milieu seine Mitglieder aus den Jahrgängen 1945 bis 1970 rekrutiert, seine Hochzeit habe zwischen 1968 und Mitte der 1980er-Jahre gelegen: Sozial stamme das Milieu mehrheitlich aus den bürgerlichen Schichten, habe sich dabei vor allem der Jugendkultur zugeordnet, die sich einer „Haltung des Aufbruchs, der Partizipation und Emanzipation, der politischen Veränderung der Gesellschaft und der Selbstentwürfe“ verschrieben hätte. Dass ein Soziologe wie Ulrich Beck, der gleichfalls dieser Altersgruppe angehört, solche Eigenschaften als Eigenheiten der Moderne charakterisiert hat, wird auch von Reichardt und Siegfried gesehen. Allerdings fehlen solche Anwendungen im Band ansonsten beinahe völlig.

Die Kultur des Milieus sei vom Anspruch auf Authentizität bestimmt – ein Anspruch, der in der Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts eine wechselhafte Karriere absolviert hat. Industriegesellschaft wurde gegen authentische Erfahrung gesetzt, die Selbsterfahrung und der Vermittlung rückte in den Vordergrund, ein aufschlussreiches Phänomen, das angesichts der Zerfallsdiagnose des Subjekts einige Aufmerksamkeit verdient hätte. Die Herausgeber verstehen diese Phänomen als Kennzeichen eines neuen Jugendkonzepts. Authentizität sei zudem als Leitlinie politischer und gesellschaftlicher Aktivitäten gesetzt worden, wie die neuen sozialen Bewegungen zeigen. Politisch habe sich das Milieu als vorwiegend links engeschätzt, wenngleich damit politische Akteure wie Springmann, Herbert Gruhl oder auch die Diskussion um die Rechte in der Alternativszene marginalisiert werden.

Solche Ergebnisse werden durch die Felduntersuchung, die Michael Vester vorlegt, vertieft. Vester bestätigt die mehrheitliche Ableitung des Milieus aus dem bürgerlichen, genauer gesagt aus dem kleinbürgerlichen Spektrum. Allerdings wäre hier zu berücksichtigen, inwieweit die Nachkömmlinge des „Arbeitnehmermilieus“ und des „ständisch-kleinbürgerlichen Volksmilieus“ nicht ihrerseits als Aufsteiger zu werten sind. Die Zunahme der Abiturienten und Hochschulabsolventen seit den 1960er-Jahren verweist darauf.

Die sonstigen Beiträge des Bandes werden auf fünf große Themengruppen verteilt: 1. Theoretische Annäherungen, 2. Transnationale Räume und Ethnizität, 3. Konsum und Kritik, 4. Geschlechterverhältnisse und Subjektivierungsprozesse und 5. Alternativmilieu und Neue Soziale Bewegungen.

Knapp gesagt, die relevanten Beiträge stehen am Schluss: Zum Feminismus, zum Umweltschutz, zu den internationalen Solidaritätsbewegungen, zur Friedensbewegung und zu den Hausbesetzungen um 1980. Das Thema Bürgerinitiativen hätte man sich vielleicht noch gewünscht, waren sie doch Initiator einer neuen politischen Praxis. Auch dass die Herausgeber mit den späten 1960ern beginnen, aber die Studentenbewegung beiseite lassen, ist bedauerlich. Aber man will ja nicht meckern, immerhin legen sie einige Aufsätze vor, die thematisch zentrale Punkte der Alternativen anvisieren.

Der Rest jedoch? Bewegt sich zwischen halbwegs interessant bis irrelevant. Der Beitrag zur Heroinszene etwa räumt sogar selbst einen nur kleinen Bezug zum Generalthema ein. Dem ist zuzustimmen und zugleich nicht. Denn der Drogenkonsum spielt seit den 1960er-Jahren eine wichtige Rolle in den Selbstfindungs- und Erfahrungsdiskursen.

Die anderen Beiträge sind zwar näher dran am Thema, will man jedoch von ihrer Nützlichkeit reden, bleibt wohl vor allem, dass es diese Beiträge gibt. Das eine oder andere Faktum ist gut zu wissen, die Literaturverweise sind nützlich, aber methodisch, argumentativ und auch stilistisch gibts doch einige Vorbehalte.

Eine Stichprobe: U-Zeitungen thesenhaft auf ihre Rolle als Avantgarde der Eventkultur zuzuschneiden, mag erlaubt sein, reicht aber vor allem dann nicht aus, wenn sich die Verfasserin des Beitrags einigermaßen orientierungslos im Themenfeld bewegt und sich vor allem auf ein Exempel konzentriert. In der Praxis der U-Presse vor allem spätere Praktiken des Internets vorweggenommen zu sehen, das ihrer Ansicht nach anscheinend durch „Demokratisierung der Produktionsmittel“ gekennzeichnet ist, ist immerhin eine These, über die man reden kann, aber wie weit trägt sie?

Davon einmal abgesehen, dass die Verfasserin von den Eigentumsverhältnissen an den Produktionsmitteln absieht, die auch für das Internet nicht aufgegeben worden sind, zeigt sich hier vor allem eine erstaunliche historische und sachliche Ignoranz (Verzeihung). Denn wie wärs mit einem Blick in die Flugblattforschung? Und wie wärs mit Brechts Radiotheorie? Um nur zwei Hinweise zu geben.

Wie wäre es auch mit einem Versuch, den Produktionen der frühen 1970er-Jahre erst einmal historisch gerecht zu werden, ohne gleich das, was danach kam, in den Vordergrund zu rücken. Was waren die Konzepte der Medienmacher? Was waren ihre Ziele? Unter welche Bedingungen realisierten sie ihre Projekte? Alles Fragen, die im Beitrag angeschnitten werden, aber eben nur angeschnitten, und nicht durch Material unterfüttert und (argumentativ ausgestattet) diskutiert würden. Hatten etwa die Auseinandersetzungen in den Publikationsorganen, auf die die Verfasserin staunend verweist, einen anderen Zweck als die gegenseitige Beschimpfung? Warum spielt das Ego eine so große Rolle und, „wie man sich dabei fühlte“? Und wie ist die Kurzlebigkeit einiger Publikationsorgane zu begründen, während andere umso langlebiger waren?

Vergleichbares ließe sich auch zu anderen, leider zur Mehrheit der Beiträge anführen, die immer wieder Interessantes mit Banalem und Banales mit Irrelevantem verbinden.

Erschreckend jedoch ist der Zugriff der Beiträge, wenn er moralin unterlegt ist. Auch dazu ein Beispiel: Da finden sich in einem Beitrag zum Verleger Jörg Schröder Sätze wie: „Wer Arbeiten veröffentlichte, die keinen anderen Anspruch hatten, als sexuell erregend zu sein, konnte davon wirtschaftlich stark profitieren.“ Oder: „Als die Zeitung (hier ist die „Konkret“ gemeint, wd) über Sexualpolitik und andere Themen der Neuen Linken berichtete, appellierte sie – um des Profits willen – an die ‚lüsternen‘ Instinkte ihrer Leser.“ Was erfährt man daraus, außer dass die Verfasserin sich keinen Deut für die Kultur des Milieus dieser Zeit interessiert, in der das, was man freie Sexualität nannte, eine große Rolle spielte? Das muss man ja nicht teilen (und es besteht wenig Grund dazu), aber verstehen sollte man es, wenn es um Wissenschaft geht. Aber auch darüber wird man streiten können.

Aus hiesiger Perspektive sind dies freilich Mängel, die zum Teil wenigstens auch das Ergebnis einer wohl nur oberflächlichen konzeptionellen, argumentativen und stilistischen Redaktion sind, die den Verfassern wie den Herausgebern anzulasten ist. Mehr Eingriffe wären hier wohl geboten gewesen.

Dennoch ist zu erwarten, dass der Band als Handbuch zum alternativen Milieu wahrgenommen und nach und nach in den Verweisapparat der einschlägigen Forschung eingespeist werden wird. Das mag man beklagen, ändern wird man es nicht.

Titelbild

Sven Reichardt / Detlef Siegfried (Hg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
509 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783835304963

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