„In the Shadow of no Towers“

9-11 als Zäsur in der amerikanischen Literatur

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Den 11. September 2001 als große Zäsur für die amerikanische Literatur zu bezeichnen ist eine vielleicht gewagte, jedoch in großen Teilen zutreffende Aussage. Die Terroranschläge, die New York an diesem Tag erschüttert haben, hinterließen zunächst nicht nur ein fragendes Amerika, sondern auch eine ratlose Literatur. Von unmittelbaren Reaktionen in Form kurzer Essays oder Zeitungsartikel abgesehen, haben prominente New Yorker Autoren wie Paul Auster oder Don DeLillo in ihren ersten Romanen nach den Anschlägen literarisch scheinbar geschwiegen. Sowohl in Austers „Oracle Night“ als auch in DeLillos „Cosmopolis“, beide im Jahre 2003 publiziert, wird die direkte Thematisierung der Attentate sowie ihrer Folgen umgangen oder verschleiert. Der Leser jedoch fühlt zwischen den Zeilen die Präsenz der Zäsur 9-11, und liest man beide Romane, deren Handlung zeitlich vor 9-11 angesiedelt ist, so kann man hier und da metaphorische Verschlüsselungen entdecken, auch wenn eine genaue Analyse der Werke als Allegorien auf den 11. September letztlich ins Leere führt.

So wie im Falle des Rockmusiker Bruce Springsteen, der sein Album „The Rising“ im Jahre 2002 angeblich nur deswegen aufnahm, weil ein Autofahrer ihm an einer Ampel in New Jersey den Satz „Mann, wir brauchen Dich jetzt!“ durch die Windschutzscheibe rief, erwartete man von prominenten amerikanischen Autoren vielleicht nicht unbedingt den ‚großen Post-9-11 Roman‘, aber zumindest die Erkenntnis, dass Amerika sich verändert habe, dass vor allem New York sich verändert habe, und dass dies auch eine Zäsur in der Art impliziert, wie über Amerika, über New York erzählt werden kann. Angesichts dieser doppelten Belastung – dem Erwartungsdruck sowie dem eigenen Bewusstsein über ein verändertes Amerika – scheint es aus heutiger Sicht fast zwangsläufig, dass Auster und DeLillo eine narrative Flucht in ein Prä-9-11-New York als bewusste Strategie gewählt haben. So kann man, zumal dies auch weitere Autoren betraf, eine erste Entwicklungsstufe des amerikanischen Romans nach 9-11 beobachten: Eine Phase des Innehaltens, des Reflektierens, des Schweigens, vielleicht auch eine Phase der metaphorischen Verschleierung.

Illustriert wird diese Verschleierung am deutlichsten an Spike Lees heute fast vergessenem Spielfilm „The 25th Hour“. Auf dem Papier die Verfilmung eines moralischen Thrillers von David Benioff (der selbstredend vor 9-11 verfasst wurde), gleicht der Film einer Parabel über das Amerika nach den Anschlägen, in der jede der handelnden Figuren eine zeitgeschichtliche Rolle einnimmt. Die Hauptfigur, ein zu langer Haft verurteilter Drogendealer, steht für Amerika, die um ihn herum kreisenden Figuren für die Finanzwelt, die intellektuelle Elite, die am Finanztropf hängenden Staaten Lateinamerikas, und so weiter. Die Verschleierung wird sogar regelrecht inszeniert, wenn nur in einer einzigen Einstellung des Films Bezug auf 9-11 genommen wird: Als die Freunde des Verurteilten vor einer großen Fensterfront die Zukunft ihrer Freundschaft diskutieren, schwenkt die Kamera im Hintergrund auf ein dunkles Loch im Hochhausdschungel: Ground Zero.

Lässt sich also in den ersten drei bis vier Jahren nach den Anschlägen ein bewusstes Verschweigen oder Verschleiern des Ereignisses beobachten, so ist die zweite Phase der literarischen Auseinandersetzung umso deutlicher und intensiver. Tatsächlich scheint es so, als hätten die amerikanischen Gegenwartsautoren plötzlich ihre Scheu überwunden, sich mit den Anschlägen auseinanderzusetzen und sähen nun die Notwendigkeit, deren unübersehbare Konsequenzen für die Gesellschaft der USA zu thematisieren. Jay McInerney schrieb in „The Good Life“ über die seltsamen Tage nach der Katastrophe, als der ‚neue‘ New Yorker Alltag das Leben der Menschen auf den Kopf stellte und sie in einem Stadium ungewohnter Solidarität und Nähe verharren ließ – und wie recht bald der gewohnte Alltag wieder einkehrte. John Updike unternahm in „Terrorist“ den Versuch, die Radikalisierung junger Einwanderkinder kritisch zu beleuchten, während Don DeLillo in „Falling Man“ eine Parabel für die Sprachlosigkeit konstruierte, in der die zwischenmenschlichen Tragödien der New Yorker Protagonisten den Gedanken der Selbstmordattentäter gegenübergestellt werden. Paul Auster schrieb indes mit „Mann im Dunkel“ den wohl radikalsten 9/11-Roman: Über 350 Seiten wird eine scheinbar banale Gutmenschengeschichte erzählt, der sentimentale Bericht eines alternden Mannes, der nach Jahren der Einsamkeit Freunde, Familie und die große Liebe findet. Erst der letzte Satz des Romans zeigt dem Leser Austers eigentliche Intention: Als der Protagonist morgens glücklich durch sein heimatliches Brooklyn läuft, darüber sinniert wie sich sein Leben endlich zum Guten gewandt hat, schaut er in einen unglaublich blauen Himmel und nennt dem Leser schließlich das Datum dieses Tages: 11. September 2001.

Plötzlich schien der Bann gebrochen: Zahlreiche weitere amerikanische Autoren schrieben über 9/11 und versuchten erst gar nicht, ihre Romane anhand von Allegorien zu verschleiern. Vielmehr wurde 9/11 zum Symbol einer amerikanischen Zäsur erhoben, was zur Folge hatte, dass man jegliche Art von Anspielung oder Verweis auf das Ereignis sofort im Rahmen eines bestimmten, präfigurierten Kontextes deutete. Das Zeichen ‚9/11‘ war geboren und durch die Geburt dieses Zeichen konnte in der Literatur, bzw. in Kunst/Medien allgemein eine dritte Phase eingeläutet werden, die bis heute anhält: Die Phase des ‚Zeichens 9/11‘, das stets im Hintergrund jeglicher Narrative lauert, mit dem allerdings auch gespielt werden kann. Fast scheint es, betrachtet man den Kontext des Spiels, als habe die Postmoderne noch einmal einen Schub aus dem Zeitgeschehen bekommen, um zu neuer Blüte zu finden. Man könnte meinen, amerikanische Schriftsteller hätten in der zweiten Phase bewusst die Mittel des realistischen Romans bemüht, um ein adäquates Gesellschaftspanorama Amerikas abbilden zu können, und sich erst nach diesem notwendigen, als Trauerarbeit zu verstehenden Realismusschub wieder dem postmodernen Spiel mit Zeichen besonnen. Um diese dritte, postmoderne Phase zu beschreiben, sollen der 2010 erschienene Roman „Chronic City“ von Jonathan Lethem sowie, aus dem Bereich des Kinos, der im selben Jahr gestartete  Film „Man on Wire“ von James Marsh dienen.

In Lethems Roman leben die Protagonisten in einem Paralleluniversum, über das der Leser jedoch nicht konkret informiert wird; nur kommen ihm einige Dinge in diesem fiktiven New York der Jetztzeit immer seltsamer vor: Ein Tiger treibt sein Unwesen in der Stadt und seine Rundgänge sind täglich die Topmeldung, selbst in seriösen Tageszeitungen. Die „New York Times“ erscheint daher zeitweise in einer alternativen Ausgabe als ‚Tiger-Free-Edition‘, auch andere Ereignisse werden in Sonderausgaben offiziell ausgeblendet, so dass der Leser die Entscheidung treffen kann, welche Nachrichten er hören möchte und welche nicht. Ganze noble Apartmenthäuser in Manhattan werden als Heime für heimatlose Hunde freigehalten. Manchmal weht der Wind süßlichen Schokoladengeruch über Manhattan. Auf ebay werden Objekte erfunden und angeboten, die horrende Preise erzielen, auch, wenn sie gar nicht existieren. Vor allem aber ist Downtown Manhattan in einer Staubwolke verschwunden, seit Jahren wie es scheint, ganz genau erinnert sich der Protagonist Chase Insteadman – der Name spricht bereits Bände – nicht. Broker gehen in Schutzanzügen zur Wall Street, um ihre Kleidung nicht zu beschmutzen. In der Mitte des Romans sinniert Insteadman über das World Trade Center, das unter dieser schwarzen Rauchwolke liegt. Oder ist es gar nicht mehr da? Er hat es vergessen.

Lethem möchte über das New York nach 9-11 schreiben, aber er möchte gleichfalls nach Möglichkeiten suchen, mit diesem omnipräsenten Zeichen zu spielen, indem er es negiert. Er möchte ein New York beschwören, wie es sich hätte entwickeln können, indem er die Folklore der Stadt manipuliert: Der Tiger entspringt dem jahrzehntealten Mythos, das in der New Yorker Kanalisation Alligatoren hausen, der schwarze Rauch den stets präsenten 9-11 Bildern. Das Bild des Hundehaus wiederum entspringt der um sich greifenden Gentrifizierung, die seit den 1990er-Jahren in Manhattan stattfindet.

Eines der Leitmotive für den Roman ist der Song „Shattered“ der Rolling Stones, zu finden auf deren 1978 erschienenen Album „Some Girls“ und eine Hymne an das dekadente, partysüchtige, drogenumnebelte Manhattan der späten 70er, der Szene um das legendäre „Studio 51“. Die Protagonisten, unter ihnen auch ein abgehalfterter Rockkritiker, möchten an dem Gedanken festhalten, dass das New York von „Shattered“ noch ihr New York ist; ein New York, in dem 9-11 niemals stattgefunden hat und dessen Geschichte sich nicht weiterschreibt, sondern ebenso statisch bleibt wie ihr eigenes Leben. Und deswegen können sie sich die Ereignisse – Tiger, Rauch, Hundehaus, ebay-Objekte – nicht erklären, weil es sie nicht geben darf, und wenn, nur in Form von überhöhten Fiktionen.

In „Man On Wire“ indes wird ein Spiel mit dem Rezipienten inszeniert. Eigentlich eine Dokumentation über den Seiltänzer Philippe Petit, der Mitte der 1970er-Jahre einen 45-minütigen Drahtseilakt ohne Netz und doppelten Boden zwischen den beiden neu errichteten Türmen vollführte, scheint der eigentliche Protagonist des Dokumentarfilms trotz seiner waghalsigen Artistennummer nicht der Seiltänzer Petit sondern das Gebäude selbst zu sein. Durch die ständige Präsenz der Türme im Film nämlich wird ihre Absenz in der Gegenwart erst deutlich. Das World Trade Center wird zum Zeichen und die Erinnerung an Petits Kunststück gleichsam zur Evokation einer Vergangenheit ohne das Wissen den schmerzhaften Einschnitt ‚9-11‘. Petits Aktion mag ein Stück New Yorker Stadtfolklore sein, doch der Erfolg des Films weltweit lässt sich nur mit Sharpes ständigem Verweis auf die Türme als Symbol einer kulturellen Zäsur deuten, auch wenn dieses Element niemals in „Man On Wire“ angesprochen wird.

So kann beobachtet werden, wie die drei Phasen der künstlerischen Auseinandersetzung mit 9-11 Ergebnis einer fast als natürlich zu bezeichnenden narrativen Entwicklung sind. Das anfängliche, schockierte Verschweigen und Verschleiern verweigert sich bewusst der voyeuristischen Nachfrage seitens der Massenmedien. Erst nach einigen Jahren folgt eine Phase der direkten Auseinandersetzung, die jedoch, zumal in der amerikanischen Literatur und im amerikanischen Film, geballt und teilweise (kommerziell) berechnend erscheint. Zehn Jahre nach 9-11 scheint dann keine direkte Auseinandersetzung mehr stattzufinden, sondern 9-11 tatsächlich vornehmlich als universell erkennbares Zeichen verwendet zu werden, das es den Autoren oder Filmemachern erlaubt, ein postmodernes Spiel mit dem Rezipienten zu treiben.

Hierzu ist es besonders wichtig herauszustellen, dass trotz der wenigen (wenn auch prominenten) Beispiele eine Gesamttendenz des Schreibens in der amerikanischen Literatur zu beobachten ist, die versucht, das Ereignis 9-11 als teil amerikanischer Realität anzuerkennen und damit ästhetisch umzugehen. Auch jüngere Romane wie Jonathan Lethems „Freedom“ oder Joseph O’Neills „Netherlands“ bis hin zu einem New Yorker Epos wie „Let The Great World Spin“ von Colum McCann oder einem Thriller wie Richard Prices „Lush Life“, die allesamt vordergründig nichts mit 9-11 zu tun haben, setzen sich mit dem Thema mehr oder weniger verdeckt, jedoch intensiv auseinander.

Ob gerade aufgrund der Universalität des Zeichens ‚9-11‘ jedoch von einer globalen kulturellen oder künstlerischen Zäsur gesprochen werden kann, ist indes fraglich. Man müsste den Gesamtkomplex ‚9-11‘ berücksichtigen, das heißt von der Heraufbeschwörung kultureller oder religiöser Konflikte über die kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten, die den Anschlägen folgten bis hin zur unmittelbaren medialen Reaktion auf die jüngsten Anschläge in Norwegen: Obwohl sich schnell abzeichnete, dass die Terrorakte keinesfalls bisher bekannten islamistischen Mustern folgten, waren sich die Fernsehexperten in den ersten Stunden einig, dass es sich hier um islamistische Täter handeln musste; zu nah scheinen noch die Bilder des 11. September 2001 um eine rationale, reflektierte Auseinandersetzung zu erlauben. Ob jedoch hierin tatsächlich eine Zäsur liegt, wird die Zeit zeigen.