Kontaminiert

Marlene Streeruwitz erdichtet in ihrem jüngsten Roman eine leidgeprüfte „Schmerzmacherin“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zahlreiche Raubvögel ziehen ihre Bahnen über einer unberührten und so Unschuld verheißenden Neuschneedecke, unter der sich jedoch vereistes Land und festgefrorene Spurrillen verbergen, die Vorbeifahrende in einen Abgrund zu führen drohen. Ein metaphernschwerer Beginn, der sofort eine bedrückende, schwer fassbare Atmosphäre schafft. In ihrem „uralten Kia“ entgeht die titelstiftende Protagonistin dem Sturz in die Tiefe nur um Haaresbreite. Gerade so, wie sie sich letztlich aus den Fängen von Allsecura zu lösen vermag, einer Folterfirma, bei der sie zur „Ausbildung“ angeheuert hat, ohne zuvor gewusst oder sich auch nur dafür interessiert zu haben, worauf sie sich einlässt.

Doch schon bevor sich für die Lesenden langsam herausschält, wohin sie überhaupt mit ihrem eher unscheinbaren Gefährt unterwegs ist, wird deutlich, dass es sich keineswegs um eine harmlose Ausbildungsstelle handelt, auf die sie sich eher unernst und nur einer Verwandten zu Gefallen beworben hat. Auch nicht um psychotherapeutische Sitzungen, wie manche nach der Lektüre der ersten Seiten vermuten mögen, da sich schon hier ernsthaftere Alkoholprobleme der als schön beneideten Frau abzeichnen, um die sich „am Ende nur der Wodka kümmert“. So glaubt sie zumindest lange. Doch sagt sie letztlich nicht nur Allsecura Valet, sondern zuvor bereits dem Schnaps.

Zunächst aber wird Amy – so heißt sie – in einer an der bayrisch-tschechischen Grenze gelegenen Außenstelle der für den britischen Staat Gefangene zur Kooperationsbereitschaft folternden Firma in undurchschaubaren Demütigungsritualen und Rollen‚spielen‘ einer Gehirnwäsche der Gefühle unterworfen, die sie lehren sollen, „wie man Schmerzen optimiert“. Nicht die eigenen, wie sich versteht, sondern die der anderen.

Noch hat Amy nicht richtig verstanden, worauf sie sich eingelassen hat, da unternimmt sie bereits einen halbherzigen Versuch auszusteigen. Ein zweiter, kaum anders denn als Flucht zu bezeichnender, scheitert und kostet sie einen Tag ihres Lebens – oder doch zumindest die Erinnerung daran. Offenbar wurde sie von ihren Arbeitgebern zu eben diesem Zweck unter Drogen gesetzt. Und sie wurde – von wem bleibt bis zu Letzt offen – an diesem ihrem Gedächtnis entschwundenen Tag geschwängert. Später wird sie eine Fehlgeburt erleiden, ohne bis dahin gewusst zu haben, dass sie überhaupt schwanger war.

Die düster-sterile Atmosphäre von Allsecura und der Horror der „Ausbildung“, den sich Amy für lange Zeit immer wieder schön zu reden versucht, werden mit der fast kitschig zu nennenden, aber anheimelnde Geborgenheit schenkenden Alltäglichkeit kontrastiert, der sie in ihren Erinnerungen nachhängt. Sie gelten einer heilen Wiener Welt in der das Mammerl ihrem Almtscherl Butterbrote schmierte. Almtscherl, so wurde Amy von dem Mammerl genannt. Doch auch diese scheinbar familiäre Idylle erweist sich als trügerische Fantasie – wie ja überhaupt alle ihrer Art und nicht etwa nur die literarischen.

Amy und Amtscherl, das sind nur zwei von zahlreichen Namen, die der Protagonistin gegeben werden. Jede Figur scheint einen anderen für sie bereit zu halten, und stets spiegelt sich in ihnen die Rolle, welche die junge Frau mit dem abgebrochenen BWL-Studium und dem bislang „ungenauen Leben“ ihnen gegenüber spielt. Tatsächlich wird die bis zu ihrer „Ausbildung“ zur titelstiftenden „Schmerzmacherin“ scheinbar leichtfertig dahin lebende Frau von einer „tief unten“ sitzenden Angst getrieben, da „das Leben ja ohnehin fast immer weh tut“.

Wie bereits in früheren Werken lässt die Streeruwitz ihre Sätze auch diesmal gerne unvollendet im grammatischen Nirwana auslaufen. Auf diese Weise lässt sie etwa Form und Inhalt zueinander finden, wenn sie darauf verzichtet, die Aussichtslosigkeit einer Bitte um Hilfe in ein abschließendes Verb zu bannen.

Überhaupt versteht die Autorin die hohe Kunst des Weglassens. Denn nicht nur zwischen den Zeilen, sondern auch zwischen den Kapiteln gehen nicht unwesentliche Dinge vor sich, die ungeschrieben bleiben und erschlossen sein wollen – von den Lesenden, und manche auch von der Ich-Erzählerin. Ersteren dürfte es ein wenig leichter fallen. Diese Kapitel konzentrieren sich jeweils auf das Geschehen an nur einem Tag. Zwischen ihnen liegen jedoch Monate. Dabei dürfte ein größerer Gegensatz als derjenige zwischen den letzten Worten des März- und dem ersten des anschließenden April-Kapitels nur schwer zu finden sein.

Gegen Ende scheint sich die Romanhandlung in den Alpen zu verlieren. Doch bedeutet das nur, dass sich eine Schicht scheinbarer Normalität über das Grauen gelegt hat. Gerade so wie zu seinem Beginn der unschuldig weiße Schnee über die an den Abgrund führenden Spurrillen.

Bis es soweit ist, verstreichen neun Monate Handlungszeit. Eben die Dauer, die es braucht, ein Kind auszutragen. Doch wird am Ende des Buches nicht ein Mensch ins Leben gebracht, sondern einer hinausbefördert. Der Protagonistin aber ist es gelungen, aus der Firma auszusteigen und – so scheint es – das Grauen hinter sich zu lassen. Die letzten Worte aber gehören dem Credo der Firma. Es ist Amy, die sie denkt, wohl ohne sich dessen recht bewusst zu sein. Mag sie sich auch frei scheinen, so ist sie doch kontaminiert.

Titelbild

Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
399 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783100744371

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