Zwischen Sowohl und Sowohl-als-auch

Christian Baiers Untersuchung zu Geniekonzepten im Romanwerk Thomas Manns leistet einen wichtigen Beitrag zur Forschung

Von Markus LorenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Lorenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits der Titel von Christian Baiers Dissertation bringt das Doppelgesichtige des Mann’schen Romanschaffens, das seinen Beziehungszauber mit ordnender Strenge eröffnet, zum Ausdruck. Was die Pole charakterisiert, welche die metaphysische, psychologische, soziale und ästhetische Zwischenposition des Genies umspannen, ist nicht einfach zu bestimmen: Höllisches Feuer und Segen sind in sich schon wieder zwiespältig auffassbar. Was den Künstlerfiguren mitgegeben, ihnen bereits vor der Öffnung des Vorhangs zur erzählten Welt – biologisch oder metaphysisch – geschenkt oder über sie verhängt wird, strukturiert das Erzählgeschehen ebenso, wie es das Sein und Wirken der Figuren prägt und bestimmt.

Das Vorgegebene, Vorausliegende nimmt als Gegenstand narrativer und dialogischer Erörterungen einen weiten Raum der Romanwelt ein, wird häufig gar zum beherrschenden Thema. Die mit den in den Romanen „Lotte in Weimar“, „Doktor Faustus“ und „Joseph und seine Brüder“ vielfach thematisch werdenden Genievorstellungen werden von Christian Baier als zentrales Problemfeld des an (produktions-)ästhetischer Selbstreflexion alles andere als armen Thomas Mann’schen Erzählwerks untersucht. Seine souveräne Studie wartet mit einer Fülle interpretatorischer Einsichten auf, die wesentliche Forschungsergebnisse aufgreifen und, um neue Erkenntnisse bereichert, in einen systematisch geschlossenen Zusammenhang bringen.

Originalität, Authentizität, Inspiration und die quasigöttliche Fähigkeit zur creatio ex nihilo – alle diese gemeinhin mit dem Begriff des Genies verbundenen schöpferischen Attribute sind problematisch im Werkkontext eines synkretistisch verfahrenden, sich seiner Spätzeitlichkeit bewussten Künstlers, der mit Zitaten und Techniken der Montage arbeitet, die den Zitatcharakter des Gesagten hervorheben oder verschleiern. Und doch spielt das Geniethema in Thomas Manns fiktionalen und essayistischen Texten eine herausragende Rolle. Der dem reflektierten Geist durchsichtigen und nachvollziehbaren handwerklichen Faktur und Architektur des Hervorgebrachten und Hervorzubringenden stehe, so Baier, das mit dem Verhängnisvoll-Prärationalen befrachtete Phänomen des Genies gegenüber, das, verbunden mit der unheimlichen Problematik auratischer Persönlichkeitsgröße des großen Mannes als öffentlichen Unglücks, in ein ähnlich prekäres Licht gerate wie der Mythos. Der Autor skizziert das Grundproblem anhand der die produktionsästhetische Ambiguität von ingenium und ars artikulierenden Charakterisierung des Schaffensprozesses Gustav von Aschenbachs, von dem es heißt, sein Werk sei aus Hunderten von Einzelinspirationen aufgeschichtet. Die Antithese wird, wie Baier zu Recht anführt, bereits in dem Essay „Goethe und Tolstoi“ in den diskursive Neupaarungen eingehenden Gegenüberstellungen von Goethe und Tolstoi sowie Schiller und Dostojewski nicht nur problematisiert, sondern auch in auflösende Bewegung und neue Konstellationsmöglichkeiten versetzt. Mit der pathologischen, ins Heilige gesteigerten Geistigkeit auf dieser und dem ‚genialen‘ Naturaristokratismus auf jener Seite werde „die entwickelte Dichotomie, kaum etabliert, schon wieder unter[laufen]“.

Baier arbeitet mit den tragfähigen, historisch und systematisch gewonnenen Kategorien Authentizität, Autonomie und Alterität, um den Geniebegriff methodisch zu fassen und ihn an den behandelten literarischen Texten zu überprüfen. Das Genie wird zum einen im Horizont seiner geschichtlichen und ästhetischen Bedeutsamkeit für die Konstitution sowie die Krise des neuzeitlichen Subjekt- und Individualitätsgedankens, ferner für die schöpferische Abkehr von einem imitativen künstlerischen Mimesis-Konzept in der Neuzeit (vor allem bei Shaftesbury und Goethe), zum anderen aber auch vor dem Hintergrund seiner antiken Wurzeln interpretiert: der gerade eine Entäußerung des Selbst anzeigenden, zum Teil metaphysischen Vorstellungen von ingenium, genius und daimon sowie manía und der besonders bedeutsamen Melancholie. Diese immer wieder poetisch aufgerufenen und zugleich physiologisch oder psychologisch – insbesondere unter dem Einfluss der Nietzsche’schen Entlarvungsstrategien – ‚säkularisierten‘ und oft das Oberste zuunterst kehrenden Verwandlungen antiker Genievorstellungen bilden einen wichtigen roten Faden der Textarbeit, die stets theoretische Stringenz mit genauer philologisch-hermeneutischer Textarbeit verbindet. Vor allem die ‚Enttheologisierung‘ von manía und Melancholie spielt, namentlich in der Besprechung des Doktor Faustus, eine wichtige Rolle.

In Lotte in Weimar betreibe das zwischen Pathologischem und heiterem Natursegen gespannte Genie Goethes – weit entfernt von dem subjektivistischen Geniekult des Sturm und Drang – die Kunst als halsbrecherischen Balance-Akt und ‚Messertanz‘ am Abgrund des Unmöglichen. Statthaben könne diese außerordentliche Balance allein – und dies ist eines der wichtigsten Argumente in Baiers Ausführungen – unter drei Voraussetzungen respektive Bedingungen: infolge einer metaphysischen Schuld gegenüber den Mitgeborenen und Mitlebenden, um den Preis des Verrats des Lebens an die Kunst, sowie zuletzt des Selbstopfers des Künstlers. „Thomas Manns Goethe vermag die Spannung seiner von Gegensätzen, von Schuld und Entsagung bestimmten Existenz nur kreativ fruchtbar zu machen, indem er sich an seinen Mitmenschen emotional bereichert, die gewonnenen Eindrücke zum Werk formt und so Leben, Welt und Menschen an die Kunst verrät“.

Dem alter deus-Originalitätspostulat der Sturm-und-Drang-Genieästhetik werde eine Art panerotisch-vergeistigter universaler Kontaktaufnahme zwischen Künstler und Welt, ein zeugend-aufnehmendes, androgynes Schaffenskonzept entgegengehalten, in dem das Angeborene und das Angelernte, ingenium und ars, als Gegensatzpaar relativiert und aufgehoben würden. Baier kritisiert Riemers „Genie-Theologie“, die elbisch-naturdämonische Indifferenz, den Nihilismus des Gleich-Gültigen so, als ob Riemer ein zeitgenössischer germanistischer Kollege wäre, als ob mit ihm ein seinerseits mit Geniekonzepten den Roman, in dem er mitspielt, interpretierender Kulturwissenschaftler aufträte – und ist damit wohl kaum auf der falschen Spur, denn unbestreitbar inszenieren Thomas Manns Romane zugleich ihre eigenen philologischen Deutungskontroversen. Die von Riemer hervorgehobene Einheit von Nichts und Allem – gewissermaßen von Nihilismus und doppeltem Segen – lasse sich in eine ubiquitäre All-Ironie, den höheren Nihilismus des Blicks der absoluten Kunst übertragen. Goethes dilettantisch-ubiquitäres Zielen auf das Ganze resultiere aus seinem Sein, seinem daimon, das ihm sein eigenes Leben und Werk, Gegenwärtiges und Vergangenes als Wiederholung und Steigerung zu erfahren und hervorzubringen erlaube – „die Inszenierung des eigenen Lebens als quasi-mythologischer ‚Festbrauch‘“.

Die Alterität des Genies ist natürlich in höchstem Maße bestimmend auch für Adrian Leverkühn. Dessen ausgeprägtes Interesse für mathematische Relationen, Ordnungen, welche die sinnlich-tönende ‚Kuhstallwärme‘ der Musik erkälten, sowie seine Hervorhebung des Handwerklich-Konstruktiven im künstlerischen Schaffen positionieren ihn denkbar weit weg von der Genieästhetik des Sturm und Drang und ihrer Geringschätzung des Regelwerks. Dem in der geschichtlichen Situation der Moderne aufgrund ihrer Verabsolutierung – bei gleichzeitiger Verbrauchtheit des Materials – unumgänglichen Umschlagen der Subjektivität in ihre Selbstaufhebung begegnet Adrian Leverkühn bekanntlich nicht nur mit der Parodie, sondern auch mit dem Ideal des strengen Satzes, der die Dialektik der sich gegen sich selbst richtenden Freiheit zu ‚alt-neuen’ Ausdrucksmöglichkeiten, einer ‚Rekonstruktion des Ausdrucks‘ zu führen hofft.

Zu Recht weist Baier dem – vom Erzähler Zeitblom angeführten – Oxymoron der „glühenden Konstruktion“, mit dem über die Negation der traditionellen Geniekategorie dieser auf einer höheren Stufe wieder Geltung verschafft werden soll, eine Schlüsselstellung zu. Denn der Durchbruch zu einer Rehabilitation des Genies und des authentischen, autonom geschaffenen Ausdrucks sei selbst nicht erklärbar und prinzipiell inkalkulierbar. An dieser Stelle greife die literarische Bedeutung der dämonischen Inspiration und des Teufelspakt-Motivs. Als teuflisch Inspirierter empfange Leverkühn Eingebungen unter einem höheren (oder unteren) Diktat, und dennoch sei für sein Schaffen das gegen die tradierte Genieästhetik gerichtete streng Handwerkliche ausschlaggebend. „Und wie das System des ‚strengen Satzes‘ ohne die diabolische Inspiration steril und mechanisch bleiben würde, so bildet die formale Strenge der Komposition andererseits die Voraussetzung für den ‚Durchbruch‘ durch die Sterilität der Kunst: Nur Inspiration und Intellekt, Hitze und Kälte, der Teufel und Leverkühn gemeinsam vermögen Werke wie “D. Fausti Weheklag“ hervorzubringen.

Damit wird deutlich, dass es sich bei der im Doktor Faustus entwickelten Konzeption nicht um eine schlichte Rekreation der antiken Inspirationsvorstellung handelt, sondern um ihre Übertragung in und damit verbundene Anpassung an den Kontext der Moderne“.

Für entscheidend erachtet Baier die vieldiskutierte Frage, ob der Teufel als (innerfiktionale) Realität oder als halluzinatorische Illusion Adrians angesehen werde, wonach „die ‚unlautere Steigerung‘ Adrian Leverkühns entweder als Folge einer metaphysischen Einflussnahme oder als das Ergebnis einer organischen Erkrankung aufgefasst werden“ könne. Die Frage, ob eine metaphysische beziehungsweise eine physisch-luetisch-pathologische Determination genialen Schaffens von Thomas Mann wirklich als ein entscheidendes Entweder-Oder gedacht wird, soll dahingestellt bleiben. Ich möchte es bezweifeln. Ein wenig verstrickt sich die Argumentation, die die Kategorien der Authentizität und Autonomie für Adrian Leverkühn zu retten bestrebt ist, in die tückische Dialektik der Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit – und folgt damit freilich den schwer zu widerlegenden Gedankengängen des Teufels, der lediglich das, was Leverkühn bereits weiß, in Dialogform bringt. Denn warum sollte der anhand teuflischer Inspiration gleichwie konstruktiver Ordnungen und Regeln neu gewonnene Ausdruck nicht ebenso gut als Unterordnung und Auslöschung der Subjektivität wie als Behauptung ihrer Eigenheit gelten?

Wiewohl sein mythisches Dasein vordergründig nicht mit Attributen des Geniebegriffs zu fassen sei, er vor allem aber keine unmittelbare, werkästhetisch produktive Künstlerfigur vorstelle, erlaube die Konzeption des „Joseph“ als Roman doch, von seiner Hauptfigur als einem mythischen Genie zu sprechen. Seine intellektuelle und spielerische Disposition eines mit außerordentlichen Geistesgaben das erlebte Geschehen reflektierend vertiefenden und auf Abweichungen vom vorgegebenen Schema hin inszenierenden Schauspielers, Regisseurs und Räsoneurs lasse ihn sein Leben, das Bewusstsein, sich in einer Geschichte zu befinden und auf diese einzuwirken, schöpferisch zum Konzept des Lebens als Kunstwerk gestalten: Denn es „reichen Schönheit, Geist und Redegabe nicht hin, sein Genie zu konstituieren. Dazu bedarf es seiner Fähigkeit, die Funktionsweise der mythischen Welt zu durchschauen und ihre Ordnungsprinzipien – die ‚offene Identität‘, das ‚In-Spuren-Gehen‘ und die ‚rollende Sphäre‘ – im Zuge seiner Selbstinszenierung zum eigenen Vorteil zu nutzen“. Josephs Persönlichkeitserbe sei geprägt von mütterlicher Anmut, diebisch-intellektueller Beweglichkeit, dem väterlich-vergeistigten Erbe der Fähigkeit zu gedanklichen Ideenverbindungen, gestirnhaften Einflüssen, seiner Schriftkundigkeit und dem Wissen um tradierte Mythen und Familiengeschichten, die allesamt seinen Witz der Vermittlung zwischen imitatio und abwandelnder Neuinszenierung des ‚Überkommenen‘ bestimmten. Nach seiner ‚Brunnenbuße‘ trete Joseph in einem zweiten Leben eine tätige Laufbahn als ‚alienus‘ in Ägypten an, ein Leben, das geprägt sei von der Überwindung des Narzissmus als utopischem Sinnbild der Hoffnung Gottes, der humanistischen Hoffnung auf Vollendung hin zum Inbegriff des Menschlichen, des Menschen, der seine soziale Rolle annehme und in dem sich die „Transzendierung des Genies“ vollziehe.

Christian Baiers Dissertation stellt einen wichtigen und wesentlichen Beitrag zur Thomas-Mann-Forschung dar. Sie demonstriert eindrucksvoll, wie hermeneutische Deutungsarbeit, die sich mit großer Genauigkeit und Sorgfalt auf die poetischen Primärtexte und die einschlägigen Forschungsergebnisse einlässt, neue und zum Teil überraschende Erkenntnisse zu gewinnen vermag. Die genau themenbezogenen methodisch-argumentativen Engführungen verlieren nie den Bezug zum ästhetisch-philosophischen Gesamtkosmos Thomas Manns, den Baier souverän in seine Ausführungen einbezieht. Insbesondere – aber nicht allein – denjenigen, die sich künftig mit dem Themenbereich Kunst und Künstlerexistenz, Genie und Produktionsästhetik bei Thomas Mann beschäftigen wollen, wird Baiers Studie als richtungsweisende Arbeit gelten.

Titelbild

Christian Baier: Zwischen höllischem Feuer und doppeltem Segen. Geniekonzepte in Thomas Manns Romanen Lotte in Weimar, Joseph und seine Brüder und Doktor Faustus.
V&R unipress, Göttingen 2011.
472 Seiten, 53,90 EUR.
ISBN-13: 9783899718409

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