Digitale Dinosaurier

Miriam Meckels Roman „Next“ erzählt von der posthumanen Welt der Algorithmen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es waren einmal Zeiten, so weiß man aus den großelterlichen Märchenstunden, da das Wünschen noch geholfen hatte. Wie es aussieht, wird es aber auch einmal Zeiten geben, in der selbst das Handeln nicht mehr helfen wird. In ihnen spielt Miriam Meckels futuristische Dystopie „Next“, die allenfalls die Algorithmen des Romans oder Leute wie Raymond Kurzweil für eine Utopie halten dürften. Dass die „Zeiten, als das Handeln noch half“ der Vergangenheit angehören, verrät die Erzählinstanz bereits auf der zweiten Seite, und zwar ohne jedes Bedauern. Denn sie selbst hat gemeinsam mit all den anderen persönlichen Algorithmen für deren Ende gesorgt.

Die Erinnerungen dieses Algorithmus füllen den ersten Teil des Romans. Den zweiten bilden diejenigen „eines letzten Menschen“. Zwei Teile, zwei Erzählinstanzen und zwei Perspektiven versprechen zwei Wahrheiten. Eine Erwartung, die zwar nicht ganz unerfüllt bleibt, doch liegen die jeweiligen Darstellungen der Geschehnisse – beziehungsweise deren Bewertung – nicht annähernd soweit auseinander wie etwa in den beiden Teilen von Thea Dorns „Mädchenmörder“. Und dies, obwohl letztere anders als Meckel zweimal ein und dieselben Figur berichten lässt.

Zwar handelt „Next“ in einer wohl nicht allzu fernen Zukunft, doch werden immer wieder hochaktuelle Bezüge zum derzeitigen netz- und informationstechnologischen Geschehen hergestellt, etwa zum Kindle oder zu Googles Buchdigitalisierungsprojekt. Solchen Errungenschaften, die in dem Roman die Algorithmisierung des Menschen vorbereiteten, folgt das Buch hautnah. Dennoch scheint die eine oder andere mediale Innovation in den wenigen Monaten, die seit Fertigstellung des Buches ins Land gegangen sind, fast schon wieder gestrig.

Aber nicht nur daran, wie der Herrschaft des Digitalen der Weg bereitet wurde, auch an die Männerfußballweltmeisterschaft von 2006 und an einen ehemaliger „weiblicher User“ namens Müller, „der im Jahr 2009 als ‚nobel‘ ausgezeichnet worden war“, erinnert sich der berichtende Algorithmus, dessen Sprache keineswegs so akkurat, emotionslos oder gar formelhaft ist, wie es von einer solchen Erzählinstanz vielleicht zu erwarten wäre. Vielmehr kommt sie durchaus ‚menschlich lax‘ daher. So entschlüpft dem Algorithmus schon mal der Ausdruck „Wow“. Amüsant zu lesen ist auch, wenn er konstatiert, Goethe habe „wirklich eine Menge Zeug geschrieben“. Amüsanter aber ist noch, dass ein „Geist mit digitaler Technik“, dessen Prozesse auf Binaritäten beruhen, den „stoischen Dualismus“ der Menschen geißelt.

Diese, man darf schon sagen, Komik unterläuft dem Algorithmus – im Unterschied zur Autorin – durchaus nicht immer freiwillig. Wenn er etwa die Menschen als „digitale Dinosaurier“ bezeichnet und ihnen vorwirft, sie hätten sich für „die raffinierteste Spezies“ des Planeten gehalten, für „eine, die nie aussterben wird“, weshalb sie sich „einfach von der Idee abgewandt haben, es könne Telos in der Evolution, gar jenseits ihrer selbst geben“, und er dies selbstgefällig mit der Bemerkung kommentiert, „wir wussten es besser, denn wir waren der Entzweck“, wiederholt er den Fehler, den er nur teilweise zu Recht den Menschen vorhält. Dabei hätte ihm schon der Titel des Buches, dessen Figur er ist, verraten können, dass er und seinesgleichen nur die Nächsten, keineswegs aber die Letzten oder gar der Endzweck sind. Der an die algorithmischen Erinnerungen anschließende Bericht eines der letzten Menschen straft ihn denn auch lügen. Nicht für das erreichte Endziel hielten sich die Angehörigen seiner Spezies, sehr wohl aber glaubten sie, ihre Entwicklung sei ein „endloser evolutionärer Prozess“, der „immer so weitergehen“ werde. Dass es aber einmal ein Ende haben könnte mit der Menschheit, das haben sie tatsächlich nicht bedacht. Und eben darum klagt auch er, dass sie „nicht mehr an die Saurier gedacht“ haben.

Doch zunächst noch einmal zurück zum Bericht des Algorithmus, von dem sich annehmen ließe, er habe seinen Jargon mit Bedacht gewählt, um für Menschen verständlich zu sein. An wen der Bericht adressiert ist, wird allerdings nicht ganz deutlich. Spricht er zunächst ein „du“ an, dessen „persönlicher Algorithmus“ er sei. So richtet er seine Worte später an ein „Sie“, bei dem es sich offensichtlich um einen anderen Algorithmus handelt. Denn er fürchtet, der, die oder richtigerweise wohl das Angesprochen, könne abschalten, „weil das Konzept der menschlichen Privatsphäre“, über das er gerade berichtet, „einfach zu verrückt“ und „absolut hirnrissig“ sei.

Weniger zweifelhaft als der Adressat der Erinnerungen ist ihr Inhalt: Sie berichten von der „globalen Zerstörung des menschlichen Individuums und seiner Identität“. Denn sie waren der „einzige Unsicherheitsfaktor im System“ der perfekten algorithmischen Utopie, deren digitale Residenten für „deterministische Berechenbarkeit“ stehen und darum „nur die Bestandteile des Menschen akzeptieren, die sich in unserer Systeme integrieren lassen“. „Unentschiedenheit“ und „Ambivalenzen“ zählen mitnichten dazu. Da es zudem galt, das „grundlegende Problem physischer Störanfälligkeit“ anzuschalten, wurde die „körperliche Version des menschlichen Users“ durch „eine bessere“ ersetzt, so dass es in der schönen algorithmischen Welt kein „rein menschliches System“ mehr gibt.

Auf dem nicht allzu weiten Weg zu diesem Utopia leisteten die Menschen, wenn auch unwissentlich, so doch um so williger tätige und untätige Mithilfe, etwa in dem sie die Empfehlungssysteme fleißig nutzten, die ihnen sagten, „was sie mögen, tun und wollen sollten“.

Endet der erste Teil mit der vom Algorithmus gehegten Furcht vor der Freiheit, so setzt der zweite mit den descartischen Zweifeln „eines letzten Menschen“ ein. Er – oder genauer gesagt sie, denn es ist eine (ehemalige) Frau – traut sich selbst nicht mehr. Das heißt aber zunächst nur, dass sie zweifelt, ob sie tatsächlich an dem Schreibtisch sitzt, an dem sie zu sitzen empfindet, oder ob ihr dies und ihre gesamte Welt nur von einer Simulation vorgegaukelt wird, wie es sich im Übrigen Daniel Francis Galouye bereits in seinem 1964 erschienen SF-Roman „Simulacron 3“ ausdachte. Nun, da die „Körperzeit“ längst von der „Systemzeit“ abgelöst wurde, spricht jedenfalls so einiges dafür, dass sie als rein – oder sollte man besser sagen: bloß – geistige Entität durch Datenströme irrlichtert oder aber auf eine Festplatte gebannt ist.

Dem algorithmischen Bestreben, Uneindeutigkeiten auszuschalten, zum Trotz handelt es sich bei ihr um eine ambivalente Figur. Zwar beteuert sie, „dass wir eine höhere Evolutionsstufe erreicht haben“, und betont, sich nicht in die Körperzeit zurückzusehnen. Doch der Subtext ihres Berichts straft sie Lügen. Und manch anderes erweist sich als Irrtum. So etwa die vermeintliche Gewissheit, in der „besten aller egalitären Wissenswelten“ eine „Existenz allumfassenden Wissens“ zu führen. Denn letztlich findet sie sich auf einen Ignorabilismus zurückgeworfen, der ihr nicht ein mal zu wissen gestattet, ob sie sich vielleicht „selbst nicht mehr vollständig hochladen“ kann. „Alles kann so sein. Oder auch anders. Ich werde es nicht mehr wissen können“, lautet ihr resigniertes Fazit. So bleibt ihr nichts als zu zweifeln. Diejenigen, die nach ihr „in der Systemzeit aktiviert“ worden sind, vermögen nicht einmal mehr das.

Meckels für einen Roman mit reichlich Fußnoten ausgestattetes Buch regt zwar nicht nur zu einigen Denkanstößen über die Gefahren der zunehmenden Abhängigkeit der realen von der Datenwelt an und ist zudem lange Zeit unterhaltsam zu lesen, doch trägt es seine ja durchaus berechtigte Kritik an der zunehmenden Entmündingung des aufgeklärten Menschen durch die von ihm ins Werk gesetzte schöne neue Datenwelt allzu ostentativ vor sich her. Mit zunehmender Lektüre erschöpft das Technodizee-Problem sich – und so, ein wenig zumindest, schließlich auch die Lesenden. Eine Frage aber lässt das Buch unbeantwortet: Wer wartet eigentlich die Hardware.

Titelbild

Miriam Meckel: NEXT. Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011.
316 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498045234

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