„Es kocht im warmen Dunkel vor sich hin“

Der amerikanische Lyriker Gary Snyder denkt in seinen Essays über „Tiefenökologie“ nach

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Kojote und Backenhörnchen verstoßen nie gegen ihre Abmachung, dass der eine die Rolle des Jägers und der andere die der Beute spielt. In der Wildnis bekommt ein junger Eselhase (lepus californicus) höchstens ein einziges Mal die Möglichkeit, über eine Wiese zu laufen, ohne sich nach oben abzusichern. Eine zweite Chance wird es nicht geben.“

Klare Worte: Die Natur ist nicht mildtätig, sie nimmt keine Rücksicht, und es gibt eine eindeutige Nahrungskette, in der der Kojote oben steht und der Eselhase weiter unten: „Je schärfer das Messer, desto sauberer die Schnittlinie. Wir erkennen die Eleganz der Kräfte, die das Leben und die Welt bestimmen und die jede einzelne Linie unseres Körpers geformt haben – Zähne und Fingernägel, Brustwarzen und Augenbrauen.“

Gary Snyder ist nicht nur einer der wichtigsten lebenden amerikanischen Lyriker und Umweltaktivist, sondern auch Buddhist: „Und wir sehen auch, dass wir ein Leben führen sollten, ohne unnötiges Leid zu verursachen – nicht nur gegenüber unseren Mitmenschen, sondern gegenüber allen Lebewesen. Wir sollten nicht engherzig sein oder andere ausnützen. Es gibt genug Schmerz in der Welt, wie wir sie kennen.“

Scharf greift er allerdings die zerstörerische Weltwirtschaft an und schließt mit den Worten: „Falls unter uns das Kind ist, das weiß, wo sich das Herz dieses Ungeheuers versteckt, bitte lasst es uns berichten, wohinein wir den Pfeil schießen müssen, um dieses Monstrum aufzuhalten.“ In diesen Ausschnitten aus dem ersten Kapitel des neuen Buches von Gary Snyder sind alle Elemente seines Lebens und Werks enthalten: die Einsicht, dass die Natur erbarmungslos und unaufhaltsam ihre Rolle spielt, im Notfall, bis sich die Menschheit von selbst ausgelöscht hat (was die Natur und die Erde nicht weiter stören wird); die Einsicht, dass der Mensch eine einmalige Gelegenheit hat, zur Natur, zur Wildnis seinen Beitrag zu leisten, indem er sich ihr anpasst und gleichzeitig seine große Gabe, das Mitleid, pflegt; die Kenntnis der Mythen der Menschheit.

Am 8. Mai 1930 wurde Snyder, einer der Gründerväter der Beat Generation, in San Francisco geboren und wuchs auf der Farm seiner Eltern nördlich von Seattle auf. Ab 1948 arbeitete er unter anderem als Seemann auf einem Tanker, als Holzfäller und Feuerwehrmann im Nordwesten der USA, studierte Anthropologie und Literatur, Chinesisch und Japanisch und ging ab 1956 immer wieder nach Japan, um in einem Kloster den Zen-Buddhismus zu studieren. Seit 1970 lebt er in Nordkalifornien und lehrt seit 1987 Englische Literatur in Kalifornien, wo er das „Nature and Culture Program“, ein ökologisch-literarisches Programm, ins Leben rief.

„Wildnis“ ist ein sehr vielschichtiger, oft unscharfer Begriff. Snyder geht bei seinen Überlegungen von Amerika aus, von seinem Mythos des freien, wilden Lebens, das jeder Mensch verwirklichen könne, abseits von allen Menschen, in der Einsamkeit. Er versucht, der Wildnis zunächst sprachlich und sprachgeschichtlich auf die Spur zu kommen, versucht, „wild“ und „Wildnis“ gegen „Natur“ abzugrenzen, in einem anderen Essay „wild“ und „heilig“. Erzählt von Alvar Nunez Cabeza de Vaca, einem Conquistador, der „acht Jahre lang nackt zwischen Texas und New Mexico umhergewandert war“ und „als ein Mensch der Neuen Welt verwandelt daraus hervor“ ging. Er denkt über die Wechselwirkung von Essen und Gegessenwerden nach: „Andere Lebewesen – so lehren es uns die Hüter der alten Bräuche – haben nichts dagegen, getötet und als Nahrung verspeist zu werden, aber sie erwarten, dass wir ‚Bitte‘ sagen und ‚Danke‘, und sie hassen es, wenn sie vergeudet werden.“ Ein Gedanke, den Snyder von den Indianern übernommen hat.

Er denkt auch über die Begriffe „Ort“, „Region“ und „Allmende“ nach. Überlegt, was sie für das Leben der Menschen bedeuteten und was es heißt, wenn ihnen diese gemeinschaftlichen Orte der Produktion genommen werden, wie es im Prozess der Zivilisation seit dem 16. Jahrhundert passiert. Seine „bioregionalen Perspektiven“, seine Plädoyers für eine autarke, unabhängige Subsistenzwirtschaft sind wohl die deutlichsten politischen Einlassungen.

Seine Gedanken zum Tanz und zum Singen dagegen sind Aufforderungen, das alte Erbe wieder neu zu entdecken, denn „besonders der Tanz ist eine reguläre Art des Handels gewesen, im Austausch gegen Obst, Getreide oder Wild“, und das „Yoga des Tanzes [...] kann ein Weg der Selbst-Verwirklichung sein“. In diesem Sinn erzählt Snyder auch vom Bären, der eine Menschenfrau heiratete und schließlich sein Leben hingab, dafür aber den Menschen das Lied lehrte, das sie seither bei der Bärenjagd singen müssen. Und vielleicht, so spekuliert Snyder in Übereinstimmung mit vielen indianischen Mythen, lassen sich die Tiere deshalb von uns töten und essen, weil sie dann unsere Gesänge hören können.

Direkt und präzise kritisiert er auch einige Grundannahmen unserer Zivilisation: den nie aufhörenden Fortschritt, die wissenschaftliche Objektivität, die Annahme, dass wir „solitäre Wissende“ sind: „Darin fehlt die echte Anerkennung dessen, dass es die Großeltern, der Ort, die Sprache, Haustiere, Freunde, Geliebte, Kinder, Werkzeug, die erinnerten Gedichte und Lieder sind, mit denen wir denken.“ Für Snyder ist der eingefrorene und wiederentdeckte Bison, der vor 36.000 Jahren in einem Gletscher gestorben ist, „eine Gedichtzeile, die aus einem uralten Manuskript gerettet wurde“. Snyder versucht, den Menschen wieder in die Natur einzugliedern. Für ihn ist er nicht ein herausragendes Ergebnis der Evolution, das sich die Erde untertan machen darf, sondern eher ein Wesen, „größer als ein Wolf, kleiner als ein Elch“.

Mit unterschiedlichen Ansätzen, in Rückgriffen auf die Mythen der Indianer, aber auch auf den Dichter Walt Whitman, den Denker Henry David Thoreau, und auf zen-buddhistische Klassiker wie Meister Dogen stellt er seine Sicht auf die Welt vor, die eine Welt des Ausgleichs und der Gegensätze ist, eine Welt zwischen den Polen, immer wieder über dem Abgrund schwingend. „Das Leben in der Wildnis bedeutet nicht nur in der Sonne sitzen und Beeren essen. Ich sehe es viel eher als eine ‚Tiefenökologie‘, die Zugang zur dunklen Seite der Natur hat – das Gewölle aus zerschlagenen Knochen im Dreck, die Federn im Schnee, die Geschichten von unstillbarem Hunger. [...] Leben sind nicht nur interessante, große Wirbeltiere zur Tageszeit; es ist auch nächtlich, anaerob, kannibalistisch, mikroskopisch klein, digestiv und fermentativ, es kocht im warmen Dunkel vor sich hin.“ Und so ist auch „die andere Seite des ‚Heiligen‘ der Anblick der Geliebten, wie sie unter der Erde, von Maden übersät, verrottet.“

Mit vielen biografischen Erzählungen und einigen Gedichten aus seiner Holzfällerzeit in den 1950er-Jahren durchsetzt, denkt Snyder über Politik und Natur nach, über Poesie und Globalisierung, über Tanz und die Möglichkeit, gefressen zu werden. Es sind wichtige Essays von einem der wichtigsten Denker und Dichter unserer Zeit, der es wie kein zweiter versteht, ein stupendes theoretisches Wissen aus vielen Kulturen mit praktischer Erfahrung und persönlichen Erlebnissen zu verbinden. Und da ist es schon erstaunlich, dass es keine Gesamtausgabe mit den Texten dieses Mannes gibt. Nur kleine, engagierte Verlage wie Stadtlichter Presse oder der Verlag Alta Quito oder eben jetzt Matthes & Seitz versuchen, sein Werk auch für deutsche Leser zu erschließen.

Titelbild

Gary Snyder: Lektionen der Wildnis.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Hanfried Blume.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011.
263 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783882216578

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