Die unerschöpfliche Fantasie autobiografischer Natur

„Strichcode“ ist Krisztina Toths atemberaubendes Debüt als Prosaschriftstellerin

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn es ein Glück für die deutsche Literatur war, dass Terézia Mora Heimat und Sprache verlassen hat, so ist es ein Glück für die ungarische Literatur, dass Krisztina Toth geblieben ist. Es scheint, dass erfolgreiche ungarische Schriftstellerinnen der Gegenwart ihre bemerkenswerten Debüts der seltsamen Materie ihrer Kindheit widmen.

Krisztina Toth, Jahrgang 1967, eine in Ungarn sehr bekannte Lyrikerin, hat in der Heimat mit ihrem ersten Erzählband 2006 großen Erfolg gehabt. Mit dem renommierten Sándor-Márai-Preis steht sie in einer Reihe mit Imre Kertész oder Péter Esterházy. Nun sind die 15 erzählten Begebenheiten aus dem Leben als „Strichcode“ endlich auch für das deutschsprachige Publikum zu erlesen.

Eine jede Geschichte steht für sich allein, geht von einer skurrilen Begebenheit aus und erzählt dabei das Leben und seine Zusammenhänge. Die autobiografisch inspirierten Momentaufnahmen sind nicht chronologisch geordnet und reichen von der Kindheit über die pubertierende Jugend und das Studentinnenleben bis in die Gegenwart. Meisterhaft dynamisch reißt jeder Episodenanfang mit, man begibt sich in medias res. Die Mischung aus einer außergewöhnlichen Beobachtungsgabe und der Kunst mit Worten mehr sagen zu können, als ein Bild oder Film, lässt den Leser eine Episode nach der anderen verschlingen. Dabei spürt man, wie Toth Geräusche und Gerüche mit Worten noch unerträglicher, ekliger, lauter schreiben kann, als sie wohl wirklich sind. Wie viel Fantasie dabei ist, erscheint unwichtig. Der Beginn der Geschichte „Lauwarme Milch (Strichcode)“ könnte auch als Credo der Autorin gelten:

„Die ganze Story habe ich in meinem Kopf ersonnen und abgespielt. Ich amüsierte mich übrigens oft auf diese Weise: konstruierte die Szenen, verfasste die Dialoge, und dann brauchte ich nur noch darauf zu warten, dass sich in der Realität mit mehr oder weniger kleinen Pannen das abspielte, was ich erdacht hatte.“

Auch die anderen Überschriften sind meist banal wie „Federmäppchen“, „Der Zaun“ oder „Ich tanze gern“, denen in Klammern mysteriöse Beschreibungen zugeordnet werden. So erweist sich die „Linie“ – „Trennlinie“, „Richtlinien“, „Hotline besetzt“ oder eben „Strichcode“ – als roter Faden des Erzählbandes.

Krisztina Toth erzählt von Schuldisziplin, dem Verlieben, der Trennung, dem Altwerden und Sterben. Sie lässt in „Schwarzer Schneemann (Liniennetz)“ die sozialistische Plattenbausiedlung zum Märchenland werden, wenn sie deren Legenden, Mythen, Geräusche, Charaktere und Kommunikationsstruktur so liebevoll wie präzise, mit den Augen eines Kindes, beschreibt. In „Kalter Boden (Höhenlinie)“ erkennt die Ich-Erzählerin auf einer Japanreise zu einem Literaturkongress „[w]ie schwer es ist, alte Wünsche loszuwerden“. Eine andere überrascht den Leser in „Take five (Bruchlinie)“ mit hemmungslosem Sex mit dem namenlosen, verhassten Nachbarn in ihrer Pariser Studentenbude. Nur eines ist allen Episoden gemein: Sie sind verblüffend. Mal machen sie einen nachdenklich, mal bringen sie einen zum Schmunzeln:

„‚Where are you from? ‘, fragte sie, ihr Vogelköpfchen zur Seite geneigt.

‚Hungary‘, antwortete sie zurücklächelnd.

‚Me too‘, nickte die junge Frau verständnisvoll und holte sich einen Mars-Riegel heraus.“

Es gibt in den Geschichten eine Welt von Persönlichkeiten, aber auch eine Ziege, die Selbstmord begehen will, und einen Schäferhund, der mit dem Kopf in der Katzenklappe des Garagentores so verkeilt ist, dass die Kettensäge geholt werden muss – natürlich nur um das Garagentor zu zersägen – und eigentlich, um etwas über Vaters großes Geheimnis aus der Vergangenheit zu erfahren.

Die Sprache der Autorin ist individuell und rücksichtslos lakonisch, immer dem Alter der Protagonistin entsprechend: Der erste Bikini ist „das rote Oberteil aus zwei Dreiecken und hinter den Dreiecken nichts“, über alte Menschen bemerkt sie, „ihre Fersen sind wie der Rand beim Käse“. Und über die nächtliche Beobachtung ihrer Protagonistin im Ferienlager heißt es augenzwinkernd, „Ági-Néni lag auf der anderen Seite nackt am Boden, mit leidendem Gesichtsausdruck, auf allen vieren, unmittelbar hinter ihr der Arzt, so als hätte er beim Schubkarrenfahren gerade erst ihre Beine losgelassen.“

Doppelbödig sind die Aussagen der einzelnen Geschichten, auf den ersten Blick nicht zu erschließen. Der Leser sieht sich gezwungen, über das Gelesene nachzudenken. Jeder hat in seiner Kindheit oder Jugend solche Begebenheiten erlebt, sie aber vergessen, oder konnte –mangels Talent und erzählerischer Kraft einer Krisztina Toth – sie nicht lebendig werden lassen.

Wenn Peter Nádas im Nachwort zur deutschen Ausgabe lobend feststellt, dass es ein solches erzählerisches Talent in der ungarischen Literatur lange nicht mehr gegeben hat, kann man dem nur erweiternd hinzufügen: nicht nur in der ungarischen.

Titelbild

Krisztina Toth: Strichcode. Fünfzehn erzählte Begebenheiten.
Mit einem Nachwort von Péter Nádas.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner.
Berlin Verlag, Berlin 2011.
206 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783827010544

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