Im Raum zwischen Wildnis und Zivilisation

Tomas Tranströmer, der Literaturnobelpreisträger 2011

Von Simone FrielingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Frieling

Wer in diesen Tagen Tomas Tranströmer in einem Video erlebt, das vermutlich mehr Menschen sehen, als je seine Gedichte gelesen haben, steht vor einem anschaulichen Paradox: Ein vom Schlaganfall gezeichneter und nun mit der höchsten Auszeichnung bedachter Dichter, der mühsam und undeutlich spricht. Es ist, als hätte er keine andere Stimme mehr als die poetische, die wir nicht hören können, die wir lesen müssen. Ein Dichter im starken, aber auch schrecklichen Sinn, dem die Sprache nur noch literarisch zur Verfügung steht.

Man muss ihn nicht kennen, diesen schwedischen Lyriker, wie man manchen Nobelpreisträger für Literatur nicht kennen muss, aber man sollte es. Wer ihn nicht kennt, kann ihn jetzt kennenlernen. Geschrieben hat er seit einem halben Jahrhundert, vor allem Gedichtbände, aber auch kurze Prosa. Es ist ein schmales Werk geblieben, selbst für einen Lyriker. Aber der Autor ist kein Unbekannter, auch nicht außerhalb Schwedens. Ein Autor für das große Publikum ist er nicht geworden, obwohl er in Schweden mit seinem letzten Buch großen Erfolg hatte. Ob er der wichtigste skandinavische Dichter der Gegenwart ist, lässt sich kaum sagen. Seine große dänische Kollegin Inger Christensen starb, ohne mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden zu sein; nicht anders wird es, nach menschlichem Ermessen, seinem Landsmann Lars Gustafsson ergehen, der bekannter und vielseitiger ist, weltläufiger und intellektueller.

Aber Tomas Tranströmers poetische Stimme war und ist unverwechselbar. Er ist ein Realist, der die Realität poetisch verfremdet, mit seinen Metaphern, die nicht weithergeholt sind und dennoch überraschen. Was er zu sagen hat, sagt er mit ihnen. Und seine Sprache ist so einfach, dass sie auch in der Übersetzung ihren Reiz nicht verliert. Nicht umsonst ist er etwa in 50 Sprachen übertragen worden. In Deutschland hat er nur bei wenigen Gehör gefunden. Der Hanser Verlag hat sich seit 1981 mit fünf Lyrik- und einem Prosabändchen in guten Übersetzungen von Hanns Grössel um ihn bemüht oder besser gesagt, um die Leser. Gedichte erschien 1981, Der wilde Marktplatz 1985, 1993 dann Für Lebende und Tote, 1997 Sämtliche Gedichte, 1999 das schmale Prosabändchen Die Erinnerungen sehen mich und schließlich Das große Rätsel 2005.

Schon seit 1969 konnte man Tranströmer auf Deutsch lesen. Walter Höllerer nahm ihn in die legendäre Reihe der LCB-Editionen (Literarisches Colloquium Berlin) auf. Renate von Mangoldt, Höllerers Frau, gab der Edition ein unverwechselbares Gesicht durch ein besonderes Cover: Schwarz-Weiß-Porträts der Dichter stehen auf weißem Grund; sachliche, schnörkellose, aufs Wesentliche konzentrierte Fotografien. Für den Leser waren diese meist schmalen Bücher, wenn er sie in Händen hielt, wie eine Begegnung mit der Person des Autors.

Zu lesen war in dem Bändchen Gedichte von 1969, das nur 32 Seiten zählt, schon das Beste von Tranströmer, das von ihm auch in den nächsten Jahrzehnten nicht häufig überboten wurde. Stil und Ausdrucksmittel variieren wenig in seinem Werk. Doch Sprachbilder und Metaphern prägen sich tief ein, wie etwa in dem Gedicht Morgenvögel:

Ich wecke das Auto.
Die Windschutzscheibe mit Blütenstaub überzogen.

So wie Tranströmer Natur und Technik aufeinander bezieht, verbindet er auch Natur und Kultur, etwa im Porträt eines Schulkameraden: „Sein Anzug ist versetzt mit dem Schimmer des Nadelwaldes.“ Immer wieder bringt Tranströmer Mensch und Tier zusammen, wie in der Metapher vom „Zugvogelschwirren geschüttelter Hände“ in Aus einem afrikanischen Tagebuch (1963).

In dem letzten Gedicht des LCB-Bändchens, Formeln des Winters, klingen alle Themen an, die Tranströmer wichtig sind und denen er sich immer wieder zugewandt hat: die Natur, obwohl er kein Naturlyriker ist; der Mensch, den er nicht zu analysieren versucht, obwohl er ausgebildeter Psychologe ist; schließlich der Kosmos. Zwischen all dem liegt, kleiner oder größer gefaltet, der Alltag, der sich aus Arbeitsleben und Politik, Stimmungen und Gefühlen zusammensetzt.

Es ist morgens vier Uhr
wenn die sauber geschabten Knochen des Daseins
kalt miteinander umgehn.

So gibt Tranströmer mit wenigen Worten die Verfassung des Menschen wieder, der im Winter um vier Uhr nachts aufwacht: eine Alltäglichkeit, deren Abgründigkeit er in einem lakonischen Bild anspricht.

Was Tranströmer über Vögel, Bäume und Blumen zu sagen hat, tut er ohne Übertreibung, in einer Sprache, die melodisch ist, bildreich und schlicht. Metaphern kommen in einem Alltagsgewand daher und haben plötzlich eine Wucht wie Sprachbilder der Antike:

Drei schwarze Eichen aus dem Schnee.
Grob aber fingerfertig.
Aus ihren gewaltigen Flaschen
wird das Grün in den Frühling schäumen.

In vier Zeilen schafft Tranströmer einen Raum, als stünden wir in einer Schneelandschaft Breughels, sähen aber schon das Grün der Gärten von Monet.

Wenn er menschliche Verhältnisse beschreibt, richtet er seinen Blick auf das Naheliegende: das Rasieren am Morgen, das Zeitunglesen, Busfahren. Darin ist er seiner Kollegin Wisława Szymborska verwandt, der polnischen Lyrikerin, die 1996 den Nobelpreis zugesprochen bekam. Aber Tranströmer geht immer einen  Schritt über die alltägliche Situation hinaus, einen großen.

Ich stehe unterm Sternenhimmel
und fühle in meinem Rock
die Welt ein- und auskriechen
wie in einem Ameisenhaufen.

Ein vergleichbar eindrückliches Naturbild, das Fremdheit und Nähe des Menschen im Verhältnis zur Natur ausdrückt, hat nur Georg Büchner in seiner Erzählung Lenz gefunden: “Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen…”

Auch auf die Arbeitswelt geht Tranströmer ein, im dritten Teil von Formeln des Winters. Er pirscht sich von außen an, sozusagen aus der ’Wildnis’ im Schnee kommend, sieht auf die Gebäude einer Anstalt und gibt uns präzise die Stimmung drinnen im Raum wieder. Mit keinem Wort erklärt er, dass dort sein Arbeitsplatz ist: Von 1960 bis 1965 arbeitete er als Psychologe in der Jugendstrafanstalt Roxtuna. Mit keinem Wort bewertet er die Situation oder beschreibt Gefühle. Nein, er löst sie aus: die Bedrückung, die Irritation, vielleicht sogar eine Bedrohung, die von dem Gebäude ausgeht. Die sechs Zeilen sind so aussagestark wie ein ganzer Roman über geschlossene Anstalten, wie ihn Ken Kesey mit Einer flog übers Kuckucksnest geschrieben hat:

Die niedrigen Bauten der Anstalt
sind im Dunkel ausgestellt
wie gleißende Fernsehschirme.

Eine versteckte Stimmgabel hier
in der großen Kälte
sendet ihren Ton aus.

Der vorsichtige Universalismus Tranströmers nimmt alle Stimmen auf, die ohne “lärm und ein groß getös” auskommen. Wobei Leises und Kleines groß ausatmen können, sich Raum und Weite verschaffen dürfen.

Der liebste Standort Tranströmers ist der Raum zwischen Wildnis und Zivilisation. Er steht am Rand, ist Außenseiter, blickt in beide Welten und gibt Auskunft. Titel einiger seiner Gedichte heißen: Randgebiet; Nachtdienst; Am Radius entlang; Die Übergangsstelle; Der Bahnhof; Offene und geschlossene Räume. Im Randgebiet der Arbeit kommt die Sehnsucht nach dem ‚Zwischenort’ schon in der ersten Strophe zum Ausdruck:

Mitten unter der Arbeit
beginnen wir uns wild nach wildem Grün zu sehnen,
nach der Wildnis selbst, nur durchdrungen
von der dünnen Zivilisation der Telefondrähte.

Auch die Titel der Bücher weisen auf diesen Ort hin: Der wilde Marktplatz; Der Mond und die Eiszeit; Für Lebende und Tote.

Einer der schönsten Texte von Tomas Tranströmer in lyrischer Prosa heißt Leberblümchen, er steht in Der wilde Marktplatz. Eine unscheinbare blau-violette Blume liebt es, genau an diesem Ort zwischen Wildnis und Kulturlandschaft zu siedeln, fern des Auges der Menschen, nah des Auges der Dichter:

Sich verzaubern lassen – nichts ist einfacher. Einer der ältesten Tricks des Erdbodens und des Frühlings: die Leberblümchen. …Sie schießen aus dem braunen Vorjahrsgeraschel…, wo der Blick sonst nie verweilt. Sie brennen und schweben… und das liegt an der Farbe. Diese eifrige violettblaue Farbe wiegt derzeit nichts. Hier ist Ekstase, aber kleingehalten. „Karriere” – belanglos! “Macht” und “Publizität” – lachhaft! In Ninive oben richten sie ja einen großen Empfang aus… Statt einer solchen prunkvollen und lärmenden Sackgasse eröffnen die Leberblümchen einen Geheimgang zu dem wahren Fest, das ist totenstill.

Dieser Text wurde 1992 in München bei der Verleihung des Horst-Bienek-Preises an Tomas Tranströmer gelesen – leider von einem Schauspieler, der ihn aufblähte, als handele es sich um eine große feuerrote Chrysantheme. Tranströmer saß mit seiner Frau in der ersten Reihe und hörte lächelnd zu, die Sprache war ihm etwas fremd, die Ehrung lieb. Gezeichnet vom Schlaganfall, konnte er kaum auf die Bühne gehen, Hände nicht schütteln, nicht sprechen. Seine Frau versuchte, wie sie es bis heute tut, das Fehlende zu ergänzen, so dass man sich die beiden auch bei der literarischen Arbeit als unzertrennlich vorstellen darf.