„Hoch der Äquator, nieder mit den Polen!“

Marc Buhls historischer Südsee-Roman über den Zivilisationsflüchtling August Engelhardt

Von Thomas SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte auch eine Reihe von Inselgruppen im Pazifik zum deutschen Kolonialbesitz. Er reichte von Samoa über die Salomonen und die Marshallinseln, die Karolinen und die Marianen bis nach Neuguinea. Dort wurde das Inselchen Kabakon zum Schauplatz einer Tragikomödie mit einem deutschen Apotheker aus Nürnberg in der Hauptrolle: August Engelhardt hatte die Insel 1902 von der Halbsamoanerin ‚Queen Emma‘ erworben, um einen ‚Sonnenorden‘ zu gründen. Für diesen warb er in Europa mit einem griffigen Slogan: „Hoch der Äquator, nieder mit den Polen!“

Engelhardts erster Jünger war nach sechs Wochen tot, Todesursache unbekannt. Das zweite Opfer war der Musiker Max Lützow. Nachdem er auf Kabakon schwer erkrankt war, verließ er die Insel fluchtartig. Mit seinem Boot geriet er in einen Sturm, der ihn halbtot an Land warf, wo er den Strapazen des Unternehmens erlag. Ein weiterer Anhänger ertrank im Meer. Das vierte Opfer war ein alter Freund Engelhardts, der Schriftsteller August Bethmann. Zusammen legten sie 1906 in fünfter Auflage ein „Evangelium“ des „tropischen Kokovorismus“ vor. Darin propagierten sie die Errichtung eines „internationalen tropischen Kolonialreichs“, besiedelt von Anhängern der Freikörperkultur. Die Bevölkerung sollte sich von Kokosnüssen ernähren, während die Tropensonne kostenlos „Lebensenergie“ liefere. In ihrem Größenwahn waren die beiden Freunde inzwischen aneinander geraten. Bethmann trug sich bereits mit der Absicht, Neuguinea mit dem nächstbesten Dampfer zu verlassen, als er auf mysteriöse Weise ums Leben kam. Diesen Stoff für einen Krimi verdichtet der in diesem Genre bewanderte Freiburger Autor Marc Buhl zu einem Lehrstück über den Tropenkoller.

Stoff für einen Krimi unter Palmen

Buhls fiktiver Engelhardt schlägt eines schönen Tages einem Hai mit einem Ruder den Schädel ein. Er erkennt bei dieser Gelegenheit, dass in ihm eine Mordgier lauert, die jederzeit erneut auszubrechen droht. Die Insulaner beneidet er, weil sie sich mit Federn schmücken – „eine für jeden Erschlagenen“. Im Roman trägt gleich der erste Besucher des Propheten der Kokosnuss den Namen Max Lützow. Bald keimt in diesem der Wunsch auf, in die Zivilisation zurückzukehren. Engelhardt wittert Verrat. Nachts steht er über dem Schlafenden und wiegt eine schwere Kokosnuss in seiner Hand. Am nächsten Tag hat Lützow ein böses Loch im Kopf: „Engelhardt sah nach oben zur Palme, die die Nuss auf Max geworfen hatte, sie wollte, dass er bleibt, die Palme selbst sorgte dafür, dass er blieb“.

Einmal mehr bewahrheitet sich Goethes Warnung, dass niemand ungestraft unter Palmen wandle. Später merkt Engelhardt an, dass der Schädel eines Menschen zerbrechlicher sei als der eines Hais. Während sich die Kraft, einen Hai zu töten, aus Wut speisen müsse, genüge für einen Menschen eine „kleine Enttäuschung“. Woher bloß will er das wissen? Den Aufprall der Kokosnuss überlebt der Musiker zwar, doch die panikartige Flucht, in die ihn Engelhardt treibt, endet tödlich.

Zusammen mit einem Schwung neuer Jünger landet als nächstes ein gewisser Wilhelm Bethmann in Neuguinea. Im Schlepptau befindet sich dessen Verlobte Anna, auf die Engelhardt schon früher ein Auge geworfen hat. In der Taschenbuchausgabe ließe sich ein handwerklicher Fehler verbessern: Anna reist mit fünf Koffern an, besitzt aber 20 Seiten weiter nur noch einen. Wichtig für die Handlung des Romans ist jedoch, dass Engelhardts Flucht aus Europa auch mit seiner unerfüllten Liebe motiviert wird. Nicht zufällig liest er am Strand von Kabakon in Ibsens „Peer Gynt“ ausgerechnet die Passage, in der den Weibern die Pest an den Hals gewünscht wird. Zwar entfaltet der Roman das Eifersuchtsdrama und lässt Engelhardt am Ende sogar zum Zug kommen. Doch bleibt die Erzählung an dieser Stelle Fragment. Buhl schöpft das Potential der Geschichte, die näheren Umstände des Todes von Bethmann auszuleuchten, nicht aus.

Postkoloniale Perspektiven

Auf dem imaginären Kabakon spaltet sich Engelhardts Nudistenkolonie entlang der Bruchlinie, die die Lebensreform-Bewegung der Jahrhundertwende so ambivalent erscheinen lässt: Das protofaschistische Lager verschreibt sich dem Schutz der Rassereinheit. Wer nackt einen gesunden Körper zur Schau stelle, setze sich bei der Zuchtwahl durch. „Neger“ und „Juden“ müssten von Kabakon verschwinden. Antisemitismus und Rassismus vertreiben den sympathischeren Teil der Anhängerschaft Engelhardts. Die Abtrünnigen hybridisieren sich mit den autochthonen Insulanern. Die radikalste Aussteigerin avanciert gar zur Nebenfrau von Häuptling Kabua. Für den Gouverneur von Deutsch-Neuguinea, Albert Hahl, der selbst mit einer Eingeborenen ein Kind gezeugt hat, ist damit die Grenze des Erträglichen überschritten: „Eine weiße Frau bei den Schwarzen, das geht definitiv nicht, wenn sich das in Deutschland herumspricht, ist das das Ende der Kolonie“.

Kritik an der Art und Weise, wie die deutschen Kolonialherren Besitz von ihrem Inselreich ergriffen und es mit Strafexpeditionen überzogen haben, äußert im Roman der Häuptling Kabua. Er entpuppt sich als postkolonialer Wiedergänger von Erich Scheurmanns samoanischem Häuptling Tuiavii, der dem europäischen Papalagi die Leviten liest. Weil Kabuas Vater einst einen „Daumenabdruck auf ein Papier gesetzt“ hat, gehört Kabakon jetzt einem Weißen. „Hin und wieder kommen andere Weiße und verbrennen die Hütten und Felder der Stämme.“ Sie verbieten den Insulanern die Vielweiberei, das Tanzen und das Tätowieren, den Verzehr von Hunden und Schiffbrüchigen. Der Missionar Joseph demontiert den Traum von der freien Liebe im Südseeparadies, wenn er erklärt, dass die Leiter der Handelsstationen auf den Außenposten die Inseln mit der Syphilis verseuchen.

Der Stoff, der die Südseeträume der Kolonisatoren regiert, heißt Kopra. Engelhardt muss sich im Roman vorhalten lassen, dass auch er als Besitzer einer Palmenplantage zu einem „Händler des Todes“ geworden sei. Aus Kopra macht man nicht nur Seife, sondern auch Nitroglyzerin. Bethmann wirft ihm vor, dass er auf seiner Insel „Bomben und Granaten“ züchte: „Tote Soldaten baust du hier an. Der nächste Krieg wächst auf deinen Palmen.“ Zwar überführt der Roman Engelhardt nicht als Mörder, doch zeiht er ihn der Mitverantwortung für den Massenmord im Ersten Weltkrieg.

Der wirkliche August Engelhardt verstarb 1919. Nachlass und Bibliothek soll der neue Besitzer von Kabakon ins Meer geworfen oder verkauft haben. Im Roman legt ein enttäuschter Jünger Feuer an Engelhardts Bibliothek. Man ahnt die Absicht der literarischen Brandstiftung: Diese Variante lässt sich mit Knalleffekt verfilmen.

Titelbild

Marc Buhl: Das Paradies des August Engelhardt. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt, M. 2011.
236 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783821861487

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