Es kann keine Lösungen mehr geben

Gilbert Keith Chesterton begeistert noch heute mit seinem „Mann, der zu viel wusste“

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

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England ist ein geheimnisvolles Land, bodenlos, mystisch, schaurig. Voller Brunnen, die kein Ende haben, und Löchern in den Mauern. Mit Prinzen, die sich unsichtbar machen können, skurrilen Kostümfesten, bei denen Menschen umkommen, und Statuen, die sich rächen. Und einem Mann, der zu viel weiß.

Horne Fisher weiß wirklich zu viel. Verwandtschaftlich ist er mit den oberen Zehntausend verbandelt, mit den Spitzen der englischen Politik vor dem Weltkrieg. „Seine Vettern und sonstigen Verwandten verzweigten sich wie ein Labyrinth über die herrschende Klasse Großbritanniens.“ Mit allen versteht er sich gut, mehr oder weniger. „So plauderte er mit dem Kriegsminister über Seidenwürmer, mit dem Bildungsminister über Kriminalromane, mit dem Arbeitsminister über Limoges-Email und mit dem Minister für Missionswesen und moralischen Fortschritt (falls so der korrekte Name lautet) über die ‚pantomime boys‘ in den Weihnachtsaufführungen der letzten vier Jahrzehnte. Und da es sich bei dem Erstgenannten um seinen Cousin ersten Grades, beim Zweiten um seinen Cousin zweiten Grades, dem Dritten um seinen Schwager und dem Vierten um seinen angeheirateten Onkel handelt,“ kennt auch Fisher alle upper-class-Geheimnisse, alle Verwicklungen und Verstrickungen.

Andererseits ist er ein krasser Außenseiter, denn er kümmert sich nicht um seinen eigenen Aufstieg, um Macht, um Politik, dazu ist er viel zu resigniert: „Er nahm den Premierminister so hin, wie er die Eisenbahn hinnahm – als Teil eines Systems, das zu revolutionieren zumindest er nicht auf die Erde geschickt worden war.“

Dabei wäre es dringend nötig gewesen, denn nicht mal ansatzweise ist in den Kurzgeschichten von Gilbert Keith Chesterton, der von diesem „Mann, der zu viel wusste“ erzählt, etwas von Moral zu spüren: Sie alle sind korrupt, sie alle interessiert nur ihre eigenes Wohlergehen, sie alle sind zutiefst menschenfeindlich: Sie morden und stehlen, wie es ihnen in den Sinn kommt, und wissen genau, dass man ihnen nichts anhaben kann. Schließlich sind sie die Regierung.

Selbst Horne Fisher, ein Detektiv, wie er nur in den Büchern von Doyle, Christie oder eben Chesterton vorkommt, einer, der aus den Haarspitzen eines Zeugen seine ganze Lebensgeschichte herauslesen kann, selbst er ist in diesem Fall hilflos. Denn er weiß: Wenn er diese Mörder entlarvt, wenn er seine Erkenntnisse öffentlich macht, bricht das ganze Empire zusammen. Oder jedenfalls meint er das. Also schweigt er lieber und sieht dabei zu, wie das ganz Empire immer mehr versumpft und verludert.

Chesterton, einer der scharfsinnigsten Denker seiner Zeit, hat nicht nur „Father Brown“ erfunden, eine milde, wenn auch stimmige Parodie auf den allwissenden Sherlock Holmes, sondern auch den zynischen Horne Fisher. Die acht jetzt neu und erstmals komplett übersetzten Stories beginnen dabei alle wie klassische Kriminalgeschichten: Harold March, ein sozialkritischer Journalist, will den englischen Finanzminister interviewen, trifft den etwas trägen, nachdenklichen Horne Fisher an einem Bach, und dann saust ein Auto einen Abhang hinunter. Sie finden einen toten Mann, der allerdings schon tot war, als das Auto verunglückte. Nur wenige Beobachtungen und Nachfragen genügen Fisher, den Mord aufzuklären. „Die Polizei hat bewiesen, dass es ein Unfall war“, sagt er am Schluss spöttisch. Aber dann überzeugt er den Journalisten, zu schweigen: „Würde ich Hoggs oder Halkett eröffnen, der alte Jink sei ein Mörder, würden sie sich vor meinen Augen halb totlachen. […] Sie brauchen den alten Jink, er ist ihnen unentbehrlich.“

Und so wird geschwiegen und vertuscht, wie man es in einem Kriminalroman nicht erwarten würde. Und tatsächlich ist diese Sammlung von acht Geschichten, nicht nur ein Abgesang auf eine politische Klasse, die das Empire aufgebaut hat und sich jetzt nur noch um sich selbst kümmert. Es ist auch eine bittere Parodie auf den klassischen Kriminalroman à la Christie, der ja dadurch seine Berechtigung hat, dass er die gestörte Ordnung wieder herstellt. Sogar schön kompliziert durfte es sein, wie bei Chesterton auch: orientalische Gifte, nächtliche Schreie, tödliche Unfälle mit dem Schlittschuh – alles ist möglich in dieser künstlichen Welt.

Aber hier bei Chesterton gibt es keine richtigen Lösungen für die Gesellschaft, keine wiederhergestellte Ordnung. Es ist alles bodenlos wie der Brunnen der einen Erzählung, neben dem der alte Lord Hastings, der eine „attraktive, manchmal gefährlich attraktive“, jüngere Frau hat, tot gefunden wird. Es kann auch keine Lösungen geben, denn das ganze Leben ist eine gestörte Ordnung. Schon 1922 hatte also der klassische Kriminalroman, der noch heute zusammengesponnen wird, verloren. Es wurde Zeit für neue. Und sie kamen dann auch. Detektive, die sich um die herrschende Moral des Schweigenmüssens, um der Staatsräson willen, nicht mehr scheren. Die einzige Haltung, die die hard-boiled-Detektive noch haben, ist die eines menschenfreundlichen Zynismus. Wie Horne Fisher. Nur dass sie nicht mehr schweigen.

Titelbild

Gilbert Keith Chesterton: Der Mann, der zu viel wusste. Kriminalgeschichten.
Übersetzt aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann.
Manesse Verlag, Zürich 2011.
352 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783717522287

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