Die literarische Spiegelung der Gesellschaft
Ein Plädoyer für das Lesen und die Literatur von Alberto Manguel
Von Ulrike Koch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWelche Bedeutung hat Literatur in einer Zeit, in der jegliche Information binnen Sekunden aus dem Internet zu holen ist? Einer Zeit, in der zwar mehr Bücher denn je verkauft werden, aber niemand mehr Zeit zum Lesen hat? Ob die Menschheit durch die schnelle Erreichbarkeit von Wissen mehr davon ansammeln kann, oder viel Wissen verloren geht, sei dahin gestellt. Dass die Literatur jedoch einen unglaublichen Wissensstand birgt und selbst Texte aus dem Mittelalter und der Antike noch heute geltende Weisheiten und Diskussionen der Gesellschaft tradieren, sind die zentralen Themen Alberto Manguels. Der Kosmopolit, Autor, Übersetzer und Redakteur hat im Rahmen einer Vorlesungsreihe, den CBC Massey Lectures, im Jahr 2007 seine Gedanken zu Literatur und der ihr eingeschriebenen Wissensschätze Vorträge gehalten, die auch als Buch erschienen. Für die Spanische Ausgabe hat Manguel seine Texte überarbeitet und ergänzt. Diese erweiterte Ausgabe wurde nun auch ins Deutsche übertragen und im S. Fischer Verlag veröffentlicht.
Alberto Manguels Texte bestechen durch seine ungemeine Belesenheit. Zu fast jedem Thema findet er das passende Zitat oder den passenden Verweis in der Literatur. Ob er nun das Gilgamesh-Epos heranzieht oder auf Don Quijote verweist, die Auswahl der Werke ist jedes Mal passend und erhellt seine Thesen. Dabei wirkt Manguel nie belehrend, sondern eher wie ein großer Geschichtenerzähler, der die LeserInnen mitnimmt in seine Welt der Bücher. Thematisch kreist die Vorlesungsreihe um das menschliche Zusammenleben. Manguel zeigt, dass die Gesellschaft, so wie wir sie heute auch noch kennen, in literarischen Texten gespiegelt wird.
Erhellend ist vor allem seine an den Philosophen Georg Lukács angelehnte These, dass „Wert und Identität nicht durch Imagination und Geschichten“ erschaffen wird, „sondern allein gemäß dem, wie viel etwas kosten soll und was man bereit ist, dafür zu bezahlen“. Anstatt dass Menschen zu Büchern oder auf Geschichten zurückgreifen, ist der Konsum der geltende Maßstab. Selbst die Buchindustrie ist nach diesem Schema aufgebaut. Die Relevanz eines literarischen Textes wird nicht mehr an dessen Inhalt gemessen, sondern einzig und allein durch die Marketingmaschinerie bestimmt. VerlegerInnen und Marketingmenschen entscheiden darüber, wie viel Erfolg ein Buch hat, wie viel PR Arbeit hineingesteckt wird und wie die Reaktion in den Feuilletons auszusehen hat.
Abseits dieser düsteren, aber der Realität entsprechenden Sicht zeigt Manguel, wie viel Wert in Geschichten stecken kann. Er erinnert an das Gilgamesh-Epos, das die Geschichte des Herrschers Gilgamesh erzählt, der, seine Macht ausnützend, die Menschen der Stadt Uruk unterdrückt, vergewaltigt und ungerecht behandelt. Die Götter, von den EinwohnerInnen um Hilfe gebeten, erschaffen daraufhin Enkidu, der das direkte Gegenbild von Gilgamesh darstellt. In einem Traum erscheint Gilgamesh die Prophezeiung, dass er einen Freund, Enkidu, finden werde. Beide können nicht ohne einander existieren. Sie erinnern an Platons Vorstellung des Menschen, die/der nach der zweiten Hälfte suchen muss, um glücklich zu werden.
Zugleich verweist die Dualität von Gilgamesh und Enkidu auf die beiden Seiten, die jeder Mensch in sich hat; oder anders formuliert auf das Gute und das Böse, zu dem Menschen fähig sind. So ist jede Seite legitim und wichtig, wie auch die Marketingmaschinerie gebraucht wird, um Bücher zu vermarkten. In seinem Werk lehrt uns Manguel, das wir die Dinge nicht einseitig betrachten dürfen. Alles hat zwei Seiten. Das kann für die einen positiven ausfallen und für andere wieder negativ.
Um das beurteilen zu können und den für sich selbst richtigen Weg einzuschlagen, empfiehlt es sich, zu einem Buch zu greifen und die darin enthaltene Geschichte auf sich einwirken zu lassen. Lesen ist ein identitätsstiftendes Moment, das uns dabei hilft, unsere Persönlichkeit zu entfalten und über uns und unsere Gesellschaft zu reflektieren. Geschichten erweitern unseren Horizont und helfen uns dabei, die andere Seite zu betrachten. Diese Botschaft gibt uns Alberto Manguel mit und regt auch dazu an, sie weiter zu geben.
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