Entzauberung eines Magiers der Außenpolitik

Johannes Janorschke untersucht Bismarcks Rolle in der so genannten Krieg-In-Sicht-Krise von 1875

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange galt Reichsgründer Otto von Bismarck selbst der kritischen Forschung als facettenreicher Strippenzieher der preußisch-deutschen Außenpolitik und Baumeister des europäischen Mächtegleichgewichtes nach 1871. Dagegen war seine innenpolitische Bilanz von jeher überschattet vom Scheitern seiner Bemühungen, den politischen Katholizismus durch den so genannten Kulturkampf in seine Schranken zu weisen und die aufstrebende Sozialdemokratie zu marginalisieren.

Der Wuppertaler Historiker Johannes Janorschke hat nun in einer akribischen Studie den Versuch unternommen, auch das bisher glanzvolle Bild Bismarcks als bestimmender Außenpolitiker auf der europäischen Bühne zurecht zu rücken. Das von ihm untersuchte Beispiel der so genannten Krieg-in-Sicht-Krise vom Frühjahr 1875 hätte dazu nicht besser ausgewählt sein können, gilt doch der gescheiterte Versuch des „Eisernen Kanzlers“, das überraschend schnell wiedererstarkte Frankreich außenpolitisch zu isolieren und zugleich in seinen außergewöhnlichen Rüstungsanstrengungen zu behindern, allgemein als seine größte diplomatische Niederlage.

Hatte Bismarck aber die Krise überhaupt ausgelöst? Ihre komplexe Genese rekonstruiert Janorschke – und das ist zugleich der neue Ansatz seiner Studie – nicht mehr allein aus Bismarcks politischen Schachzügen, sondern hauptsächlich aus dem komplexen Beziehungs- und Interessengeflecht der europäischen Diplomatie, die sich mit der neuen Militärmacht in der Mitte Europas nur schwer abfinden konnte. Das galt insbesondere für das Zarenreich, Preußens traditionellem Bündnispartner seit der Zeit der antinapoleonischen Befreiungskriege. In den Augen der russischen Diplomatie galt der Hohenzollernstaat immer noch als Juniorpartner. Bismarcks Versuch im Februar 1875, durch die Entsendung seines Interimsbotschafters Joseph Maria von Radowitz in St. Petersburg mehr Unterstützung für seine antifranzösische Politik einzufordern, stieß daher bei Staatskanzler Alexander M. Gorchakov auf kalte Ablehnung. Der Doyen der europäischen Diplomatie betrachtete sich trotz Bismarcks bemerkenswerter Triumpfe immer noch als dessen politischen Mentor und hatte überdies keinerlei Interesse an einer weiteren Schwächung Frankreichs. Die so gründlich geschlagene Dritte Republik wiederum war verzweifelt bemüht, ihren alten Großmachtstatus zurück zu gewinnen und begann nach der vorzeitigen Rückzahlung der Reparationen an das Reich mit einem ambitionierten Aufrüstungsprogramm. Erwartungsgemäß wurde Frankreichs Kadergesetz vom Frühjahr 1875 vom Großen Generalstab in Berlin argwöhnisch beobachtet und ausführlich im renommierten Militärwochenblatt kommentiert. Insbesondere die beabsichtigte Aufstellung eines vierten Bataillons je Regiment hätte im Kriegsfall die sieggewohnte preußische Armee und ihre süddeutschen Verbündeten von Anfang an in die Defensive gebracht.

Diese professionellen Besorgnisse der Militärs an der Moltkebrücke lagen noch ebenso im Bereich des Tolerablen wie Bismarcks zeitgleicher Versuch, durch ein Ausfuhrverbot für Pferde die Erneuerung der französischen Kavallerie zu verzögern. Als aber am 9. April 1875 in der „Berliner Post“ unter dem dramatisierenden Titel: „Ist der Krieg in Sicht?“ ein Artikel im typischen regierungsamtlichen Stil die Möglichkeit eines deutschen Präventivkrieges gegen eine angeblich drohende Koalition der katholischen Mächte Frankreich, Italien und Österreich-Ungarn erwähnte, versetzte dies die europäischen Höfe sofort in äußerste Unruhe. Immerhin galt sein Verfasser, der Journalist Konstantin Rößler, als regierungsnah und hatte auch schon für Bismarcks berüchtigtes Pressebüro gearbeitet.

Die damit entfachte Sorge vor einem neuerlichen Krieg wurde zwei Tage später durch das halbherzige Dementi Bismarcks in der offiziösen Norddeutschen Allgemeinen Zeitung noch weiter geschürt. Zwar hatte der Reichskanzler darin allen Präventivkriegsspekulationen eine klare Absage erteilt, zugleich aber noch einmal auf den bedrohlichen Charakter der französischen Rüstungen hingewiesen. Eine wirkliche Entwarnung schien erst einzutreten, als Kaiser Wilhelm I. am 15. April 1875 anlässlich eines Empfangs im Berliner Schloss den französischen Botschafter durch eine versöhnliche Bemerkung beruhigen konnte.

Den für Bismarck bitteren Schlusspunkt unter die Affäre setzte aber schließlich sein russischer Widersacher, Minister Gorchakov, der während eines Zarenbesuches in Berlin, rund vier Wochen später, in einer Zirkulardepesche an seine Botschafter und Gesandten mitteilen ließ, dass der europäische Frieden erst jetzt durch das Eingreifen des Zaren endgültig gesichert worden sei. Im Vorfeld seines Schachzuges hatte der Russe durch Zusagen in Turkmenien, die sich später als wertlos herausstellten, sogar das anfangs zögerliche Großbritannien in seine Bemühungen einbezogen. Auch wenn die gleichfalls aufgeforderten Mächte Italien und Österreich-Ungarn an der geplanten Demütigung Bismarcks lieber nicht teilnehmen wollten, war somit der fordernden und forschen Außenpolitik des Reichsgründers ein empfindlicher Dämpfer erteilt. Mit Russlands Eintreten für Frankreich und Großbritannien an seiner Seite hatte erstmals jene Mächtekonstellation Gestalt angenommen, die auch später im Ersten Weltkrieg gegen das Reich stand.

Obwohl die Krieg-in-Sicht-Krise von 1875 in der Forschung bereits ausführlich erörtert wurde, ist es Janorschke durch seinen multiperspektivischen Ansatz gelungen, die Ereignisse in einen größeren Kontext einzuordnen und dabei auch die dominierende Rolle Bismarcks im europäischen Konzert zu relativieren. Auch wenn es der Reichskanzler stets verstanden hat, mit vielen politischen Bällen zu jonglieren, so scheint er doch nicht hinter Rößlers Alarmartikel gestanden zu haben und von dessen Tenor und seinen Folgen ebenso wie die übrige diplomatische Welt überrascht worden zu sein. Bismarck hat somit die Krise weder willentlich ausgelöst noch in ihrem Verlauf kontrolliert. Janorschke widerspricht damit insbesondere der Meinung Ulrich Lappenküpers, der noch hinter Rößlers Artikel in der Berliner Post eine gezielte Provokation Bismarcks vermutete, die der Reichskanzler initiiert hatte, um nach dem Scheitern der Radowitz-Mission in St. Petersburg den verbleibenden außenpolitischen Spielraum des Reiches auszuloten.

Dagegen zeichnet Janorschke auf der Basis seiner sorgfältigen Analyse der Politik der maßgeblichen Mächte das Bild eines Reichskanzlers, der das europäische Staatenkonzert erheblich weniger dominierte als es die Forschung bisher vermutet hatte. Seine detailreiche Studie ist gleichwohl sehr gut zu lesen und kann nicht nur als ein Standardwerk zur Krise selbst, sondern auch zur europäischen Diplomatiegeschichte der 1870er-Jahre gewertet werden. Ein geringfügiges Manko stellt sein Verzicht auf russische Quellen dar, den der Verfasser mit mangelnden Sprachkenntnissen und der schwierigen Archivlage in Russland entschuldigt. Der Rückgriff auf die Stimmen amerikanischer Beobachter ist dafür nur ein partieller Ersatz.

Titelbild

Johannes Janorschke: Bismarck, Europa und die "Krieg-in-Sicht"-Krise von 1875.
Schöningh Verlag, Paderborn ; München ; Wien ; Zürich 2010.
513 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783506767080

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