Über die allmähliche Verfertigung der Kritik beim Schreiben über Heinrich von Kleist

An dem von Nicolas Pethes herausgegebenen Sammelband „Ausnahmezustand der Literatur“ wird deutlich, dass die Germanistik den ideologischen Implikationen im Werk Heinrich von Kleists nicht länger ausweichen kann

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Und schon wieder „Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist“! Diesmal unter dem Motto „Ausnahmezustand der Literatur“, aufgeteilt in die drei Kapitel „Krieg“, „Recht“ und „Leben“. Das zentrale Stichwort „Ausnahmezustand“ ist in dem Kontext allerdings genausowenig „neu“, wie der Untertitel unbedingt einfallsreich wirkt. Aber im nun langsam zu Ende gehenden Kleist-Jahr 2011 mit seinen zahlreichen Publikationen über den im November vor 200 Jahren durch seinen Freitod am Berliner Wannsee umgekommenen Autor dürfte es tatsächlich schwer sein, überhaupt noch irgendein ‚Label‘ zu finden, das überrascht.

„Ausnahmezustand“? Muss man da nicht gleich wieder befürchten, dass in mindestens jedem zweiten Beitrag der nationalsozialistische Rechtstheoretiker Carl Schmitt mit seiner Definition jenes „Ausnahmezustandes“ vorkommt, den der „Souverän“ bestimme? Aus irgendwelchen Gründen finden viele Germanisten Schmitt nämlich hartnäckig gut und schätzen ihn als Denker sogar so sehr, dass sie ihn manchmal ungerührt mit Walter Benjamin in einen Topf werfen – was ungefähr genauso schamlos ist, als würde man Jean Améry als Bruder im Geiste von Ernst Jünger oder Martin Heidegger darstellen.

Ganz so schlimm kommt es in dem vorliegenden Fall zwar nicht, aber tatsächlich ist die Carl-Schmitt-Zitierfrequenz in der ersten Sektion des Bands, die sich dem Thema „Krieg“ widmet, auffällig – und bei der gewählten Fragestellung des Buchs wohl auch geradezu zwangsläufig – hoch. Der Mode gemäß folgen darauf stets gerne Anführungen von Giorgio Agambens raunender „Homo Sacer“-Studie von 2002, und hier liegt wohl das Problem: Ist es doch vor allem der italienische Mode-Philosoph Agamben, der sich theoretisch genauso gerne an Carl Schmitt abarbeitet wie er sich zugleich auf Heidegger, Hannah Arendt und Walter Benjamin beruft, um den „Ausnahmezustand“ sowohl mit Auschwitz als auch mit Guantánamo in Verbindung zu bringen, die beide gewissermaßen Folgen eines einzigen totalitären biopolitischen Strebens seien, das bereits in der Antike begonnen habe.

Wie das alles im Einzelnen tatsächlich genau „gemeint“ sein soll, ist nicht nur aufgrund des Übersetzungsproblems, sondern wohl auch in Folge von Agambens vager Begrifflichkeit umstritten. Aus irgendeinem Grund aber haben besonders die Germanisten seit Jahren einen Narren an diesem befremdlichen Heidegger-Gebräu gefressen und greifen Agambens philosophische Schriften begierig auf, um damit ihre Texte theoretisch ‚aufzuhübschen‘. Dadurch wird nicht zuletzt Michel Foucaults Denken, das nicht zu verachten ist, in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zusehends in Mitleidenschaft gezogen: Überall, wo von Foucaults Begriff der „Biopolitik“ die Rede ist, muss nämlich mittlerweile auch sofort immer Agamben mitgenannt werden, wenn man in der Zunft noch für voll genommen werden möchte – oder umgekehrt.

Achten Sie mal drauf: Germanisten, die Carl Schmitt zitieren, rufen in einer der nächsten Fußnote garantiert Giorgio Agamben auf, um dann zuletzt auch noch auf Michel Foucaults Begriff der „Biopolitik“ zu sprechen zu kommen. Es kann natürlich auch einmal generös einer der drei Namen weggelassen werden. Um aus dem hier vorgestellten Band nur ein erstes Beispiel zu nennen: In seinem Beitrag über die „Rettung bei Kleist“ (unter der Rubrik „Leben“) etwa referiert der Essener Privatdozent Johannes F. Lehmann den „Ausnahmezustand“-Begriff aus Agambens „Homo Sacer“ ausführlich, natürlich zusammen mit dem der „Biopolitik“ bei Foucault.

Man mag darüber im Einzelnen denken, was man will – aber die bloße Beobachtung solcher vorhersehbarer Konventionen und inflationärer Automatismen sollte doch skeptisch stimmen: Muss man jetzt als Literaturwissenschaftler wirklich bei jeder Gelegenheit „Homo Sacer“ ausrufen, um irgendwann einmal zu einer solchen Ringvorlesung eingeladen zu werden, wie sie dem vorliegenden Sammelband zugrunde liegt? Im Vorwort des Bochumer Herausgebers Nicolas Pethes ist die Vorgabe jedenfalls schon gleich zu Beginn mehr als eindeutig: Fußnote zwei: Giorgio Agamben, Homo sacer, Fußnote drei: Carl Schmitt: Politische Theologie, Fußnote vier: Michel Foucault, Der Wille zum Wissen.

Der im Wallstein Verlag erschienene Band fällt aber trotzdem aus der Reihe, weil er immerhin viele Autorinnen und Autoren versammelt, die vielleicht nicht unbedingt als Dioskuren der Kleist-Forschung bekannt sind, sich aber anderweitig als interessante Persönlichkeiten des Faches bereits einen Namen gemacht haben. Gerade solche Publikationen sind oft die innovativsten, weil sie unerwartete Perspektiven und Forschungsansätze bieten können, wo die ‚alten Hasen‘ längst nur noch altbekannte Weisheiten herunterbeten, die sogar noch langweiliger ist als die albernen Agamben-Turnübungen, die man bei den Jüngeren mittlerweile häufig in Kauf zu nehmen hat.

Yvonne Wübben wäre zum Beispiel ein solcher Fall, wenn auch in ihrer ersten Fußnote ganz ohne Not  auf „Giorgio Agamben: Homo Sacer“ verwiesen wird. Sei’s drum: Seit einiger Zeit ist sie Juniorprofessorin in Bochum, mit einem zweiten Doktortitel in Medizin. Wübben siedelt Kleists Skandal-Drama „Penthesilea“ (1808), in dem die Heldin am Ende ihren Geliebten Achill ‚aus Liebe‘ zusammen mit ihren Hunden zerreißt, weil sich „Küsse“ auf „Bisse“ reime, im Spannungsfeld zwischen „Forensik und Philologie“ an. Dazu nimmt sie ihrerseits Richard von Krafft-Ebings verkürzte Analyse des Stücks in dessen „Psychopathia sexualis“ (1891) auseinander. In ihrem Beitrag wird ganz wunderbar deutlich, inwiefern Kleist um 1900 durch die aufgekommenen Kategorien psychiatrischer Ansätze und Betrachtungsweisen plötzlich neu rezipiert wurde und im Ansehen seiner Leser von einem verkrachten Autor, der die Regeln der Weimarer Klassik ruchlos entweihte, zu einem modernen Schriftsteller avancierte.

So rückt Wübben die wissenschaftlichen Interferenzen zwischen der Neuentdeckung Kleists um 1900 und der psychiatrischen Begriffsbildung rund um den Terminus des ‚weiblichen Sadismus‘ und der Sexualpathologie allgemein anhand ihrer „Penthesilea“-Interpretation erhellend ins Blickfeld: Der Aufsatz punktet also vor allem dadurch, dass er einen rezeptionshistorischen Rückblick zu einer interdisziplinären Analyse der forensischen Wissensbildung zur Jahrhundertwende ausweitet.

Friedrich Balke, Professor für „Geschichte und Theorie künstlicher Welten“ an der Bauhaus-Universität Weimar, ist ein ähnlicher Fall. Er liest Kleists „Herrmannsschlacht“ mit Sigmund Freuds Studie „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ (1905). Man stutzt hier erst einmal: Ist denn Kleists Partisanen- und Terror-Stück von 1808, das implizit einen germanischen Genozid an den Römern (vulgo: Franzosen) fordert, bitteschön irgendwie „witzig“?

Zunächst einmal ist Balkes Abhandlung eine sehr genaue Darstellung der Partisanenthematik bei Kleist und kommt deshalb – Sie ahnen es – natürlich nicht ohne Carl Schmitts betreffende theoretische Schriften aus. Das ist hier quasi unumgänglich, wobei es wirklich verblüfft, wie es Balke darüber hinaus gelingt, Kleists schillerndes Fanatiker-Drama mit den Strategien des Witzes, wie sie Freud analysiert, zusammenzudenken und zu interpretieren. Das theatrum belli, gelesen als Schauplatz des Unbewussten, offenbart hier eine drastische Technik des Witzes als „Greulsytem von Worten“ (Kleist) und legt viele seltsame Brüche in Kleists Text offen, der aufgrund seiner haarsträubenden ideologischen Programmatik nach der NS-Zeit für viele Jahrzehnte kaum noch näher untersucht wurde.

Balkes Aufsatz zeigt damit aber auch, dass Literaturwissenschaftler immer noch gut daran tun, Freud und die Psychoanalyse nicht einfach abzuschreiben: Literatur mit Freud zu lesen, ist gewissermaßen so sehr old school, dass es schon wieder cool ist, um es einmal locker zu formulieren. Anders als mit dubiosen Juristen wie Carl Schmitt kann man anhand von Freuds Schriften wieder denken lernen, um ergo auch Kleist zugleich ‚offener‘ und kritischer zu interpretieren als es etwa die Nazis so verhängnisvoll taten, die ihn als Dichter des NS-„Staatsaufbaus“ vereinnahmten.

Hierher gehört auch der Siegener Literaturprofessor Niels Werber, dessen lesenswertes Buch über die „Geopolitik der Literatur“ bereits 2007 aufhorchen ließ. Werber fasst im vorliegenden Beitrag noch einmal seine dortigen kritischen literarhistorischen Einordnungen von Kleists „Herrmannsschlacht“ zusammen. Mit in seinen Beitrag eingeflossen ist außerdem seine wichtige Erinnerung an die NS-Rezeption Kleists von 2006, wobei das Ganze noch einmal etwas ergänzt wurde: In Pethes’ Band ergibt dies trotz des bemängelbaren ‚Zweitverwertungscharakters‘ des Aufsatzes einen äußerst wichtigen Text, der vernehmlich daran erinnert, weshalb gerade Carl Schmitt die „Herrmannsschlacht“ tatsächlich als „größte Partisanendichtung aller Zeiten“ rühmen konnte und warum er sich auch nach dem Krieg noch so sehr dafür interessierte: Die terroristische ‚Geopolitik‘-Propaganda speziell dieses Stücks war Kleists Zeit um 1800 weit voraus, und zwar im übelsten Sinne: „Kleists Geopolitik schlägt um in eine rassistische Biopolitik. Sein Herrmann führt einen totalen Krieg gegen einen absoluten Feind. Der Schritt bis zur ‚Vernichtung allen lebensunwerten Lebens‘ sei nicht weit, hat Schmitt in seiner Theorie des Partisanen [1963, J.S.] gewarnt. Das ‚Dritte Reich‘ hat diesen Schritt getan, und die völkische Germanistik hat Kleist als Kronzeugen für diesen Weg in Beschlag genommen.“ Diesen Traditionslinien müsse man sich gerade auch dann stellen, „wenn man Kleists Literatur schätzt“, beschließt Werber seinen Aufsatz nicht ohne mahnenden Unterton.

In die gleiche Kerbe schlägt auch Harald Neumeyers nicht anders als akribisch zu nennender, über 40-seitiger Monster-Aufsatz „‚Neger-Empörung‘. Zur Legitimität von Gewalt in Heinrich von Kleists Die Verlobung in St. Domingo“, der die komplette, jahrzehntelange Debatte um einen der meistinterpretierten Texte der Literaturgeschichte wieder neu aufrollt und es übrigens immerhin bis Fußnote 111 hinauszögert, bis auch in ihm erstmals der seltsame Begriff des „tötbaren Lebens“ aus – erraten – Giorgio Agambens „Homo Sacer“ aufgerufen wird.

Neumeyers Beitrag wiederholt jene bohrenden Fragen, welche die Kleist-Deuter seit Mitte der 1970er-Jahre immer wieder umgetrieben haben: „Kann es sein, daß einer der renommiertesten deutschsprachigen Autoren, kanonisch für den Schul- wie Universitätsunterricht, ein Rassist ist? Kann es sein, daß dieser Autor eine kolonialistische Perspektive affirmiert, insofern er das Sklavenhaltersystem nirgends fundamental hinterfragt und somit Unterjochung wie Ausbeutung der Schwarzen billigt?“

Vor dem Hintergrund des Forschungsstands zu Kleists Novelle, die von einer prekären Liebesgeschichte im kriegerischen Kolonial-Setting handelt, die mit verspritztem Hirn an den Wänden endet, darf man spätestens seit Herbert Uerlings bahnbrechendem, 1991 publiziertem Aufsatz zur „interkulturellen Begegnung“ in Kleists blutrünstigem Haiti-Text resümieren, dass dem in der Tat so sein ‚könne‘. Selbstverständlich dürfte Kleist Rassist gewesen sein – wie es die meisten Menschen zu seiner Zeit ohnehin waren, weil es eine kritische Sensibilisierung für das Wesen einer solchen ideologischen Einteilung der Menschheit noch kaum gab. Neumeyer sichtet dazu ausführlich zeitgenössische Darstellungen des ‚Rassenkrieges‘ in der französischen Karibik-Kolonie, in der Kleists Text angesiedelt ist, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass sie letztlich alle, egal wie kritisch sie ausfielen, die Trennung und die verschiedene ‚Wertigkeit‘ der schwarzen und weißen „Rasse“ niemals wirklich in Frage stellten – wobei typische Standpunkte, die damals diskursbestimmend waren, auch in Kleists Novelle alle wieder auftauchten. Letztlich gehe seine Erzählung aber doch wieder über diese historiografischen Schriften seiner Zeit hinaus und sei „beispiellos“, weil sie die Rollen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ in diesem verhängnisvollen ideologischen Rahmen verkehre und „einen Weißen schwarz sowie einen Schwarzen weiß“ werden lasse, wie Neumeyers Ergebnis lautet.

Wirklich „neu“ ist diese Schlussfolgerung jedoch auch wieder nicht. So fragt man sich am Ende schon, ob Neumeyer für dieses interpretatorische Nullsummenspiel wirklich derart ausführlich, um nicht zu sagen redundant und langatmig in die historische „St. Domingo“-Kolonialkriegs-Literatur um 1800 hätte eintauchen müssen. Offenbar ist es dem Autor nicht möglich gewesen, seine unübersehbare Freude an der historischen Archiv-Recherche so zu zügeln, dass hinterher ein verknappterer und konziserer Text daraus resultierte.

Ohne dass an dieser Stelle weitere Beiträge aus Pethes’ Band referiert werden könnten, bleibt aber festzuhalten, dass bereits der Querschnitt, der sich aus dem Zusammenspiel der hier erwähnten Aufsätze ergibt, immerhin keinen Rückschritt darstellt: Auch Neumeyers emsige Quellenkunde etwa trägt ja zur kritischen Erforschung des literarhistorischen Umfelds der Kleist’schen Werke mit bei, selbst wenn man die argumentative Ökonomie und den Stil der Darbietung im Einzelnen als unausgewogen missbilligen mag.

Kurz gesagt: Auch wenn einige Beiträger des Buchs auf die Themenstellung eines „Ausnahmezustands der Literatur“ bei Kleist mit erwartbaren germanistischen Reflexen reagierten, kann sich der Sammelband als Beitrag zum Kleist-Jahr und auch noch darüber hinaus sicher sehen lassen: Die Zeiten hagiografischer Vertuschungen der vielen Probleme, die sich uns bei der Lektüre dieses Autors auf Schritt und Tritt stellen, sind zumindest definitiv vorbei.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag erschien bereits in leicht gekürzter Form in der „Jungle World“ vom 3. November 2011.

Titelbild

Nicolas Pethes (Hg.): Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
350 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835309449

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch