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Spürbare Beklemmungen

Ian Kershaw untersucht „Das Ende“ des „Dritten Reichs“

Von Stefan Schweizer

Ian Kershaw wurde vor allem durch seine beeindruckende Hitler-Biografie einem breiteren Lesepublikum bekannt, die heute als Standardwerk zu diesem Thema gilt. Nun legt er mit „Das Ende – Kampf bis in den Untergang – NS-Deutschland 1944/45“ eine voluminöse Studie vor, die Antworten darauf sucht, warum das nationalsozialistische Deutschland bis zum bitteren Ende, bis zur Selbstauslöschung kämpfte. Im Vorwort verweist Kershaw darauf, dass er einen narrativen Ansatz wählt, da sich nur durch diesen „die Dynamik – wie auch die Dramatik – der Sterbephase des Regimes erfassen [lässt], das im Gefolge der sich abzeichnenden Niederlage unaufhaltsam zerfiel“.

Kershaw geht von einem Bündel von Faktoren aus, die das NS-Regime bis zum Untergang in dieser Form bestehen ließen. Einen der bedeutendsten Gründe sieht er in der charismatischen Herrschaft Hitlers. Dieser weigerte sich aufgrund seiner 1918 gemachten Erfahrungen kategorisch, eine Kapitulation oder politische Verhandlungslösungen in Betracht zu ziehen; nur Sieg oder Tod zählten für ihn als Entscheidungen.

Nach dem missglückten Stauffenberg-Attentat im Sommer 1944 ließ Hitler kritische Offiziere der Wehrmacht liquidieren, um so ein solides Fundament für seine weitere Herrschaft zu schaffen, ohne jede noch so kleine Opposition im Heer.

In direkter Abhängigkeit von Hitler befand sich das Quadrumvirat Bormann, Himmler, Goebbels und Speer. Keiner von ihm vermochte es, Hitlers Führungsanspruch in Frage zu stellen, da das eigene Überleben von dem Bestehen Hitlers abhing. Bormann aktivierte in der Endphase des „Dritten Reichs“ die Partei, Himmler sorgte für die notwendige (innere) Repression, Goebbels betrieb die überlebenswichtige Propaganda und Speer versorgte trotz widrigster Umstände die kämpfenden Truppen mit Rüstungsgütern.

Die vier oben Genannten buhlten um Hitlers Gunst, um Ressourcen und Befugnisse, auch wenn sie teilweise verdeckt gegen die Pläne Hitlers agierten, so zum Beispiel Himmler, wenn er politische Lösungen mit den West-Alliierten sondierte oder Speer, wenn er die Zerstörungsbefehle nicht ausführte und deutsche Industrieanlagen intakt ließ.

Weitere Gründe für den Durchhaltewillen der Deutschen waren laut Kershaw die Forderung der Alliierten nach bedingungsloser Kapitulation und die Angst vor der Rache der Sowjets. Das Bewusstsein um die begangenen Kriegsverbrechen ließ bei der deutschen Bevölkerung die Befürchtung aufkommen, dass die Sowjets Rache üben würden. Ebenso sorgten die lokalen Gauleiter für eine Unterdrückung jeglichen Widerstands gegen Hitlers Endkampf.

Kershaws Fazit lautet: „Alle anderen Faktoren – die bei einer Minderheit noch vorhandene Popularität Hitlers, der brutale Terrorapparat, die gestärkte Vorherrschaft der Partei, die wichtigen Rollen des Quadrumvirats Bormann/Goebbels/Himmler/Speer, die negative Integration, bewirkt durch die Furcht vor einer Bolschewisierung des Landes, zuletzt die andauernde Bereitschaft der hochrangigen Beamten und Militärführer, ihre Pflicht auch dann noch zu erfüllen, als offenbar alles verloren war – waren der Struktur des charismatischen Führerregimes, der Art und Weise, wie dieses bis in die Endphase funktionierte untergeordnet. […] So uneins wie die herrschenden Eliten waren, besaßen sie weder den gemeinsamen Willen, noch verfügten sie über die Mechanismen der Macht, um Hitler daran zu hindern, Deutschland ins Verderben zu stürzen. Das war das Entscheidende.“

Entscheidend für die Bewertung von Kershaws Werk ist die Klarheit seiner Sprache und seines Denkens. Bei den Schlusskapiteln vermeint der Leser buchstäblich die Enge und Beklemmung zu spüren, welche die geschilderte Situation für die Zeitzeugen bedeutet haben muss.

Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang - NS-Deutschland 1944/45. Übersetzt aus dem Englischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber, Martin Pfeiffer. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011. 703 Seiten, 29,99 EUR. ISBN-13: 9783421058072 Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch