Euphorische Spurensuche

Attila Bombitz eröffnet ungarische Perspektiven auf die österreichische Literatur seit 1945

Von Thorsten CarstensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Carstensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner neuen Aufsatzsammlung erweist sich der in Ungarn lehrende Germanist Attila Bombitz nicht nur als vorzüglicher Kenner der österreichischen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Faszinierend sind vor allem seine Einblicke in den ungarischen Kontext von germanistischer Forschung und Literaturkritik. Ausgehend von der These, dass die Werke österreichischer Autoren in Ungarn seit 1989 eine Resonanz erfahren, die es in dem Maße seit dem Fin de siécle nicht mehr gegeben hat, widmet sich Bombitz in erster Linie einem für das 20. Jahrhundert prägenden literarischen Quartett: Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Peter Handke und Christoph Ransmayr stehen im Mittelpunkt seiner exemplarischen Lektüren. Aufsätze sowohl über Robert Menasse und die junge Generation österreichischer Schriftsteller wie auch über zeitgenössische ungarische Literatur runden den Band ab.

Dank seiner klaren Fokussierung auf „Spielformen des Erzählens“ gelingt es Bombitz, die österreichische Gegenwartsliteratur jenseits ideologisch überfrachteter Interpretationsmodelle unter narratologischen Gesichtspunkten zu durchleuchten, wobei im Zentrum der Betrachtungen immer wieder das Spannungsfeld von Schreiben und Ich-Konstruktion, von Sprache und Weltentwurf steht. Es geht Bombitz dabei allerdings weniger um mikroskopische Analysen: Sein Verfahren – etwa in den Aufsätzen über Ransmayrs metafiktionale Strategie einer „poetischen Welterfindung“ – ist vielmehr das des überblicksartigen Kameraschwenks. Von besonderem Interesse sind dabei die Bezüge zur ungarischen Literaturkritik und Forschungsszene, die den meisten Lesern nicht vertraut sein dürften und die für künftige Forschungsarbeiten fruchtbare Perspektiven und Kontexte eröffnen. Den Texten Bernhards, so Bombitz, komme dabei in der ungarischen Literatur eine Sonderrolle zu: Ein Autor wie Imre Kertész zitiere Bernhard nicht nur, sondern arbeite „an der bernhardschen Erzählgrammatik weiter“. Bernhards Konjunktiv etwa sei dem Ungarischen eigentlich „völlig fremd“, doch Kertész gebrauche ihn „mit natürlicher Leichtigkeit“. Auch thematisch sei die enge Verwandtschaft der beiden Autoren nicht von der Hand zu weisen, da beide in ihren Texten deutlich machten, dass „unsere ost-mittel-europäische Vergangenheit weder verleugnet noch umgeschrieben werden kann“.

Als besonders lohnend erweisen sich Bombitz’ Ausführungen zur Rezeption österreichischer Literatur in Ungarn seit dem Ende des Kalten Krieges. Sie machen vor allem eines deutlich: Auch innerhalb des mitteleuropäischen Kulturraums lassen sich Publikationserfolge nicht ohne weiteres länderübergreifend fortschreiben. Anschaulich skizziert Bombitz die mitunter eigenwilligen Vermarktungsstrategien des ungarischen Verlagswesens, welche die An- und Aufnahme neuer Autoren und ihrer im deutschsprachigen Raum berühmt gewordenen Werke oft erschweren und hinauszögern. Selbst ein kanonischer Roman wie Bernhards „Auslöschung (1986) erschien in ungarischer Sprache erst 2005. Bombitz weist auf die Sparzwänge im Buchwesen hin, die zur Folge hätten, dass Übersetzungen zunehmend unlektoriert auf den Markt kämen. All dies führe dazu, dass Übersetzungen bedeutender Werke wie Ransmayrs „Die letzte Welt“ oder Jelineks „Lust“ ihr Schicksal häufig in „billigen Buchläden“ fristeten.

Im letzten Kapitel widmet sich Bombitz der ungarischen Gegenwartsliteratur anhand ausgewählter, auch in deutscher Sprache erhältlicher Werke. Dabei gelangt er zu dem Schluss, die ungarische Literatur der Jahrtausendwende befinde sich „in einem Zustand des Überganges“ und sei deshalb müde und erschöpft. Anhand von vier thematischen Schwerpunkten (Identitätsproblematik, Familiengeschichten, Welt-Erfindungen und pseudo-historisches Erzählen) zeigt Bombitz, was er unter dieser Erschöpfung in Werken von Autoren wie Endre Kukorelly, Péter Esterházy, Pál Závada, Ádám Bodor und László Márton versteht: nämlich eine Tendenz zur postmodernen Um- und Neuschreibung von Geschichte, die mit einer Reanimation archetypischer Erzählstrukturen einhergeht. Durch diesen Blick zurück gerate mancher Text regelrecht zu einem „Simulakrum des 19. Jahrhunderts“. Nicht weniger pointiert fällt auch Bombitz’ Urteil zur „Next Generation“ österreichischer Autoren aus. In seiner kursorischen Auseinandersetzung mit populären Romanen wie Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ und Thomas Glavinics „Wie man leben soll“ zeigt er, dass sich die österreichische Literatur im neuen Jahrtausend von jener Schwere des Seins befreit hat, die lange Zeit ihr Markenzeichen war. Überzeugend argumentiert Bombitz, dass auch bei einem Autor wie Kehlmann (der in München geboren, aber in Wien aufgewachsen ist) die „Renaissance des Erzählens“ in einer bewussten Rekonstruktion der brüchigen Welt bestehe: So sei der internationale Erfolg der „Vermessung der Welt“ „einer Modernität in der Postmoderne zu danken, in der die erzählte Welt in verfeinerten Stilregistern, in leichter und eleganter syntaktischer Ausstattung, in dezenten Handlungsknoten und in ungewöhnlich scharfer Ironie zu einer neuen systematischen Ganzheit“ werde.

Bombitz versteht sich als Vertreter einer Literaturwissenschaft, die sich – und dies sollte ja in der Tat ein Mindeststandard sein – ihren Gegenständen mit „methodisch reflektierten Lesestrategien“ widmet und „banale, naive, anekdotische Lesarten ausgrenz[t]“. Einer bestimmten theoretischen Schule sind die hier versammelten Beiträge jedoch nicht verpflichtet. Vielmehr nähert Bombitz sich den Texten mit einer Mischung aus Euphorie und Neugier und beschränkt sich dabei, was die Theorie anbelangt, bewusst auf „[p]seudo-theoretische Überlegungen“, wie er in einem der Aufsätze zu Bernhard formuliert. Anstatt dem unnötig komplexen Sprachgestus anzuhängen, der auf vielen Forschungsarbeiten lastet, verhandelt Bombitz seine Einsichten in einem wohltuend unprätentiösen Ton, der manchmal ins Enthusiastische abgleitet: Man merkt, dass ihm die Texte am Herzen liegen.

Die überaus kenntnisreiche Leidenschaft, mit der Bombitz ein breites Autorenspektrum untersucht, kann indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei seinen Aufsätzen nicht um stringente Argumentationen, sondern eher um assoziative Forschungsgänge handelt, die sich auf den „Spuren der Erzählung[en]“ selbst bewegen und die Ebene der Werkimmanenz allenfalls für kurze Abstecher in die Regionen der Romantheorie und Kulturphilosophie verlassen. Anstatt Gedankengänge behutsam nachzuzeichnen, neigt Bombitz dazu, seine Erkenntnisse zu annoncieren oder zu umspielen. Als Leser stört man sich daher nicht nur an den orthografischen Unsauberkeiten des Buches, sondern wünscht sich auch ein größeres Maß an Hilfeleistung von Seiten des Autors.

Vor allem in den Aufsätzen über Bachmann und Bernhard tragen außerdem die blockweisen Zitate aus der Forschungsliteratur zur Desorientierung bei. Die Schlussfolgerungen, die am Ausgang dieser Spurensuchen stehen, sind mitunter von enttäuschender Unschärfe. So heißt es am Ende der Erläuterungen zu Bernhards „Kalkwerk“: „Was sich aber hinter diesen und weiteren Tatsachen versteckt, bleibt das Geheimnis des schweigenden Kalkwerks. Oder: „Das Kalkwerk“ sollte mit teuren Entkalkern (‚Lektürevorschlägen‘) entkalkt werden.“ Bombitz selbst hält sich mit solchen Vorschlägen leider viel zu sehr zurück.

Titelbild

Attila Bombitz: Spielformen des Erzählens. Studien zur österreichischen Gegenwartsliteratur.
Praesens Verlag, Wien 2011.
157 Seiten, 24,30 EUR.
ISBN-13: 9783706906593

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