„Ein Drang in die Tiefe, der aus der Tiefe kommt“

Heinz-Gerhard Friese weiht seine Kulturgeschichte „Die Ästhetik der Nacht“ der Macht des Dunklen

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir mögen die Welt kennen lernen wie wir wollen, sie wird immer eine Tag- und eine Nachtseite behalten“, sagt Johann Wolfgang Goethe in den „Maximen und Reflexionen“ und benennt so das universelle Prinzip der Polarität von hell und dunkel. Doch hat, so die Ansicht Heinz-Gerhard Frieses, der Hauptstrom der abendländischen Geschichte die archaischen Gestaltungen des Nächtigen, Dunklen und Verborgenen mit dem Licht des Tages überflutet und progressiv verkümmern lassen.

Freilich befindet sich der Autor damit in alter aufklärungskritischer Gesellschaft, möchte aber keineswegs einem wilden Irrationalismus das Wort reden. Inspiriert ist er von der „Ahnung eines Zusammenhangs von innerer und äußerer Nacht“. Und diese Ahnung, so Friese, „treibt vielleicht nicht nur abstruse Esoteriken an, sondern die wissenschaftliche ‚Neugier‘ auf die äußerste Nacht. Es ist ein Drang in die Tiefe, der aus der Tiefe kommt.“

Wissenschaftliche Aspirationen und ahnungsvoller Tiefendrang – wie fügt sich das zusammen? Nicht eben einfach, weshalb dem Leser auf den langen 1.300 Buchseiten auch mitunter einiges an Toleranz abverlangt wird; zum Beispiel: „Der Säugling trinkt die Nacht. Gerade weil es für das gerade Geborene diese leibliche Selbst-Organisation um seine innere Dunkelheit noch nicht gibt, ist das Saugen der Milch ein Trinken der Nacht. Durch den Stillakt gelangt nicht nur die Milchstraße der mütterlichen inneren Nacht in die innere Nacht des Säuglings, sondern die Fähigkeit zur Unterscheidung von Innen und Außen wird durch dieses ‚Beziehen‘ erst möglich. Nach dem ‚bewusstlosen’ Auftauchen der Geburt und zunehmend in der coenästhetischen Beziehung mit der ersten Person wird die Trennung in dem Maße ahnbar (‚hinter‘ jeder intentionalen Geste), dass die äußere Nacht umgestülpt wird, eingestülpt zur inneren wird – und vergessen wird.“

Manchmal legt Friese aber auch Würze in die Kürze: „Kollektive performative Verfremdung lädt im Chiasma der Übertragung zum Gastmahl der Empathie und Metaphorik.“ Gottlob ist nicht alles dermaßen opak. Und wenn man sich erst einmal ein bisschen eingelesen hat, kann man vielen schönen Gedanken, auch geglückten Formulierungen und erhellenden Einsichten begegnen, wie etwa dann, wenn er darauf insistiert, dass die menschliche Sprache sich nicht in bloßer Kommunikation erschöpft, dass auch sie also eine – der Linguistik abgewandte – Nachtseite hat. Denn „jede sprachliche Äußerung“ ist, so Friese, „ein Ausdruck des Leibes, der innen dunkel ist“.

Insofern der Mensch Leib ist, ist er auch ein nächtiges Wesen, das mit dem Leib der äußeren Nacht kommuniziert. „Nachtleib“ ist ein Elementarbegriff in Frieses Phänomenologie finsterer Gegebenheiten. Weil aber nun nur ein geringer Teil unseres Weltverhältnisses dem Verfügungsbereich des Tagesbewusstseins angehört und weil zu jedem Tagesphänomen ein dunkles Pendant auffindbar ist, existiert bei Lichte besehen nichts, was nicht irgendwie dem Programm einer „Nachtästhetik“ subsumierbar wäre. Folglich räsoniert Friese über ein riesiges Arsenal der buntesten Dinge wie Traum, Rausch, Labyrinth, Pferde, Schicksal, Dionysien, Monster, Magnetismus, Nachtfahrende, Tanz, Erinnern und Vergessen, Opfer, Duschen, Feuer, Nachtmahl oder auch Sexualität und Scham.

Nun sind für die Literaturgattung Kulturgeschichte wohl kaum bestimmte Normen fixiert, weshalb der Untertitel dieses Buches hingenommen werden mag, zumal der unbestimmte Artikel voransteht. Doch dem Umschlagstext, der tönt, hier handele es sich um „die erste große Darstellung der Nacht in der Literatur und Kunst des Abendlandes“, ist lediglich dann akzeptabel, wenn man „groß“ erst ab einer vierstelligen Buchseitenzahl gelten lässt. Hatte denn nicht Elisabeth Bronfen noch 2008 ihr „Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht“ auf 639 Seiten vorgelegt?

Ohnehin geht Frieses Blick weniger in die Weite der Forschungsliteratur. Auch bezweckt er keine enzyklopädische Vollständigkeit (jeder Leser wird seine Leerstellen finden); vielmehr lotet er – mit der essayistischen Souveränität belesenen Eigensinns – die Tiefen seiner Lieblingsquellen, -stoffe und -motive aus und würde vermutlich den Ruf nach systematischerer Textkonstruktion und mehr kompositorischer Transparenz für eine pedantisierende Zumutung halten.

Das Inhaltsverzeichnis gewährt wenig Orientierung, und an ein Register wollten sich Autor und/oder Verlag angesichts der immensen Materialfülle wohl gar nicht erst heranwagen. Man muss also nolens volens lesen, lesen, lesen; und wer das eine Stunde pro Tag/Nacht schafft, braucht anderthalb Monate.

Hesiod ist unübersehbar Frieses Nacht-Favorit. Tatsächlich kann die „Nyx“ der „Theogonie“ mitsamt ihrer zwielichtigen Nachkommenschaft auch nach fast dreitausend Jahren noch gewaltig fesseln und irritieren. Um so unverständlicher und bedauerlicher ist es dann, dass Dieter Bremers bedeutende Untersuchung „Licht und Dunkel in der frühgriechischen Dichtung“ (1976) nicht ins Literaturverzeichnis aufgenommen ist. Denn Bremer hatte die „schwarze Nacht“ im Werk Hesiods gleichfalls als ein nicht bloß negatives Un-Wesen verstanden, sondern als eine – wesentlich verhüllende – Macht, der bewahrende wie auch schöpferische Potenz eigen ist.

Allein das Hesiod-Kapitel umfasst 340 Seiten. Resümierend stellt der Autor klar: „Nicht nur ist im Bereich des Vorgestellten [Heidegger-Anspielung? („Gestell“)] die Nacht das Medium für die Umkehr von Sturz und Auftauchen, sondern ebenso ist eine innere Nacht das Medium für den Transport von vorgestellter Nacht zu auftauchendem Bild. Die innere Nacht ist paradoxerweise die Mutter der imaginären Neugeburt. Die Sprache ist qua Stoff und Atmo-Sphäre eine mediale Repräsentantin der Nacht, die in spezifischer Weise poetische Rede gebiert.“

Und dann mit der gespielten Skepsis des seiner Sache sicheren Didaktikers: „Alles Zweideutige, Verbergende und Erhellende, das Verschleppte und Beschleunigte, die umstülpenden Erfahrungen zwischen Form und Inhalt – das alles sollen Kinder der Nacht sein? Wir wollen sehen, wie weit wir mit ihnen kommen …“. In Robert Walsers „Jakob von Gunten“ steht ein Satz, der mir hier einfiel: „Ob das nun merkwürdig ist oder nicht, jedenfalls ist es auffallend.“

Mythologie und Literatur der alten Griechen sind ein von Friese kenntnisreich bevorzugtes Betrachtungsgebiet. Parmenides zitiert er wiederholt, und Pindars Dichtungen widmet er den Abschnitt: „Auftauchen des Erinnerns aus dem Vergessen“.

Goethes „Faust II“ bekommt vier Abschnitte auf 70 Seiten zugestanden („Um den Rahmen des Vorhabens nicht zu sprengen, verenge ich den Blick auf den zweiten Akt von Faust II, noch schärfer nehme ich dann die ‚Klassische Walpurgisnacht‘ ins Auge.“). Die Phantasmagorien E.T.A. Hoffmanns („Die Abenteuer der Silvester-Nacht“) interpretiert Friese als Paradigma romantischer Spiegel-Poetik.

Marcel Proust (die Madeleine!) wird in zwei Abschnitten auf Nächtiges hin beleuchtet. „Baudelaire I“ hat Friese einen weiteren Abschnitt viel versprechend überschrieben; doch sucht man „Baudelaire II“ vergebens, ebensowenig wird „Don Quixote I“ mit einem „Don Quixote II“ fortgesetzt. Mehrfach wird auf einen künftigen Nachfolgeband verwiesen, dessen Existenz womöglich manche der in diesem Band auftauchenden Ungereimtheiten zu plausibilisieren vermöchte. Indessen ist laut Verlagsauskunft derzeit kein zweiter oder gar dritter Teil der Friese’schen „Ästhetik der Nacht“ vorgesehen. „Wahrlich, als erstes ist Chaos entstanden“ (Hesiod).

Trotz aller Einwände und obwohl Friese die Gegenstände mitunter kräftig aufs Prokrustesbett seiner Intuitionen spannt, sei „Die Ästhetik der Nacht“ dennoch empfohlen, weil in den Bedenklichkeiten dieses Großwerks zugleich seine Qualität liegt: Der Autor hat sich die Freiheit genommen, uns an seinen Nacht-Gedanken teilhaben zu lassen, ohne auf unsere Ungeduld und unsere Bequemlichkeitserwartungen irgendeine Rücksicht zu nehmen. Es ist, als breite ein bücher- und lebenserfahrener Mann mit dem Reichtum seiner Gedankenfrüchte offenherzig auch sein Eigenstes vor uns aus. „Wovon wir betroffen sind“, sagt aber Ernst Peter Fischer („Die aufschimmernde Nachtseite der Wissenschaft“), „darüber können wir nicht schweigen – auch wenn die Rede darüber anders ausfallen sollte, als die Theoretiker des Wissens annehmen bzw. zulassen.“ Wahrscheinlich würde Heinz-Gerhard Friese dem ziemlich ausführlich beipflichten.

Titelbild

Heinz-Gerhard Friese: Die Ästhetik der Nacht. Eine Kulturgeschichte.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011.
1307 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783498020576

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