„Gegen literarische Attentate wie im Werk von Karl Kraus können wir als Literaturwissenschaftler gar nichts haben“

In seiner Studie „Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft“ beschäftigt sich Manfred Schneider mit der Geschichte des Attentats. Ein Gespräch

Von Max BeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Max Beck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karlheinz Stockhausen bezeichnete 9/11 als „das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt“. Wiglaf Droste nannte die Anschläge kürzlich in der „Jungen Welt“ die „Geburtsstunde der bemannten fliegenden Architekturkritik“. Was sagen diese ungeheuerlichen Äußerungen über die Rolle der Bilder von 9/11?

Droste und Stockhausen machen mit ihren extremen Äußerungen deutlich, dass es die Bilder sind, die sich in die Gedächtnisse eingebrannt haben und nach wie vor diese enorme Wirkung auslösen, die sich in einer Bibliothek von Kommentaren, Analysen und auch Spekulationen zu dem Ereignis niederschlägt.

Das Attentat von 9/11 ist ja auf die Bildlichkeit und das Visuelle hin ausgelegt gewesen. Die schrecklichen Opfer, die dabei zu beklagen sind, waren dabei nicht in erster Linie Ziel des Anschlags. Tatsächlich ging es darum, ein so gewaltiges Zeichen und Symbol der westlichen Macht und der ökonomischen Überlegenheit zu verletzen. Die westliche Welt hat das Attentat daher auch nicht als Zerstörung eines Gebäudes aufgefasst, sondern als eine symbolische Handlung, die sie ins Mark getroffen hat.

Wie hat sich die Rolle des Bildes für das Attentat historisch entwickelt?

Die Gewalt des Attentäters ist auf das Bild der Macht ausgerichtet, er möchte dieses Bild vernichten. Es ist diese spektakuläre, im wörtlichen Sinne, also auf den Augensinn ausgelegte Dimension der Gewalt. Das ging in der Geschichte des Attentats schon los mit Cäsar, der sich unglaublich geehrt sah durch den Götter- und Bilderkult um ihn. Die Attentäter des Jahres 44 wollten diese gewaltige Ausstrahlung auslöschen.

Man sieht daran, dass das Politische immer schon neben allem Repräsentativem eine visuelle Seite hatte und dass die Attentatsgewalt meistens darauf zielt, ein Bild, das sie nicht als machtadäquat betrachtet, zu vernichten. In der Moderne gehört es zumeist zur Fantasie des Attentäters, das eigene Bild an die selbstgeschaffene Leerstelle der Macht zu setzen.

Dieser ikonoklastische Antrieb hat sich in Zeiten der technischen Bildmedien, die es seit dem 19. Jahrhundert gibt, zum Hauptgrund der Attentatsgewalt entwickelt. Die Macht in den demokratischen Staaten hat ja diese Seite, dass sie sich ihrer selbst geradezu schämt. Die Macht zeigt sich eigentlich nicht. Die Herrscher und Mächtigen leben in einem visuellen Understatement.

Dieses Missverhältnis zwischen der Macht, die man ahnt – natürlich auch imaginär potenziert –, und dem Bild, das die Politik zeigt und ist, ist für die Gewalthandlung des Attentäters ein ausschlaggebendes Motiv.

Im alltäglichen Sprachgebrauch gilt Paranoia gemeinhin als etwas der Vernunft Äußeres, der Paranoiker gilt als „verrückt“. Sie nennen Paranoia hingegen „Hypervernunft“.

Mir ist es wichtig zu betonen, dass die Paranoia ein Typ der Rationalität ist. Dass ihr eben nicht Verwirrung, Demenz oder dergleichen zugrunde liegt. Die radikalisierte Rationalität führt die Phänomene immer auf eine Ursache zurück. Im Raum des Politischen stellt der Mächtige für den Paranoiker den Grund alles Übels dar. Für den Rationalitätstyp der „westlichen“ Mentalitäten gilt eben das Prinzip, dass alle Phänomene dann verstanden sind, wenn ihr Grund bekannt ist. Dieses Prinzip der Kausalität ist in der wissenschaftlichen Praxis und im Alltag immer umgeben von Abgleichungsmöglichkeiten und Abgleichungsverfahren, sodass man natürlich auch sieht, dass das mit den Gründen nicht immer so eindeutig und klar ist.

Für die Paranoia gibt es aber die anderen Register des Abgleichens nicht. Sie kennt nicht die Skepsis, den Vorbehalt, die Einfühlung, die Ironie oder Intuition. Die Paranoia in ihren radikalen Ausprägungen ist eine Überzeugungskrankheit. Für sie spielt sich das Denken alleine in den Bezügen der Phänomene mit ihrem Grund ab. Und hinreichende Gründe sind dann immer solche, die Übel hervorbringen.

Ist Ihrer Ansicht nach also jeder Attentäter ein Paranoiker?

Ich habe diesen dominierenden Typus in der Geschichte betrachtet. Ich mache den Unterschied zwischen dem politischen Mord und dem Attentat. Letzteres wird wesentlich von Einzeltätern begangen in der Annahme, dass das Opfer absolut notwendig ist. Und da wird man sicherlich sagen können, dass immer dort, wo es nicht darum geht, einen Tyrannen zu beseitigen oder eine ersichtlich ungerechte politische Gewalt, dieser Modus von paranoischer Wahrnehmung dominiert. Vor allem in der modernen Zeit, wo ein Übermaß an Information auch ein Unmaß an Verdacht hervorbringt.

Sie schreiben, der Paranoiker arbeite mit monokausalen Erklärungen, er beschuldige beispielsweise „das Kapital“ oder „die Juden“. Wird die „Kritik der paranoischen Vernunft“ hier nicht beliebig, wenn sie keinen Unterschied mehr zwischen einer beispielsweise materialistischen Kapitalismuskritik und der Einstellung des Antisemiten macht, die nichts mit dem realen Verhalten von Juden zu tun hat?

Es geht mir ja nicht darum, das eine mit dem anderen in einem Topf zu werfen. Kapitalismuskritik ist natürlich absolut notwendig und es wird immer sichtbarer, wie notwendig sie ist. Wenn jemand aber in dieser einen Dimension von Kausalität denkt, indem er sagt, ich muss jetzt in Manhattan 20 Banker umlegen um den Kapitalismus zu beseitigen, denn diese Leute sind der Grund des Übels, ihr Charakter, ihre Eigenschaften, dann blicken wir in das Herz dessen, was ich als paranoische Vernunft bezeichne.

Des Weiteren beschreiben Sie den Attentäter als „Geschichtsphilosophen“. Ist das nicht ein Affront gegen jede Form der Geschichtsphilosphie?

Wenn jemand schlechte Geschichtsphilosophie betreibt, ist damit nicht gleich die gesamte philosophische Tradition diskreditiert, so ist das ist nicht gemeint.

Trotzdem betrifft das Kapitel in meinem Buch, in dem ich mich mit der Geschichtsphilosophie auseinandersetze, eine besondere Form der Deutung der historischen Evolution der Moderne, die ja auch diesen gemeinsamen Zug zeigt, dass die Kräfte der Geschichte, des Politischen, des Wandels und der Evolution auf einen Punkt fokussiert werden. Es sind Universalkategorien: Mal die Vorsehung, mal die Vernunft, mal die Produktivkräfte, mal der Geist. Diese Struktur, Zeit und Veränderung aus einem womöglich metaphysischen Grund heraus zu erklären, ist dem paranoischen Denken durchaus affin. Das hat manche Kritiker des Buches auch irritiert.

In dieser Tradition der Geschichtsphilosophie bleibt das Denken von Kontingenz ein Problem, das gilt für alle theoretischen Modellierungen von Zukunft und zukünftiger Entwicklung.

Sie beschreiben die „paranoische Vernunft“ im Zusammenhang mit der Leugnung von Kontingenz. Bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno heißt es in der „Dialektik der Aufklärung“: „Paranoia ist das Symptom des Halbgebildeten. Ihm werden alle Worte zum Wahnsystem, zum Versuch, durch Geist zu besetzen, woran seine Erfahrung nicht heranreicht, gewalttätig der Welt Sinn zu geben, die ihn selber sinnlos macht, zugleich aber den Geist und die Erfahrung zu diffamieren, von denen er ausgeschlossen ist, und ihnen die Schuld aufzubürden, welche die Gesellschaft trägt, die ihn davon ausschließt.“

Natürlich ist diese Kritik ein ganz wichtiger Beitrag. Sie bleibt aber vollkommen fokussiert auf den Antisemitismus und das, was sich um den Antisemitismus herum gebildet hat. Mir scheint es eben ganz verkehrt, die Paranoia, wie es hier geschieht, intellektuell zu disqualifizieren. So missversteht man sie vollkommen und macht sie klein und verkennt auch ihre Kräfte und ihre Gewalt in ganz anderen Kontexten.

Das Wort von der Halbbildung trifft sicher auf jede Menge von antisemitischen Schriften und auch wissenschaftlichen Abhandlungen zu. Aber das ist nicht der richtige Weg, um sich mit dem Gestaltreichtum dieser Denkform auseinander zu setzen. Im Gegenteil entdeckt man nicht selten einen enormen intellektuellen Aufwand in paranoischen Systemen. Nicht die Dummheit der Paranoia wird geschichtsmächtig, sondern ihr Gegenteil.

Nicht nur in der Politik ist allerorten der Ruf nach „Transparenz“ zu hören. In Zeiten von „Wikileaks“ oder der aktuell erfolgreichen „Piratenpartei“, die unter anderem eine „AG Transparenz“ betreibt, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Transparenz und Paranoia.

Das Verlangen nach Transparenz ist der tiefe Wunsch und Wille der Moderne überhaupt. Man kann das verfolgen von René Descartes, über Jean-Jacques Rousseau und die Gesellschaftsutopien des 19. Jahrhunderts bis in unsere Zeit hinein. Diese Transparenz lebt aber in einer fundamentalen Paradoxie: Sie möchte die Welt der Äußerungen, der Entscheidungen, der Entschlüsse, der Gesetze und der Verwaltung durchsichtig machen, das heißt alles ins Licht ziehen. Aber der Wunsch, dass alles durchsichtig wird, heißt, dass das Mediale und Unterscheidende verschwindet.

Ich erhalte die Informationen, die ich mir von dem Transparenzversprechen erhoffe, ja immer nur in einer vermittelten Gestalt. Und wenn ich einen solchen fundamentalen Verdacht gegenüber dem Medialen erhebe, gerate ich in diese paradoxe Situation.

Für „Wikileaks“ gilt das eben auch: Ich kann nur dann die Geheimnisse des Politischen in Erfahrung bringen, wenn ich Leute habe, deren Anonymität ich garantiere. Ich kann also das eine Geheimnis nur lüften, indem ich ein anderes erzeuge. Dadurch entsteht auch das Verlangen danach, dass derjenige, der die Geheiminformationen zuspielt, benannt wird und aus seinem Dunkel hervortritt.

Die Paranoia ist genau dieser Typ, sie beruhigt sich nicht. Der Paranoiker blickt hinter das eine Geheimnis, sieht dahinter aber wieder das nächste. Insofern ist es ein unendliches und unaufhörliches Begehren, das die Paranoia in Gestalt des Transparenzwunsches treibt.

Sie nennen die „Fackel“ ein „literarisches Attentatsorgan“ und zitieren die berühmten Worte aus der ersten Ausgabe der „Fackel“: „kein tönendes ,Was wir bringen‘, aber ein ehrliches ,Was wir umbringen‘“. Diskreditiert das nicht das Werk von Karl Kraus?

Nein, im Gegenteil. Gegen literarische Attentate, die eine solche literarische Form wie im Werk von Karl Kraus annehmen, können wir als Literaturwissenschaftler gar nichts haben. Es ist schon etwas anderes, ob ich nach Messer oder Pistole greife oder in einer solchen lebenslangen Arbeit üble Figuren wie Imre Békessy oder Johann Schober angreife.

Kraus galt die Phrase und die sie verbreitende Presse als Symptom des Weltübels. Er verstand sie nie als Ursache: „Ich habe die Presse nie als Ursache, sondern immer nur als Wirkung verklagt“, schrieb Kraus 1912. Er sah die Phrase als Symptom einer falsch eingerichteten Welt. Dieses Verhältnis von Kraus zur Sprache beschreiben Sie als paranoisch?

Der Gedanke, der die Fackel durch die 37 Jahre hindurch prägt, ist die Vorstellung, dass sprachlich inadäquate Darstellungen der Welt weltzerstörerische Wirkung haben, dass sie beteiligt sind an den negativen Kräften des Kapitalismus, natürlich an denen des Krieges, aber auch an Übeln wie die der Frauenfeindschaft und des Antisemitismus. Diese Idee, dass von einem falsch gesetzten Komma, einer solchen Kleinigkeit, schwere Weltübel ausgehen können, ist ja nun gerade das zentrale Moment der Paranoia: Von einem Grund aus großformatige Weltübel zu erklären.

Was bei Kraus ja auch schon mal dazu führte, dass er die Druckmaschine stoppte, um ein falsch gesetztes Komma in der „Fackel“ zu korrigieren.

Kraus hat ja auch seine Leser dazu aufgefordert, nach Fehlern zu suchen, besonders in den frühen Ausgaben der „Fackel“. Das ist natürlich auf der einen Seite sprachästhetisch und typografieästhetisch ganz grandios und geradezu vorbildlich. Es ist aber eben auch getragen von der gewaltigen Angst, dass solche Fehler schwerwiegende, geradezu welthistorische Wirkung haben könnten.

Das meistdiskutierte Attentat in diesem Jahr war das von Anders Breivik. Sie schreiben in Ihrem Buch: „Er [der Attentäter, M. B.] zieht seine Gewissheit und Kraft zu seiner Tat aus Gemeinwissen und vor allem aus Büchern. Er liest und schreibt.“ Ist Breivik mit seinem „Manifest“ also ein prototypischer Attentäter?

Dieses „Manifest“ von Breivik, das ja rund 1.600 Seiten umfasst, besteht wesentlich aus Zitaten und dann eben aus eigenen Deutungen und Interpretation der Phänomene der Moderne, die ihn so stören. Insofern ist er geradezu ein paradigmatischer Fall. Sich aus Schriften und Dokumenten ein Weltbild zusammen zu bauen, einige, ganz wenige Feinde zu identifizieren und im Geiste des Selbstopfers aufzutreten, um mit einer schrecklichen Gewalttat diese „Übel“ zu beseitigen, ist prototypisch.

Ist das „Manifest“ in seiner Ausführlichkeit in der Geschichte des Attentats eine Ausnahme? Welche Rolle spielt überhaupt die Begründung für das Attentat?

So geduldige Autoren wie Breivik sind wohl nur ganz wenige Attentäter. Dass sie ihre Taten ungeheuer lang vorbereiten, dass sie mit Hilfe des Schreibens den Tatwillen in sich selber „hochtunen“ und häufig zwei oder drei Jahre brauchen, bis sie soweit sind, das ist ein häufig zu beobachtendes Detail. Die meisten Attentäter betonen dann auch, dass sie keine Mörder aus Blutdurst sind, sondern dass es darum geht, die Welt zu retten.

Der Untertitel Ihres Buches lautet „Kritik der paranoischen Vernunft“. In welche Tradition wollen Sie sich damit einordnen?

In der Konzeption der Paranoia spielt Immanuel Kant eine wichtige Rolle. Von daher ist das eine Reverenz gegenüber Kant. Mit ihm möchte ich betonen, dass die Paranoia, die im common sense als Inbegriff der Verrücktheit betrachtet wird, eine rationale Struktur hat. Wenngleich leider häufig mit diesen abscheulichen und furchtbaren Konsequenzen. Aber ich betrachte die Kritik der Paranoia als eine ganz wichtige Aufgabe die uns, zumal als Literaturwissenschaftlern, aufgegeben ist. So spielt auch ein kleiner missionarischer Zug in diesen Titel mit hinein.

Titelbild

Manfred Schneider: Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2010.
761 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783882215373

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