„Hinten liegen verbrannte Träume“

Zum Debütroman „Der Mond ist unsere Sonne“ von Nuran David Calis

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das im Titel dieser Rezension exponierte Zitat ist dem Gedicht entnommen, das Marcel aus dem Gefängnis an seinen Freund und den Ich-Erzähler des Romans schickt. So endet der Roman, der die Geschichte von drei Jugendlichen, die in einem sozialen Brennpunkt wohnen und sich „in den Abgrund reite[n]“, erzählt. Hier setzt Nuran David Calis ein und schickt seinen Ich-Erzähler auf eine Reise, „eine Reise zurück“. Aus dieser Perspektive konzipiert der Autor seinen Erzählfluss.

Nach der Eskalation des Konflikts zwischen den Jugendlichen und Drogenhändlern – diese endet im zweifachen Mord, den Marcel vor dem Gericht als Einzeltäter gesteht, um seinen Freund Alen zu schützen, – ändert sich das ganze Leben des Protagonisten. Alens Freundin Flo geht nach München, und er bleibt alleine zurück. „Sie wollte vergessen, wer sie ist, und ich wollte wissen, wer ich bin. Deshalb mussten sich unsere Wege trennen.“

Sein Cousin Karim, auf den aufzupassen er seiner Oma an ihrem Sterbebett versprochen hatte, ist schwer verletzt. Sein Freund Marcel nimmt die ganze Schuld auf sich, während Alen vom Tatort fliehen konnte. Nach einer schlaflosen und zermürbenden Nacht ruft Alen seinen Onkel an und reist mit ihm in die Heimat seiner Eltern, in ein Länderdreieck im Kaukasus, um die Asche seines verstorbenen Vaters dort zu verstreuen und den Schatz aus goldenen Münzen seines Urgroßvaters zu finden. Ob das Letztere ihm gelingt, wird dem Leser nicht verraten. Dafür begleitet er Alen durch Baumheide und wird zum imaginären Augenzeugen der Träume und Albträume, die die Jugendlichen an diesem äußeren Rand Bielefelds erleben.

Nach Que Du Luus Roman „Totalschaden“, der ebenfalls in Bielfeld spielt, scheint Nuran David Calis diese nordwestfälische Stadt endgültig als Topos der Gegenwartsliteratur zu behaupten. Thematisch korrespondiert dieser Erstling Calis’ mit dem 2007 erschienenen Roman „Das Herz der Leopardenkinder“ von Wilfried N’Sonde, der die Identitätskrise afrikanischer Jugendlicher in Pariser Vororten schildert. Die Probleme sind die gleichen: Entwurzelung und Ausgrenzung, Träume und Grenzen, Ausweglosigkeit und Verzweiflung, die in einem Verbrechen, einem Mord enden.

Gekonnt entwirft Calis das Psychosoziogramm seiner Figuren, vor allem des Ich-Erzählers, und lässt ihn im Spiegel seiner Familiengeschichte erscheinen. Seine Erzählstränge spannt der talentierte Autor, dessen Theaterhandschrift in der steigenden Dramatik unübersehbar wird, über mehrere Generationen hinweg. Die Verschränkungen der nationalen und religiösen Zugehörigkeiten sowie politischer Ereignisse werden in kaum einem anderen Werk der interkulturellen Literatur deutlicher als in diesem Roman.

Calis führt neue Schauplätze in die deutsche Literatur ein und schreibt neue, dem deutschen Leser unbekannte Ereignisse in das kollektive Gedächtnis der deutschsprachigen Literatur ein. Dabei erhebt er keinen Anspruch aufzuklären, sondern benennt schlicht die Fakten seiner Familie: „Oma stammte aus einer Familie sephardischer Juden. Sie waren vor 400 Jahren aus Spanien ins osmanische Reich ausgewandert“. Alen hat eine jüdische Mutter und einen armenischen Vater; beide kamen aus Istanbul, wohin sich ihre Eltern, die den Mord an den Armeniern überlebten, vor den Sowjets geflüchtet hatten. Die neuen Herrscher führten im Kaukasus eine neue Ordnung ein: „Die Russen begannen den Kaukasus mit strenger Hand zu führen. Die Religion war verboten und großer Privatbesitz wurde enteignet“. Ausgehend von diesem Hintergrund schildert das erzählerische Ich seine Familiensaga. Die Obhut der Familie kann kaum mit einem stillen Hafen verglichen werden. Ganz im Gegenteil werden patriarchale Züge seines Großvaters, seine mangelnde Toleranz und vor allem ausbleibende Liebe sowie Zerstrittenheit und Unversöhnlichkeit der Geschwister angeprangert. Verschiedene Religionen prallen aneinander und offenbaren eine kaum überbrückbare Kluft, in der die zwischenmenschlichen Beziehungen untergraben werden. Die Familie zerfällt und „jeder stirbt für sich allein“: Alen Vater verfällt dem Alkohol, seine Mutter führt eine Schattenexistenz, sein Onkel setzt auf Eskapismus und Alen selbst ist der Straße überlassen.

Der Roman wird sehr stark von männlichen Figurenkonstellationen dominiert. Von weiblichen Figuren werden neben Flo nur Alens Mutter und Großmutter erwähnt. Beide Figuren sind unbeirrbar darauf bedacht, die Vergangenheit in die Vergessenheit zu verdammen. Dabei ist das Schweigen, das Verschweigen der Familiengeschichte von der Mutter gut gemeint: „Mir zuliebe, meinte sie, wolle sie nichts erzählen. Ich solle nach vorne schauen und nicht zurück.“ An seine Grenzen getrieben erkennt das erzählerische Ich: „Es muss einen geben, der spricht. Es muss einen geben, der Silben, Worte, Sätze findet und dieser Ungerechtigkeit eine Sprache gibt.“ Vermutlich sind diese Sätze programmatisch für den Autor dieses bemerkenswerten Romans, denn es gelang ihm nicht nur die Stimme des verzweifelnden Jugendlichen zu werden, sondern auch seinen Schrei im Schreiben für den Leser spürbar zu machen.

Mit dem Titel „Der Mond ist unsere Sonne“, der mit dem gleichnamigen Song von Jan Delay und Moonbootica korrespondiert, verweist Nuran David Calis auf die musikalische Ebene seines Buches. Es ist ein dramatischer und empfehlenswerter Erstling eines Autors, auf dessen weitere Bücher man gespannt sein kann.

Titelbild

Nuran David Calis: Der Mond ist unsere Sonne. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
206 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783100102362

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