Wem gehört eigentlich die Vergangenheit?

Kathrin Schödels Studie über Martin Walsers „Friedenspreisrede“ nimmt einen Provokateur unter die Lupe

Von Christian RinkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Rink

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Erlanger Germanistin und Komparatistin Kathrin Schödel untersucht in ihrer Dissertationsschrift zwei der im hitzigen erinnerungskulturellen Klima der neunziger Jahre meistdiskutierten Texte. Der autobiografische Roman „Ein springender Brunnen“ von Martin Walser aus dem Jahr 1998 und seine anschließend in der Paulskirche gehaltene Friedenspreisrede werden vor der Folie kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien analysiert. Einhergehend mit der Erschließung des Walser’schen Beitrags zum Erinnerungsdiskurs in einer Phase der nationalen Identitätsfindung stellt sie sich die Aufgabe, folgende Fragen zu beantworten: Wie verhalten sich verschiedene Perspektiven auf das Vergangene zueinander? Welche Formen des öffentlichen Gedächtnisses gibt es? Was vermag ein spezifisch literarisches Gedächtnis zu leisten?

Schödel zeigt auf, wie der 1927 geborene Walser in beiden Texten das öffentliche kulturelle Erinnern an den Holocaust als Antithese zu den eigenen Kindheitserinnerungen auffasst. Sie zeigt dabei überzeugend, wie stark dabei das von Walser nahezu gleichlautend in beiden Texten postulierte „interesselose Interesse an der Vergangenheit“ tatsächlich von aktuellen Bedingungen und Sprachformen des kulturellen Gedächtnisses geformt wird. Damit verdeutlicht sie, dass auch ein literarisches Gedächtnis, das über die fiktionstypischen Elemente der Mehrdeutigkeit, Vielstimmigkeit und Intertextualität verfügt, letztlich den Bedingungen und Mechanismen des kollektiven Gedächtnisses unterworfen ist. Wer wie Walser angebliche gesellschaftliche Unsagbarkeitsregeln anprangert, ist letztlich Opfer der eigenen fehlgeleiteten Interpretation des Zeitgeistes. Fraglich ist nämlich, ob tatsächlich – wie es Schödel anführt – im Jahr 1998 keine Voraussetzungen dafür gegeben waren, dass Walsers seine „glückliche“ Kindheit in der NS-Zeit abseits der öffentlichen Konzentration auf den Holocaust erinnern konnte. Ebenso wie die von Günter Grass einige Jahre später behauptete Verdrängung der Vertriebenenproblematik sind die Walser’schen Anprangerungen einer Holocaust-zentrierten Erinnerungskultur, die jegliche andere Form der Vergangenheitsdarstellung ausschlösse, unzutreffend und historisch betrachtet unsinnig. Hier hätte man sich in Schödels ansonsten überzeugender Studie eine zusätzliche stärkere Einbeziehung empirischer, historischer Fakten gewünscht.

In vorbildlicher Interpretationsarbeit geht sie detailliert auf den immer wiederkehrenden Vorwurf ein, dass Auschwitz im Roman „Ein springender Brunnen“ nicht vorkomme. Sie bestätigt diesen Vorwurf, führt dies aber auf eine legitime Perspektivität des Romans zurück und weist darauf hin, dass das Thema durch entsprechend markierte Leerstellen im Text indirekt thematisiert werde. Schwerwiegender sind für sie – und dem ist voll und ganz zuzustimmen – apologetische Tendenzen in Walsers Roman. Durch die Konstruktion einer literarisch äußerst geschickt als authentisch dargestellten Alltagswelt zu Zeiten des Nationalsozialismus, die nahezu ohne jegliche rassistische und antisemitische Elemente auskommt, vertritt er ein revisionistisches Geschichtsbild. Der literarische Text gesellt sich so auf perfide Weise zu den in der Friedenspreisrede geäußerten Tiraden gegen die öffentliche Erinnerung an den Holocaust. Zusammen mit dem öffentlichen Erinnern an die Shoah wertet Walser so auch das Gedächtnis der jüdischen Opfer ab.

Schödels Studie ist philologisch sorgfältig ausgearbeitet. Imponierend ist neben der klugen Analyse des Romans der Detailreichtum, mit dem sie die zahlreichen Bezüge und vor allem Verkürzungen der Friedenspreisrede aufzeigt. Die eingangs erwähnten Fragen werden überzeugend beantwortet. En passant stellt sie zudem die alte Frage nach der Unabhängigkeit der Ästhetik und der Literatur in einem öffentlichen Raum, in dem Moral und Ethik die primären Wertmaßstäbe sein sollten, neu. Ihre Studie soll als Anstoß und Beitrag zu kontroversen Diskussionen über Gedächtnis, Literatur und Politik fungieren. Das ist ihr gelungen.

Titelbild

Kathrin Schödel: Literarisches versus politisches Gedächtnis? Martin Walsers Friedenspreisrede und sein Roman "Ein springender Brunnen".
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2010.
324 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783826042300

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