Von Schneeblumen, Rollstuhl-Cäsaren und Wälsungen
Die Thomas-Mann-Gesellschaft Düsseldorf hat ihren ersten Sammelband veröffentlicht
Von Jonas Reinartz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNachdem im November 2008 in Bonn der erste Ortsverein der seit 1965 bestehenden Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft – das Schweizer Pendant formierte sich bereits ein Jahr nach dem Tode des Lübecker Weltbürgers, also 1956 – gegründet wurde, enstand im August des darauffolgenden Jahres in Düsseldorf eine weitere Niederlassung. Dies erscheint angesichts der dort ansässigen, von Hans-Otto Mayer begründeten Sammlung zu Leben und Werk Manns, die neben jenen in Zürich und Lübeck zu den bedeutendsten zählt, als überaus sinnvoll. Wie bei literarischen Gesellschaften üblich, besteht das Programm primär aus Vorträgen von Fachwissenschaftlern, ergänzt von Lesungen und Führungen. Im Gegensatz zur nahegelegenen Schwestergesellschaft, die ausgewählte Vorträge in schriftlicher Form separat publiziert, hat man sich hier für die Form eines Sammelbandes entschieden, dem weitere folgen sollen. Dabei reicht das erwartungsgemäß breite Spektrum des ersten Bandes der „Düsseldorfer Beiträge zur Thomas Mann-Forschung“ von Erhellungen biografischer Natur oder hinsichtlich der Beziehungen zu literarischen Traditionen oder anderen Autoren bis hin zum close reading, durchgeführt sowohl von Nachwuchswissenschaftlern als auch bekannten Mann-Forschern wie Hans Rudolf Vaget.
Letztgenannter legt mit „Zu Gast im Weißen Haus: Thomas Mann und Franklin D. Roosevelt“ einen Auszug aus seiner jüngst erschienenen voluminösen Monografie „Thomas Mann, der Amerikaner“ vor. Angesichts der Verdienste Vagets für die Mann-Forschung, etwa durch seinen Kommentar zu den Erzählungen (1984) oder die Edition des Briefwechsels mit Agnes E. Meyer (1992), verwundert die hohe Qualität seiner Ausführungen nicht. Mit leichter Hand und viel Liebe zum Detail legt er die mitunter kurios anmutende Faszination des Exilanten für Roosevelt dar, die freilich nicht die Schattenseiten des Gastlandes verdeckte, um abschließend kurz die Wirkung des New Deal auf „Joseph der Ernährer“ (1943) zu skizzieren. Sascha Kirchners souveräner Beitrag beschreibt mit der „Lebensfreundschaft“ zwischen Thomas Mann und Bruno Frank ebenfalls die Geschichte einer einseitigen Bewunderung, die angesichts der mannigfaltigen geistigen und/oder persönlichen Beziehungen Manns oft eher in Vergessenheit gerät. Kirchner geht auch auf interessante Parallelen der Werke beider Autoren ein und versäumt es nicht, bei aller Sympathie, die angesichts der Freundschaft mit einem Autorenkollegen besonders signifikant hervortretende „unbezähmbare[] Eitelkeit“ des Nobelpreisträgers zu berücksichtigen.
„Thomas Manns Verhältnis zu Heinrich Heine“, das nicht zuletzt wegen des Dreigestirns Schopenhauer-Nietzsche-Wagner oder etwa den Ambitionen der vielbesprochenen Goethe-Nachfolge weniger bekannt ist, wird von Volkmar Hansen thematisiert. Diese Vernachlässigung ist bedauerlich, denn Hansen, seit „Thomas Manns Heine-Rezeption“ aus dem Jahre 1975 ohnehin ein erwiesener Spezialist für dieses Thema, vermag aufzuzeigen, wie stark ihn dieser beeinflusste, regelrechte „Bausteine seiner Existenz“ bereitstellte. Somit plädiert Hansen zu Recht für ein facettenreicheres Bild des gelegentlich scheinbar in Klischees erstarrten Autors. Als passende Ergänzung erweist sich „Ehekomödie als Deutschlandplan? Thomas Manns letzte politische Dichtung“ (Reinhard Merhing). Der Plan zu einer Komödie über Luthers Eheschließung und auch die Idee einer Novelle über den Reformator werden hier überzeugend in den Kontext von Manns Politikverständnis, das durch die Personalisierung von „politische[n] Fragen in Individuen“ geprägt war und die historischen Diskussionen der Nachkriegszeit um die deutsche Schuld gestellt.
Sehr ambitioniert präsentiert sich Markus Lorenz in seinem Beitrag „Von Schneeblumen und Blumenschnee. Wiederholte Spiegelungen in Thomas Manns Zauberberg“. Methodologisch ist er der „Kölner Schule“ um Claudia Liebrand und Stefan Börnchen nahe, der Herausgeber des 2008 erschienenen exzellenten Sammelbandes „Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die klassische Moderne“, der den oftmals als Traditionalisten und Bewahrer der Erzähltradition des 19. Jahrhunderts eingestuften Autor als Avantgardisten erachtet und die „Farben und Formen“ unter der vermeintlich konservativen Oberfläche ernst nimmt. Deren Niveau erreicht Lorenz allerdings nicht, zu bemüht originell wirken, trotz so mancher exzellenter Einzelbeobachtung, die Betrachtungen zur zweifellos in hohem Maße vorhandenen Selbstbezüglichkeit im „Zauberberg“, etwa wenn vom Wort „Übersetzungsgetriebe“ auf die Anlage des Romans als „Metaphernproduktionsmaschine“ geschlossen wird. Hinzu kommt ein oft gespreizt wirkender sprachlicher Stil, beispielsweise wenn Castorps Formbarkeit als „so rein wie die dünne Höhenluft“ oder die Fülle der „poetischen Analogien und Spiegelungen“ als „Zauberborn“ erscheinen.
Johannes Roskothen geht den „Figurationen des Abstiegs“ in Manns Romandebüt „Buddenbrooks“ (1901) nach, wobei die erste Hälfte des Beitrags Altbekanntes zur Verfallsthematik wiederholt und auch die Aufwertung Kai Graf Möllns als „Möglichkeiten bewältigten Schmerzes, im besten Fall: glückenden Dichtens und Lebens“ keine neuen Einsichten vermittelt. Die Positionierung Kais als positives Gegenbild zur Décadence der Buddenbrooks geschieht zudem mit eher fragwürdigen Mitteln. So stellt Roskothen die Frage, ob es eine Art von glücklichem Künstlertum in diesem Roman gebe. Dann kommt er auf diejenigen Interpreten zu sprechen, die „eine gesteigerte Verfeinerung und Sensibilität“ (freilich auf Kosten der Vitalität) konstatieren und behauptet dann, nachdem er Tony, Thomas und Hanno Buddenbrooks durchgegangen ist, von einer „aufsteigenden Strukturlinie“ könne keine Rede sein. Das Problem liegt darin, dass die anderen, angeblich falsch liegenden Interpreten gelingendes Kunstschaffen ja überhaupt nicht zum Maßstab nehmen. Bengt Algot Sørensen beispielsweise spricht von einer „aufsteigende[n] Linie einer Steigerung des ‚Geist‘-Elementes, das heißt der Sensibilität, des Interesses für Religion, Philosophie und vor allem für Musik.“ Daher ist die Profilierung Kais leider zu hoch erkauft.
Ebenfalls als problematisch erweist sich Frank Weihers Beitrag. Er möchte darin aufzeigen, dass Felix Krulls „Liebesobjekt […] nichts anderes als die Welt selbst“ ist. Dies gelingt ihm durchaus, doch der Weg zum Ziel ist von etlichen unnötigen Exkursen geprägt. Dies mag zum Teil der Tatsache geschuldet sein, dass der zugrundeliegende Vortrag bei der „Nacht der Bibliotheken“ gehalten wurde, sich also an ein eher allgemeineres Publikum wandte, doch in der vorliegenden Publikationsform erscheint dann doch einiges überflüssig – wie Bemerkungen über Don Quichotte und Hamlet, die nur notdürftig mit den Nachfolgenden verbunden sind –, vieles redundant oder – meistens damit einhergehend – zu undifferenziert. Dass Thomas Manns Weltsicht vom Schopenhauer’schen Pessimismus geprägt war, dürfte hinlänglich bekannt sein, da bedürfte es ausführlichen Zitaten aus Thomas Buddenbrooks Lektüreerfahrung gar nicht mehr.
„Der Zauberberg“ wird im Übrigen auch noch en passant erklommen, wobei ja gerade die Beurteilung des Endes sich nicht in wenigen Sätzen abhandeln lässt. Die Aussage, dass der Roman „den Fortschrittsglauben, die Lebensbejahung, die Politik, ja selbst die Zivilisation nur noch als lächerliche Anachronismen“ zurückließe, wirkt allzu forciert und wird der Komplexität des Textes, nicht zuletzt aufgrund der Entstehungsgeschichte, und der Forschungsdiskussion bei weitem nicht gerecht. Die Verballhornung des „Faust“-Finales, wo aus „hinan“ dann „hinab“ wird sowie ein die Theodizee-Diskussion als Sprungbrett benutzender Exkurs über den diesjährigen Atomausstig, der ansonsten keinerlei Bezug zum eigentlichen Thema besitzt, sind symptomatisch für diesen Aufsatz, dem die Konzentration auf das Wesentliche wohlgetan hätte.
Wesentlich gelungener sind Kirsten von Hagens Betrachtungen über „Liebe, Oper, Transgression bei Thomas Mann und Thea Dorn“. Zwar geraten die Bemerkungen zu „Wälsungenblut“, jener berühmt-berüchtigten Novelle über den von Wagner inspirierten Inzest eines jüdischen Geschwisterpaares, eher knapp, doch die einleitenden Passagen über die grundlegenden Konfigurationen von Opernszenen in der Literatur im Allgemeinen, nämlich Vermischung der Ebenen, Spiegelung und Ironisierung, bei der auf anschauliche Beispiele, etwa E.T.A. Hoffmanns „Don Juan – Eine fabelhafte Begebenheit, die sich einem reisenden Enthusiasten zugetragen“ (1813) oder Stendhals „Le rouge et le noir“ (1830) zurückgegriffen wird, um dann in Manns Operndeskriptionen zu münden. Somit stellen sie eine ideale Ergänzung zu den entsprechenden Ausführungen in Vagets „Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik“ (2006) dar, auf die sich von Hagen auch ausdrücklich bezieht. Obgleich Dorns eher weniger bekannter Roman „Ringkampf“ freilich literarisch in einer ganz anderen Liga angesiedelt ist als die anderen herangezogenen Texte, erweist sich ihre freche Satire auf den Opernbetrieb als „eine Aktualisierung und Réécriture“ der Tradition „aus feministischer Perspektive“, wie überzeugend dargelegt wird.
Anders als behauptet, entstand „Wälsungenblut“ allerdings 1905 und nicht 1906, und dass der Text dann 15 Jahre später veröffentlicht wurde, ist nicht falsch, doch ein wenig verkürzend, denn es waren immerhin 1906 Raubdrucke im Umlauf, die auf den Makulaturbögen der eingestampften Januarausgabe der „Neuen Rundschau“ basierten, in welcher der skandalträchtige Text ursprünglich erscheinen sollte. Ebenso wie zwei kleine Fehler, nämlich wenn von „Lohengrinn“ und dem „Geschwisterpaar[], inbesondere Siegfried[]“ (es handelt sich ja um Siegmund, Siegfrieds Vater) die Rede ist, tut dies einer gewinnbringenden Lektüre aber keinen Abbruch.
Den Band beschließt eine informative Rekapitulation von „Geschichte, Sammlungsprofil und Nutzungsmöglichkeiten“ der von Hans-Otto Mayer initiierten Düsseldorfer Mann-Sammlung, verfasst von deren Kuratorin Ute Olliges-Wieczorek. Freilich handelt es sich dabei vornehmlich um eine positive Selbstdarstellung – angesichts des beachtlichen Bestandes, der sich etwa angesichts von mehr als 5.000 Thomas-Mann-Briefen, einem Ausschnittsarchiv und einer imposanten Auswahl an Ausgaben und Übersetzungen wahrlich sehen lassen kann, ist diese aber mehr als gerechtfertigt. Somit kommt die tour d’horizon durch das Mann’sche Universum zu einem passenden Abschluss. Obgleich freilich nicht alle Beiträge die gleiche hohe Qualität aufweisen, sind auch die schwächeren thematisch interessant und größtenteils durchaus impulsgebend, zumal durch die breite Auswahl an Themen sicherlich jeder an Thomas Mann interessierte Leser fündig werden wird. In diesem Sinne darf man sich also auf die nächsten Bände freuen.
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