Dreimal Eros
Jens Hobus, Carsten Rohde und Karin Tebben aktualisieren den Diskurs über die Liebe in der Literatur
Von Franz Siepe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn Hegels „Vorlesungen über die Ästhetik“ gibt es einen schönen Abschnitt, der mit „Zufälligkeit der Liebe“ überschrieben ist und in dem es um die Antithetik zweier Rechtsansprüche geht: um die Legitimität der normsetzenden Ordnungsmächte einerseits und um die der „Halsstarrigkeit der Partikularität“ andererseits: „In der Familie, der Ehe, der Pflicht, dem Staat ist die subjektive Empfindung als solche und die aus derselben herfließende Vereinigung gerade mit diesem und keinem anderen Individuum nicht die Hauptsache, um welche es sich handeln darf. In der romantischen Liebe aber dreht sich alles nur darum, daß dieser gerade diese, diese diesen liebt. Warum es just nur dieser oder diese einzelne ist, das findet seinen einzigen Grund in der subjektiven Partikularität, in dem Zufall der Willkür.“
Man mag über Hegel urteilen, wie man mag, doch den die Liebesliteratur des bürgerlichen Zeitalters determinierenden Kernkonflikt trifft er hier gewiss: Den überindividuellen soziopolitischen Mächten muss der anarchische Liebesabsolutismus der einzelnen Frau und des einzelnen Mannes notwendigerweise als einzudämmendes Subversionsreservoir erscheinen; und umgekehrt stellen sich dem offenbar unabschaffbaren Drang zweier Einzelner, sich mit Leib und Leben dem Leib und Leben der/des Geliebten ad libitum frei zu vereinigen, die einschränkungsgebietenden Institutionen der Gesellschaft und des Staates dar als Kerker des Körpers, des Geistes und der Seele.
Der Karlsruher Literaturwissenschaftler Carsten Rohde folgt in seiner Habilitationsschrift „Kontingenz der Herzen“ der in der europäischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts ausgebreiteten Idee, derzufolge sich die Liebe zwischen Frau und Mann wesentlich als ein Insistieren auf die sperrige Logik des nicht Ordnungsgemäßen, des Unvorhergesehenen, also objektiv nicht Notwendigen artikuliert. Rohde schreibt: „These der vorliegenden Studie ist nun, dass all die kontingenzabblockenden Sicherungssysteme, die in der Vormoderne im Koordinatensystem Liebe für Sinnhaftigkeit gesorgt haben, in der Moderne zusammenbrechen. Mit Figuren und Romanen wie Werther beginnt das, was dann im 19. Jahrhundert voll durchschlägt und besonders in Werken französischer Romanciers (Stendhal, Honoré de Balzac, Gustave Flaubert) seinen Höhepunkt erreicht: die radikale Kontingenz der Herzen, in sinnlich-erotischer wie in geistig-seelischer Hinsicht.“
Ob nun die Hegel’sche „Zufälligkeit der Liebe“ oder die Rohde’sche „Kontingenz der Herzen“ – entscheidend ist, dass die Liebesromane des europäischen „Realismus“ die Autonomie-, Glücks- und Liebeswünsche der Individuen in Kollision geraten lassen mit den Imperativen der hegemonialen Ordnung, die aber nun – modern – ihrerseits unter Legitimationsdruck und somit unter permanentem Kontingenzverdacht steht. Gemäß der Einsicht Rohdes lassen sich im Hinblick auf die literarischen Liebesgeschichten des 19. Jahrhunderts drei Varianten der Bewältigung der Kontingenztatsache unterscheiden:
1. „Der nihilistische Weg“: Als hierfür exemplarisch interpretiert Rohde das Werk Gustave Flauberts, erkennt aber diesen kühlen Habitus ebenso bei anderen Romanciers wie Stendhal, Guy de Maupassant oder Anton Pawlowitsch Tschechow. Diese Strömung tendiert dahin, die Kontingenz der Herzen in ihrer verwundbaren Zartheit radikal desillusionierend bloßzulegen, und gelangt zu dem antiromantizistischen Resümee: „Es ist nichts mit der Liebe.“
2. „Der utopistische Weg“: Hier liefert die Romanwelt Lew N. Tolstois das Paradigma. Verwandte Intentionen findet Rohde unter anderem bei Richard Wagner und – bemerkenswerterweise – in der Philosophie Arthur Schopenhauers. Der Leitgedanke postuliert kontrafaktisch: „Die empirische Negativität ändert nichts an der Gültigkeit einer Metaphysik der Liebe, in welcher Liebe als Regulativ das menschliche Miteinander leitet und beeinflusst. Daran gilt es zu glauben, daran müssen wir festhalten, wenn diese Welt nicht vor die Hunde gehen soll.“
3. „Der liberal-humanistische Weg“: In herausragender Weise steht Theodor Fontane für diese Option. Während der Nihilismus und der Utopismus der Liebe in ihrer jeweils extremen Zuspitzung des Problems „wenig zu tun haben mit all den Kompromissen und Halbheiten, mit denen man im Alltag der Liebe konfrontiert ist“, lebt dieser Liebeshumanismus als das Gegenteil von dogmatischer Prinzipienreiterei von der ebenso demuts- wie humorvollen Einsicht in die „Fragilität des Daseins, [die] Unvollkommenheit des eigenen Standpunkts und münde[t] schlussendlich in ein Ethos der Vergebung, durch welche die Helden von ihrer Schuld wenigstens teilweise entlastet werden“.
So also sieht das hermeneutische Rüstzeug Rohdes in der Hauptsache aus. Ins Visier seiner Deutungskunst geraten jedoch nicht nur die kardinalen Liebesromane Flauberts („Madame Bovary“), Tolstois („Anna Karenina“) und Fontanes („Effi Briest“), die ja als die schlechthinnigen Geschichten untreuer, weil unglücklicher Ehefrauen thematisch eng beieinanderliegen; auch andere Werke dieser Autoren betrachtet Rohde mit immer gescheiten und freundlichen Augen. Hinzu gesellen sich einige Interpretationen von Texten weiterer Literaten des 19. Jahrhunderts (zum Beispiel Charles Dickens und Gottfried Keller). Eine besondere Zuneigung scheint Rohde zu Adalbert Stifter zu hegen, dessen Erzählung „Der Hochwald“ er auch das seiner Studie vorangestellte Motto entnommen hat: „Seltsam ist der Mensch und seltsamer sein Herz.“ Wie wahr!
Seltsam ist ebenfalls, dass Rohde die französischen Schriftsteller nicht (auch) deutsch zitiert. Zum Glück kann er kein Russisch, sodass sein Tolstoi-Kapitel wieder durchgängig in seiner und unserer Sprache zu lesen ist.
Ihren Kulminationspunkt erreicht die Studie mit ihrem Schlusskapitel „Fontane: Kontingenz als ‚Knacks‘. Mit „Knacks“ ist darin auch ein Abschnitt überschrieben, der die einschlägige liberal-programmatische Äußerung Theodor Fontanes in Erinnerung ruft: „Der natürliche Mensch will leben, will weder fromm noch keusch noch sittlich sein, lauter Kunstprodukte von einem gewissen, aber immer zweifelhaft bleibenden Wert, weil es an Echtheit und Natürlichkeit fehlt. Dies Natürliche hat es mir seit lange angetan, ich lege nur darauf Gewicht, fühle mich nur dadurch angezogen, und dies ist wohl der Grund, warum meine Frauengestalten alle einen Knacks weghaben. Gerade dadurch sind sie mir lieb, ich verliebe mich in sie, nicht um ihrer Tugenden, sondern um ihrer Menschlichkeiten, d. h. um ihrer Schwächen und Sünden willen.“
Andererseits – auch Großschriftsteller können seltsam sein – hatte Fontane eine ordentliche Aversion gegen den absoluten Herrschaftsanspruch der freien, von allem losgelösten „Herzensliebe“. Carsten Rohde quittiert diese – völlig unmoderne – Position mit geradezu Fontane’scher Gelassenheit und zitiert eher beifällig als abwehrend: „Unsere Zustände sind ein historisch Gewordenes, die wir als solche zu respektieren haben. Man modle sie, wo sie der Modlung bedürfen, aber man stülpe sie nicht um. Die größte aller Revolutionen würde es sein, wenn die Welt, wie Ibsens Evangelium es predigt, übereinkäme, an Stelle der alten, nur scheinbar prosaischen Ordnungsmächte die freie Herzensbestimmung zu setzen. Das wäre der Anfang vom Ende. Denn so groß und stark das menschliche Herz ist, eins ist noch größer: seine Gebrechlichkeit und seine wetterwendische Schwäche.“
Angesichts dessen also, dass im Liebesweltbild Fontanes die individuellen Herzen allezeit und prinzipiell mit „der Gesellschaft“ im Streit liegen; – wer wollte soweit gehen zu bestreiten, dass es nicht die Liebe ist, welche die sich suchenden, sich findenden und – je nach Ausgang – später unter der Last auch zerbrechenden Paare zueinanderführt und aneinander bindet? Karin Tebben geht tatsächlich in ihrem Buch „Von der Unsterblichkeit des Eros und den Wirklichkeiten der Liebe“ soweit, indem sie Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ kurzerhand abspricht, überhaupt von Liebe zu handeln. Der Roman wird, so Tebben, „fälschlich als Liebesroman rezipiert“; in Wahrheit „offenbart [er] eine radikale Entzauberung der Liebe, sie ist nur noch Illusion im Dienste eines narzisstischen Selbst“.
Zu diesem Urteil kommt die arrivierte Heidelberger Germanistin freilich infolge einer „Irrungen,Wirrungen“-Lektüre, die weitab vom herkömmlichen Verständnis des Romans angesiedelt ist. Die Schlüsselszene in „Hankels Ablage“ etwa liest sie völlig gegen den Strich, indem sie in Lene „Schlafbedürfnis“ (statt Vereinigungsbedürfnis) vermutet. Oder wenn sie schreibt, Botho sei „ohne weiteres […] bereit, Lene in Gegenwart seiner Freunde die Rolle der Maitresse zuzuweisen“, so ist das nicht richtig, weil ohne Einsicht und Einfühlung in die Situation gesagt.
Ich habe es mir hier zu versagen, Tebbens Buch, das von der inhaltlichen und chronologischen Dimension des Untersuchungsfeldes her einige Gemeinsamkeiten mit der Studie Rohdes aufweist, ausführlicher zu würdigen. Sicherlich, wer Material zu der Frage nach Leben und Weben der Liebe in der deutschsprachigen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts sucht, wird reichlich bedient wie auch derjenige, der an epochenspezifischen Differenzierungen („empirischer“ versus „poetischer“ und „subjektiver“ Realismus) interessiert ist. In vielen, vielen Einzelanalysen wird der Grundgedanke verfolgt, dass den diversen Phasen und Ausprägungsformen „realistischen“ Erzählens eigene Eros-Konzeptionen beziehungsweise -Diskurse korrespondieren.
Jedoch blieb mir auf weiten Strecken der eigentliche Sinn des von Tebben Beabsichtigten verschlossen. Möglicherweise liegt das daran, dass eine Systematik des Ganzen nur schwer auszumachen war. Für das Verstehen hinderlich sind dann aber auch sachliche Ungenauigkeiten (Jahresangaben), eine nicht immer verlässliche Zitierweise, ein Fußnotenmanagement, das soviel Orientierung schafft wie ein Schwarm von Nebelkerzen, und manche sprachliche Absonderlichkeit (z. B. „Diktum“ statt „Diktat“). Wer kann erklären, was es bedeutet, wenn es über Fontane heißt, er „jongliert mit knapper Börse“? Es ist hier wie so oft: Ein geduldiges, sachkundiges Lektorat hätte wahrscheinlich aus einem heiklen ein gediegenes Buch machen können.
Gleichviel, hier soll es sich ein wenig weiter um Liebe drehen. Mit Jens Hobus’ voluminöser Untersuchung zu „Figurationen der Liebe im Werk Robert Walsers“ sind wir zeitlich in etwa am Ende der Periode angelangt, der Karin Tebben und Carsten Rohde sich zugewandt hatten.
Ein Jahr nach der Jahrhundertwende, 1901, erschien in der Zeitschrift „Die Insel“ das „Schneewittchen“-Dramolett des damals dreiundzwanzigjährigen Schweizer Dichters Robert Walser, in dem Schneewittchen spricht:
„[…] Ich bin so müd,
und gern läg’ ich im offnen Sarg
als ein empfindungsloses Bild.
Wär’ ich bei meinen Zwergen doch,
dort hätt’ ich Ruh’ und Ihr vor mir.
[…]
Nie spürt’ ich dort ein rauhes Wort,
nie trübte Haß die Lieb’. Ob Lieb’
da war, das weiß ich wahrlich nicht.
Haß macht die Liebe spürbar erst.
Dort wußt’ ich nicht, was Liebe war.
Hier weiß ich’s, da nur Hassen hier.
Mich sehnend nach der Liebe, ist
Lieb’ mir bewußt; bewegt durch Haß,
sehnt Seele sich nach Liebe hin.
Dort bei den Zwergen wohnte sie
in ungetrübter Heiterkeit.
Nichts mehr davon. Es ist dahin.“
Während uns also das traurige Schneewittchen vor den weinenden Augen ersteht und wir uns fragen dürfen, wo Liebespoesie dieser höchsten Art wohl schon einmal zu lesen war (bei Sappho? William Shakespeare? Eduard Mörike? Bertolt Brecht?), meint Jens Hobus: „In dieser Szene zeigt sich, wie Liebe als Differenzphänomen funktioniert.“ Zugestanden, so lässt es sich womöglich auch ausdrücken.
Mit seiner Dissertation ist Jens Hobus keineswegs der erste, der sich dem Werk Robert Walsers mit dem Instrumentarium der poststrukturalistisch-semiotischen Methode nähert. Das ist kein Zufall. Denn ein unverkennbares Merkmal der Walser’schen Texte: die prinzipielle Infragestellung der Verlässlichkeit des jeweils Mitgeteilten, ließ diesen Dichter zu einem Favoriten deutschsprachiger Dekonstruktivisten avancieren. Schon 1978 war Hans H. Hiebels Aufsatz „Robert Walsers ‚Jakob von Gunten‘. Die Zerstörung der Signifikanz im modernen Roman“ erschienen, in dem Jacques Lacan, Gilles Deleuze / Félix Guattari, Jacques Derrida und natürlich Michel Foucault als die geistesgroßen Autoritäten im Hintergrund der Textdeutung standen.
Dieser Tradition steht Jens Hobus nicht fern. Dennoch: Falls man sich von den mancherorts auch heute noch obligaten Jargonwörtern (es wimmelt vom „Begehren“, von „Signifikanten“, vom „Imaginären“, von „Reflexivität“, „Selbstbezüglichkeit“, „Intertextualität“ und so weiter) nicht ermüden lässt, wird man zu manchen Stationen des Walser’schen Œuvres so geführt, dass man am Ende doch garantiert etwas einsichtsvoller ist als zuvor. Zumindest ist die Lust gewachsen, endlich (wieder) einmal Robert Walser selber zu lesen, weil die Diskrepanz zwischen den nüchternen Paraphrasen und Analysen des Literaturwissenschaftlers einerseits und der intrikaten Schönheit der Texte Walsers andererseits offenbar wird.
Hobus’ interpretationsleitender Gedanke ist der, dass der Liebe und der Literatur (Walsers) ein wesentliches Moment gemeinsam ist: die mitunter endlose Hinauszögerung der Erfüllung, mithin das Umgehen und das „Umschreiben“. So notiert Hobus zum „Räuber“-Roman, einem der von ihm am intensivsten untersuchten Walser-Texte: „Auf der narrativen Ebene […] werden Strukturen geschaffen, die bestimmend für die Sinnkonstitution des Romans sind: Aufschub, Wiederholung, Abschweifung, Auslassung, Unbestimmtheit, Paradoxierung, dialektische Verschiebung und Ironie sind zentrale Verfahren von Walsers Poetik und haben eine Komplexitätssteigerung des Erzählens und des Erzählten zur Folge. Ebenso zeichnen sich die Begehrensstrukturen durch Verschiebung, Ersetzung und Zirkulation aus. So ist z. B. der Aufschub nicht nur ein erzähltechnischer Kunstgriff, sondern er ist auch auf der Ebene der Liebessemantik prägend.“ Am Ende bringt es Hobus so auf den Punkt: „Walsers Texte sind permanente Reflexionen über ihre eigenen Verfahren, wenn sie über Liebe sprechen. Diese Selbstbezüglichkeit wird den Texten zur Basis, von der aus sie sich bewegen und die sie gleichzeitig darstellen. Die Figurationen der Liebe basieren auf einer Poetik der Umschreibung und bringen diese gleichzeitig mit hervor.“
Die Gemeinsamkeit von Liebe und Literatur ließe sich mit zwei prominenten biblischen Dikta in der notorischen Konstanz sehen: Nach Paulus hört die Liebe nimmer auf, und gemäß dem Prediger Salomo ist des Büchermachens kein Ende. Jens Hobus, Carsten Rohde und Karin Tebben bestätigen dies auf je eigene Weise.
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