Keine Krise ohne Krisenkino

Ein Aufsatzband weist diachron Konstruktionen von Normalität und Abweichung im deutschsprachigen Spielfilm nach

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sollte ‚Krise‘ die Zeitdiagnose einer problematischen, einen Umschlagpunkt ansteuernden Abweichung von einer ‚Normalität‘ bezeichnen, dann ist der Begriff spätestens in unseren Tagen zur Worthülse geraten – Krise scheint überall und alles zu sein, schon gleich alles Gegenwärtige, das sich von einer idealisierten Vergangenheit negativ abhebt. Der filmanalytische Sammelband „Krisenkino“ geht vielleicht allzu sorglos mit seiner Prämisse um, spätestens seit den 1920er-Jahren reagiere der (deutsche!) Spielfilm mehr oder weniger permanent auf Krisenszenarien.

Dabei ist das Grundkonzept des Bandes allerdings überzeugend, wenngleich nicht unbedingt überraschend: Einen erfolgreichen „Krisendiskurs“ erkenne man daran, dass er es verstehe, „Vorstellungen über Normalität und daraus abgeleitete Normen in eine spannungsreiche Beziehung zu einer technischen, sozialen oder kulturellen Abweichung zu rücken.“ Tatsächlich ist die Denkfigur der Krise im 20. Jahrhundert, auf das sich der Band zwangsläufig bezieht, nicht neu, vergegenwärtigt man sich die sich seit Jean Jacques Rousseau erfolgreich etablierende Kulturkritik. Genau wie der Krisendiskurs, so die Herausgeber in ihrer Einleitung, sei auch der Spielfilm „auf Dynamik und Fortgang der um eine Zäsur oder Zuspitzung organisierten Handlung ausgelegt“ – und als Seismograf und zugleich Agens dynamischer Prozesse wird man alle symbolischen, alle künstlerischen Medien in der Moderne, also seit dem 18. Jahrhundert bereits, bezeichnen dürfen. Der Katastrophen- oder auch der Horrorfilm wäre also ein Analogon zur Metaphorisierung oder mythischen Allegorisierung im Krisendiskurs selbst, wenn z. B. die allgegenwärtige Finanzkrise als Erdbeben oder gar Apokalypse ausfantasiert wird.

Spezifisch für den Spielfilm als Krisenmedium sind drei seiner Stärken: Narrativierung, Performanz und ein gehöriges Immersionspotenzial. Der Spielfilm lässt seinen Zuschauer genussvoll an Krisen teilhaben – ‚immergere‘ heißt ‚versenken‘ –, die ihn, den Zuschauer, nicht unmittelbar betreffen, die ihn nach Verlassen des Kinos aber geläutert nach Hause gehen lassen. Zugleich hoffen die Herausgeber, der Film selbst sei ‚kritisch‘, das heißt aus der Krisendarstellung entstünde eine Irritation hegemonialer Diskurse.

15 Beiträge beleuchten vielfältige Dialektiken von Normalität und Abweichung. Nicht immer leuchten die Gedankenkonstrukte der VerfasserInnen ein. Susanne Mildners Aufsatz über G. W. Pabsts „Lulu“-Verfilmung von 1929 stellt die berüchtigte Femme fatale als Abweichung von der ‚Norm‘ vor – doch welcher Norm genau und wie unterscheiden sich Geschlechterrollen in der Zeit Frank Wedekinds von denen der späten 1920er-Jahre?

Niels Werbers überraschende Antithese von ‚Genie‘ und ‚Jude‘ bezeichnet tatsächlich zwei extreme Abweichungen von der in der NS-Zeit geltenden Norm des arischen ‚Volkes‘, wie sie sich in Herbert Maischs Schiller-Film und in Veit Harlans „Jud Süß“, beide von 1940, kristallisieren. ‚Abweichung‘ wird kenntlich als biopolitische Herausforderung, die im NS-Unterhaltungsfilm popularisiert wird: Der wünschenswerten ‚Zucht‘ von Genies steht die ‚Ausmerze‘ der als ‚minderwertig‘ Erachteten gegenüber. Beide Filme sind im absolutistischen Württemberg des 18. Jahrhunderts angesiedelt, dessen Herrscher – beide Male durch Heinrich George verkörpert – jeweils diskreditiert wird, denn als neue Herrschaftstechnik erscheint in beiden Filmen am Horizont das Plebiszit der Straße. Das ‚Volk‘ entscheidet über die Grenzen der Normalität: es huldigt dem Genie und es empört sich, wenn der angestammte Herrscher aus schnöden finanziellen Gründen ein Bündnis mit dem ‚Minderwertigen‘ eingeht. In Werbers Schema gibt es eine legitime Abweichung nach ‚oben‘ in Gestalt Schillers, der aus dem Volk kommt und sich souverän über es erhebt.

Ingo Looses Aufsatz zu den Attributen des Jüdischen im Nachkriegsfilm belegt eine Fortschreibung der jüdischen Charaktere im Zeichen der Abweichung – nun freilich im Zeichen der Viktimisierung: „Insgesamt besehen ist die Formensprache zur Darstellung von Juden – Namen, Physiognomien, Stereotype – seit dem Nationalsozialismus praktisch unverändert geblieben.“

Viele Beiträge des Bandes bestechen als spannend zu lesende Einzelanalysen; der nicht in jedem Beitrag reflektierte Krisenbegriff droht so flach und vieldeutig zu werden, wie er im heutigen Sprachgebrauch nun einmal angekommen ist – neutral oder sogar positiv konnotierte Bedeutungsnuancen wie ‚Phase einer Steigerung‘, ‚Höhe- und Umschlagpunkt‘ bleiben ausgeblendet. Zu bedenken ist: Die Dynamik der Moderne lässt ‚Normalität‘, auf die man sich normativ beziehen kann, kaum mehr zu, ob im Trümmerfilm, im Wendefilm oder im interkulturellen Film der Gegenwart.

Auch die 1968er-Bewegung ist Teil jenes prozesshaften historischen Wandels und lässt sich nur aus ideologisch beschränktem Blickwinkel auf eine Dichotomie von ‚Normalität vs. Ausnahmezustand‘ reduzieren. Bis auf weiteres umstritten bleiben dürfte die Frage, inwiefern der aus der Studentenbewegung hervorgegangene Terrorismus der RAF und anderer Organisationen selbst als Modernisierungsphänomen (oder etwa ‚nur‘ als ein rechtzeitig und erfolgreich besiegtes Phänomen radikalisierter ‚Abweichung‘ von der Normalität) zu deuten sei. Dass ‚68‘ im allgemeinen und die RAF im besonderen die BRD verändert haben, eine Rückkehr zu den früheren Vorstellungen von ‚Ordnung‘ und ‚Ausnahmezustand‘ eben nicht mehr möglich war, scheint evident.

Es lässt aufhorchen, dass Knut Hickethier in seinem material- wie thesenreichen Aufsatz zur Reflexion des RAF-Terrors im westdeutschen Spielfilm nach einer ‚richtigen‘, ‚korrekten‘ Darstellung fragt, also selbst eine Normalität der Repräsentation der RAF in den symbolischen Medien unterstellt. Hieße das, eine für das kulturelle Gedächtnis langfristig taugliche Deutung des RAF-Terrorismus existiere bereits und sei nur noch in den Spielfilm zu übersetzen? Obgleich der Spielfilm „Der Baader-Meinhof-Komplex“ 2008 Deutungshoheit beanspruchte, kann doch von einer ‚Normalisierung‘ der RAF-Geschichte kaum ausgegangen werden. Georg Seeßlen ist zuzustimmen: Noch hat sich kein langfristig taugliches, in der historischen Bewertung eindeutiges und weithin anerkanntes master narrative ausgeprägt. Zugleich lassen sich aus Hickethiers langer Spielfilmliste von „Kennen Sie Georg Linke?“ (1971) über Klassiker wie „Deutschland im Herbst“ (1978) bis hin zu zahlreichen Filmen des vergangenen Jahrzehnts („Baader“, „Die fetten Jahre sind vorbei“ und so weiter) übergreifende Thesen entwickeln: Mit der RAF-Thematik habe man eben doch ein Grundnarrativ – „David gegen Goliath“ – mit wechselhafter Sympathielenkung umgesetzt. Statt die Liebe zu den Rebellen und Außenseitern zu schüren, bediene sich der jüngere Film des RAF-Plots, um immer wieder das „Verhältnis einer neuen Generation zu Staatsallmacht und Terrorismus“ durchzuspielen.

In der Gegenwart angelangt sind wir mit Lars Kochs Aufsatz über die verstörenden Filme Michael Hanekes wie „Wolfzeit“ oder „Caché“, in denen Abweichung als plötzliche Verwandlung einer eben noch im vertraut Alltäglichen aufgegangenen Welt zum Unverlässlichen und schließlich Apokalyptischen hin erscheint – bis das (Selbst-)Opfer eines Sündenbocks die Krise vorläufig beendet. Doch die ‚Normalität‘ ist unwiederbringlich verloren.

Titelbild

Waltraud 'Wara' Wende / Lars Koch (Hg.): Krisenkino. Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm.
Transcript Verlag, Bielefeld 2010.
350 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783837611359

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch