Romantische Versicherungen

Zu Paul Ingendaays entspanntem Roman „Die romantischen Jahre“ über die Normalität als Quelle der Romantik

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist mit einem los, wenn man sich Mitte Dreißig plötzlich in einem kleinen Dorf als Versicherungsvertreter wiederfindet? Hat man etwas falsch gemacht? Wollte man nicht eigentlich etwas anderes erreichen? Der Protagonist des Romans steckt in einer Lebenskrise, ist mit einer verheirateten Frau liiert und freut sich über die Besuche einer Nachbarstochter, zu der er ein vaterähnliches Verhältnis aufgebaut hat. Es ist Zeit für eine Bestandsaufnahme. Schwierigkeiten innerhalb der Hierarchie der Versicherungsvertreter und die dazugehörigen Verteilungskämpfe fordern Engagement. Dass dies schwierig wird, hat vor allem auch mit dem Selbstbild zu tun, das der Protagonist Marko Theunissen von sich zeichnet: „Ich betrachte den Kölner Studenten, der ich so viele Jahre war, wie ein Tierfilmer sein Tier, mit Zoomobjektiv und aus großer Entfernung. Ich wartete darauf, gefragt zu werden, ob mich irgendjemand brauchte. Und wenn das nicht geschah, setzte ich mich auf die Schaukel und schaukelte.“

In seiner Familie gibt es verschiedene Lebensentwürfe. Auf seine große Schwester blickt er in einer Mischung aus Respekt, Neid und Wohlwollen: „Sonja arbeitet an einem Lebensprojekt, welches heißt: die volle Realisierung ihrer geheimen Persönlichkeit. Was sie darunter versteht, weiß sie auch nicht so genau, aber immer, wenn ihre beiden jüngeren Brüder etwas von ihr wollen, kommen die bombastischen Begriffe aus dem Vorrat der alternativen Selbstbeglückungsindustrie.“ Sie ist der Außenseiter der Familie und reagiert nicht auf die Vereinnahmungen des Vaters oder die Vermittlungsversuche der Geschwister. Für Marko Theunissen ist seine Schwester eine romantische Erinnerung und Mahnung daran, dass es ein „richtiges Leben“ hinter dem „falschen“ gibt: „Die Luft ist wie ein Trompetenstoß, der uns ermahnt, die kostbare Zeit nicht zu verschleudern, nur dieses eine Mal den Kopf aus dem trüben Grau unserer Tage zu heben und uns zu fragen, was wir aus uns machen könnten, wenn unsere Träume nicht längst hinter uns zurückgeblieben wären wie alte Putzlappen.“

Dabei sind Markos Rekapitulationen immer mit einem melancholischen und romantischen Unterton versehen, der vor allem die Sehnsucht nach der Vergangenheit kultiviert: „Ich weiß nicht, ob ich eine glückliche Kindheit hatte. Sie kam mir nicht so vor, aber wer weiß denn schon, wann er glücklich ist? ‚Glücklich sind wir immer nur gewesen.‘ Den Satz hatte ich aus einem Buch.“ Dabei sind es vermeintliche Verluste, die aber auch immer mit Erkenntnissen verbunden sind. Die Analysen seines sozialen Umfeldes sind treffsicher und die Frage, ob er mit seinem Beruf als Versicherungsvertreter die richtige Entscheidung getroffen hat, beantwortet er durch sein Handeln. Dass man vom Sozialverhalten seiner Eltern nichts lernen kann und Erfahrungen nicht weitergegeben werden können, scheint eine der treffendsten Feststellungen des Protagonisten zu sein: „Wenn sich die Lebensstile und mit ihnen das Bewusstsein alle zehn, fünfzehn Jahre änderten, dann gab es sehr wenig, was die eine Generation bei der anderen verstehen konnte, dann waren die Werturteile der Väter ungerecht und ihre Hilfsangebote lächerlich.“

Wie man seinen Ort im Leben finden und gleichzeitig hinterfragen kann, wie man ein richtiges Leben vielleicht doch im falschen führen kann, wie man die Verhältnisse umkehren oder vielleicht doch ganz unbewusst am richtigen Ort ist, ohne es sofort zu merken, davon berichtet dieses erzählerisch und sprachlich herausragende Buch. Ist es zuerst ein wenig unscheinbar, entbirgt es seine literarischen Qualitäten – wie es gute Bücher immer tun – bei der Lektüre.

Titelbild

Paul Ingendaay: Die romantischen Jahre. Roman.
Piper Verlag, München 2011.
470 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783492054744

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