Das Stück Papier als Ort des Ichs

Topografie und Textualität in Jan Philipp Reemtsmas Geiselhaftbericht „Im Keller“

Von Irmela Marei Krüger-FürhoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irmela Marei Krüger-Fürhoff

Comment un témoignage peut-il
échapper à la loi idyllique du récit?

Sarah Kofman, Paroles suffoquées

I.

33 Tage Geiselhaft und 30 Millionen DM Lösegeld – so lautet die knappe Bilanz der Entführung Jan Philipp Reemtsmas. Vom 25. März bis 26. April 1996 war der promovierte Literaturwissenschaftler und geschäftsführende Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung in einem schleswig-holsteinischen Kellerraum angekettet, bis er nach dem erfolgreichen dritten Versuch der Geldübergabe freigelassen wurde. Diese Entführung hat Reemtsma einschneidender und nachdrücklicher zu einer öffentlichen Person gemacht, als dies seine Arno Schmidt Stiftung oder selbst die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht je vermocht hätten. Jene Pressedarstellungen des Frühjahrs 1996, die Reemtsma nicht auf den Status eines „Zigarettenerben“ reduzierten und damit die Perspektive der Täter wiederholten, waren vor allem am doppelten Blick des Entführten interessiert. Denn als Wissenschaftler, der sich mit Folter, Traumatisierung und anderen Formen beziehungsweise Folgen individueller wie institutioneller Gewalt beschäftigt hatte, befand sich Reemtsma zugleich in der Position des Opfers und des Professionellen. Seine Entführung geriet auf diese Weise zu einer experimentellen Anordnung, in der persönliche Erfahrung, Selbstbeobachtung und sozio-psychologische Deutungskompetenz einander beständig kommentierten. Mit der Eröffnung des Gerichtsverfahrens gegen den Initiator der Entführung, der im Frühjahr 2001 zu vierzehneinhalb Jahren Haft verurteilt wurde, avancierte Reemtsma erneut zum Mittelpunkt des Medieninteresses, dieses Mal in der Doppelrolle als Nebenkläger und strafrechtstheoretisch informierter Bürger, der individualpsychologische Reaktionen – wie Rache- und Vergeltungswünsche – von institutionalisierten juristischen Konzepten – wie Unrecht und Strafe – abgrenzt.[1] Zu den Fixpunkten dieser Berichterstattung gehörten Hinweise auf den Geiselhaftbericht „Im Keller“, doch sei dabei – so Reemtsmas Kritik – die „innere Geschichte dieses Verbrechens“[2] als Steinbruch für Zitate und eine tendenziöse Berichterstattung missbraucht worden.[3] Aus literaturwissenschaftlicher Sicht überrascht weniger die – wohlgemerkt vereinzelte – Instrumentalisierung des Buches als seine Abwesenheit in Debatten zu Autobiografieforschung, Gewaltdarstellungen und Opferdiskursen ‚nach Auschwitz‘. Diesen Aspekten gilt deshalb die Aufmerksamkeit meiner Lektüre.

„Im Keller“ ist ein gradliniges, mitunter lakonisches, ja gelegentlich selbstironisches Werk, das sich scheinbar schon deshalb ‚von selbst versteht‘, weil es sich selbst und sein Thema beständig reflektiert. Die Erstausgabe erscheint im Januar 1997 in der Hamburger Edition, also dem Hausverlag des Instituts für Sozialforschung, im Jahr darauf folgt die Taschenbuch-Ausgabe. Der Umschlag des inzwischen allein bei Rowohlt 30.000 Mal verkauften Buches gewährt den Blick in einen nackten Raum, dessen grau-weiße Monochromie – Heizkörper, Doppelstecker, Türblatt – eher an die Gesichtslosigkeit eines durchschnittlichen Neubaus denn an die düsteren Schrecken eines mythisch aufgeladenen Kerkerraums denken lässt. Trotz dieser dezenten Aufmachung ist „Im Keller“ insofern ein beunruhigendes Buch, als es vom Einbruch bedrohlicher Kontingenz in ein wohlsituiertes Leben Zeugnis ablegt. Die Gewalt von Überfall, Verschleppung, Gefangenschaft und Todesangst wird als rupture geschildert, als „Widerfahrnis extremer Diskontinuität“, die sich laut Reemtsma nicht mit der verharmlosenden, weil auf Kontinuität ausgerichteten Kategorie der „Erfahrung“ fassen lässt (45).[4]

Das Prinzip der Unterbrechung schlägt sich auch in der Untergliederung des Textes in vier Teile nieder. Das Buch beginnt – euphemistisch gesagt – mit dem happy-end, also mit Reemtsmas Rückkehr nach Hause und seiner Reaktion auf die Medienberichterstattung. Anschließend folgt die Rekonstruktion der Fakten aus der Perspektive von Familie und Polizei. Die in diesem Teil abgedruckten Erpresserbriefe bekräftigen den Anspruch auf Authentizität und versetzen den Leser zugleich in die Position der bangenden Außenwelt: Nicht nur der Inhalt, sondern auch die Schreibweise der Botschaften in Großbuchstaben ohne Satzzeichen erzwingen eine stockende Lektüre, die wie ein fernes Echo auf die Fassungslosigkeit der ursprünglichen Adressaten erscheint. Erst nach diesem zweifachen Zwischenschritt wendet sich das Buch dem Erleben im Keller zu; die im Präteritum erzählte Chronologie der Ereignisse von der nächtlichen Überwältigung über die knapp fünfwöchige Geiselhaft bis zur Aussetzung in einem Wald nimmt gut die Hälfte des Buches ein. Dieser doppelten Innenperspektive – der Leser erhält Einblick in die Psyche des Protagonisten und er teilt dessen Einkerkerung – folgt ein etwa siebzigseitiger Epilog, der sich dem Leben nach dem Keller widmet und dabei ähnlich wie die Eingangspassage das subjektive Erleben reflexiv bündelt. In dem so entstandenen Rahmen formuliert der Autor auch die Intention seines Buches, die sich wohl am leichtesten mit dem presserechtlichen Begriff der ‚Gegendarstellung’ umschreiben ließe. „Im Keller“ ist Reemtsmas Versuch, sich seine eigene Geschichte in einer zweifachen Abgrenzungsbewegung zu erschreiben. Zum einen wendet er sich gegen jene Mediendarstellungen, die seine Geiselhaft als ‚deluxe version‘ charakterisieren und damit die verharmlosende Einschätzung der Bewacher übernehmen; zum anderen bricht er im Gestus des Verrats die „aufgezwungene Intimität“ (46) mit den Entführern auf, die unter anderem auf dem geteilten Wissen über die 33 Tage im Keller beruht. Diese Selbstermächtigung des Objekts von Gewalt und medialer Berichterstattung zum schreibenden Subjekt und Deuter des eigenen Lebens folgt einer im klassischen Sinne aufklärerischen Überzeugung: „Das einzige Mittel gegen ungewollte Intimität ist Veröffentlichung.“ (17)

Im Gegensatz zu Reemtsmas anderen Büchern, die sich als Aufsatzsammlungen oder wissenschaftliche Monografien präsentieren, trägt „Im Keller“ keine Gattungsbezeichnung. Obwohl der Text jedoch zwischen autobiografischem Protokoll, psychologischer Erzählung, Abenteuer- beziehungsweise Kriminalroman und wissenschaftlichem Essay changiert, basiert er auf einem Prinzip, das Philipp Lejeune den „autobiographischen Pakt“ genannt hat. Dieser Pakt legt erstens fest, dass eine „Identität zwischen Autor, Erzähler und Figur“ besteht[5] – tatsächlich taucht der Name ‚Jan Philipp Reemtsma‘ auf allen drei Ebenen auf –, und er versichert zweitens, daß es sich um einen referentiellen Text handelt, der auf eine außertextuelle Wirklichkeit zielt und an dieser überprüfbar ist.[6] Lejeune nennt die Autobiografie eine „vertragliche Gattung“,[7] eine Charakterisierung, die im Falle von „Im Keller“ eine interessante Wendung erhält, weil das Buch im juristischen Sinne als vorgezogene Zeugenaussage eingesetzt wurde: Unmittelbar vor Beginn des ersten Prozesses im Januar 1997 wurden Auszüge im „Spiegel“ vorabgedruckt.[8] Zu diesem Kontext passt, dass Reemtsma selbst erklärt, sein Buch verzichte nicht nur weitgehend auf literarische Hilfsmittel, sondern versage sich vor allem jede „Lizenz zur Fiktion“ (46).

Dass das bundesdeutsche Feuilleton dem Text gleichwohl literarische Qualitäten attestierte, liegt vermutlich auch an einer Stilfigur: dem wiederholten Wechsel zwischen erster und dritter Person Singular, also zwischen schreibendem Ich und die Entführung erlebendem Er. Mit der distanzierenden Geste ‚Er ist ein anderer‘, die an Rimbauds berühmtes Diktum erinnert, macht Reemtsma sich selbst gleichsam zu einer literarischen Figur, die er als Erzähler von außen kommentiert. Dabei fungiert die Trennung als sprachliches Äquivalent einer Gewalterfahrung, die sowohl das Individuum selbst als auch seine soziale Einbettung betrifft. „Das Gefühl, das vorhanden sein muß, damit einer unbefangen die erste Person Singular gebrauchen kann, […] bedarf einer komplexen Beziehung zur Außenwelt“ (199), heißt es im Buch. Genau diese Beziehung bricht jedoch in der Geiselhaft zusammen und lässt sich für diese Zeit auch im Schreibakt nicht mehr rekonstruieren. Es gibt – so der Erzähler – „keine Ich-Kontinuität von meinem Schreibtisch zu dem Keller […], von dem ich zu schreiben haben werde“ (46). Mit einem Seitenblick auf Dostojewski ließe sich also sagen, dass für Reemtsma keine „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“ existieren, sondern nur die zurückgelassenen Tagebuchnotizen eines Ich im Keller und die nachträglichen, in Er-Form gehaltenen Aufzeichnungen über dieses eingekerkerte Ich.[9] Ich folge dieser Trennung, indem ich Zitate aus den ‚Ich-Passagen‘ als Aussagen des Erzählers bzw. Reemstmas bezeichne, bei Zitaten aus ‚Er-Passagen‘ dagegen vom ‚Protagonisten‘ spreche.

Die Frage nach Literarizität und Fiktionalität betrifft jedoch nicht erst die sprachliche Darstellung der Entführung, sondern bereits ihren Verlauf. So erklärt der Rezensent Claudius Seidel in der „Süddeutschen Zeitung“: „Für Entführer wie für Entführte gibt es in der eigenen Erfahrung keine Maßstäbe – man entführt nur einmal, wird nur einmal entführt. Und wenn es darum geht, die Koordinaten des Handelns zu bestimmen, bleiben nur die Logik, die schnell an ihre Grenzen stößt, und jene Entführungsgeschichten, die man aus Kino, Büchern, Fernsehen kennt. An diesen Vorbildern orientieren sich die Handlungen – und so hat sich Reemtsma während der Geiselhaft in eine fiktive Figur verwandelt: Die Welt, in die er geworfen wurde, war auf Imagination gebaut, und selbst die Fluchtwege, seine Bücher und Gedanken, beruhten auf Fiktionen.“[10]

Was Seidel hier mit dem auf den ersten Blick gemütlich anmutenden Begriff der Fiktion charakterisiert, ließe sich präziser als kulturelle Codierung der Entführung bezeichnen. Denn die Willkürakte von Überfall, Geiselhaft, Lösegeldzahlung und Freilassung folgen differenzierten Spielregeln, die beide Seiten deshalb miteinander teilen, weil sie textuell und medial vorgeprägt sind. Indem die Gewalttat im Buch selbst als „Patchwork“ (118) und „Zitat vorangegangener Entführungen“ (14) gedeutet wird – beispielsweise mit Blick auf die Reinszenierung des Schleyer-Fotos, das Interesse der Entführer an einem Pfarrer als Vermittler oder den an Aldo Moro erinnernden Transport der Geisel in einem Kofferraum – deutet „Im Keller“ die persönliche Diskontinuitätserfahrung als Variation kultureller Ordnungsmuster. Individuelle Willkür und kulturelle Codierung der Geiselhaft werden also beständig ineinandergeblendet. Dieses doppelte Bewusstsein um Kontingenz und Regelhaftigkeit schwächt einerseits die Einmaligkeit der Opferposition, integriert aber andererseits das Erleben des Protagonisten in einen umfassenden Horizont von Gewalterfahrung und ihrer Diskursivierung.

Die Einschätzung der „Süddeutschen Zeitung“, Reemtsma habe sich während der Entführung in eine fiktive Figur verwandelt, möchte ich zum Ausgangspunkt meiner Interpretation machen und im folgenden in zwei Richtungen argumentieren, die sich mit den Begriffen Textualität und Topografie umreißen lassen. Zum einen geht es darum, das Gefüge intertextueller Verweise innerhalb von „Im Keller“ zu analysieren. In dem Maße – so meine erste These –, wie der Protagonist eine Bestätigung kulturkritischer und essayistischer Schriften vor allem von Sigmund Freud und Jean Améry ist, kann er selber als Texteffekt verstanden werden. Zum anderen soll den Beschreibungs- und Ordnungsmustern von Räumlichkeit nachgegangen werden, die weit über das konkrete setting der Gefangenschaft hinausgehen. Reemtsmas „Im Keller“ trägt seinen Titel nicht lediglich deshalb, weil es intime Einblicke in einen mit einer Vielzahl kultureller Bilder verknüpften Ort gewährt, sondern weil es mit erstaunlicher Beharrlichkeit versucht, die physischen und psychischen Facetten von Entführung und Geiselhaft in eine differenzierte Metaphorik des Raumes zu übersetzen. Alle anderen Themen – wie Körperlichkeit, Identität und Autorschaft – werden als Spielarten von Raumerfahrungen präsentiert. Meine zweite These lautet deshalb, dass sich der Protagonist als Punkt innerhalb eines Koordinatensystems realer und imaginärer Räume verstehen lässt und auf diese Weise seinerseits zu einem Raumeffekt wird.

II.

Eine Analyse von Textualität und Topografie muss natürlich mit jenem zentralen Raum beginnen, der im ersten Interview noch als „Verlies“, im Buch jedoch durchgängig als „Keller“ bezeichnet wird.[11] Mit dieser Wortwahl führt Reemtsma seine Leser einerseits in einen häuslichen Vorratsraum: Etymologisch geht „Keller“ auf cella (Klause, Zelle) und cellarium (Vorratskammer) zurück, und tatsächlich wird dort ja die zum Tauschgegenstand degradierte Geisel verwahrt. Zum anderen handelt es sich um einen Ort, der in kollektivem Bewusstsein und Literatur mit Gewalttätigem, Verbotenem und Unheimlichem assoziiert wird; eine Leiche hat man – so weiß der Volksmund – eben im Keller. Vor diesem Hintergrund genügen wenige Details – beispielsweise der Hinweis auf Enge und absolute Dunkelheit beziehungsweise das ausschließlich künstliche Licht –, um den Raum mit der bedrohlichen Imagination all dessen aufzuladen, was „ihm sonst noch hätte angetan werden können“ (138). Der französische Phänomenologe Gaston Bachelard hat gezeigt, dass Räume nicht leer, sondern mit Bildern, ja Fantasmen erfüllt sind. Wollte man mit seiner Poetik des Raumes argumentieren, so müsste die dort verwendete Perspektive der Topophilie, also des glücklichen Raumes und seiner „Intimitätswerte“, für diesen Keller um eine Topophobie ergänzt werden.[12] Dass der Erzähler von „Im Keller“ dennoch nicht auf das Register einer Gothic Novel zurückgreift, sondern die Todesangst mit dem wohlorganisierten Ensemble aus Chemieklo, Campingleuchte und Frischluftgebläse konfrontiert, macht jeden häuslichen „Hundertdutzendort“ (52) zum potentiellen Schauplatz von Gewalt. Auch deshalb spricht Reemtsma mit einem Seitenblick auf Hannah Arendt von der „Banalität des Kellerraums“ (52).

Zu den Schrecken des Kellers gehört, dass er ein unüberwindbarer Innenraum ohne Horizont und ohne ein Außen ist. Die Kette, die die Geisel auf ein Tier im Käfig reduziert – „[i]mmer drei, mal zweieinhalb Schritte hin und wieder her“ (160) – schafft einen Raum im Raum und potenziert damit die Zirkularität der Gefangenschaft. Bis zu 18.500 Schritte geht der Protagonist täglich im Kreis, imaginiert als zurückgelegte Strecke und unterbrochen von Sehnenscheidenentzündungen. Jenseits der Raumerfahrung, die sich über ritualisierte Bewegungen konstituiert, besitzt der Keller keinerlei Koordinaten. Er ist ein „Nicht-Ort“ im Sinne Marc Augés, der diesen Begriff für die identitäts- und geschichtslosen Übergangsräume einer beschleunigten Moderne wie Autobahnkreuze, Einkaufszentren oder Durchgangswohnheime eingeführt hat,[13] aber auch in dem ganz grundlegenden Sinne, dass er weder für das Opfer noch für seine Angehörigen oder die Polizei lokalisierbar ist. Dem Protagonisten ist im Keller jede Außensicht genommen: Er besitzt keinen Spiegel, darf die maskierten Bewacher nicht anblicken, verliert ohne Uhr das Zeitgefühl und ist aus allen topografischen Bezügen herausgelöst. „Er war einfach weg“, heißt es mehrfach im Text (72, 195).

Diese „erratische Exterritorialität“ (18) avanciert zur zentralen Chiffre von „Im Keller“. Er sei, so heißt es über den Protagonisten immer wieder, „plötzlich aus der Welt gefallen. Genauer: geschlagen worden“ (73). Durch das Bild des ‚Aus-der-Welt-Fallens‘ wird die Gewalt dynamisiert und zugleich auf unhintergehbare Weise räumlich codiert: als Einbruch, der das Subjekt aus seinem psychosozialen Kosmos herausschleudert und – in Reemtsmas Fall – in ein Draußen stößt, das ein erzwungenes Drinnen ist. Zugleich ist die topografische Metapher insofern eine Texterfahrung, als sie ein zweifach vermitteltes Zitat darstellt. Erstens greift sie eine Wendung aus Sigmund Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“ von 1930 auf. Die prekäre, für einige Menschen jedoch unumstößliche Gewissheit, nicht aus der Welt fallen zu können, wird von Freud mit dem sogenannten „ozeanischen Gefühl“ gleichgesetzt, also dem Vertrauen in die Stabilität des eigenen Ichs und seiner „unauflösbaren […] Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt“.[14] Zweitens ist das ‚Aus-der-Welt-Fallen‘ ein Selbstzitat des Sozialwissenschaftlers Jan Philipp Reemtsma, der Freuds Metapher in die aktuelle Folter- und Traumaforschung überträgt und dabei in ihr bedrohliches Gegenteil kehrt, also bei Gewaltopfern einen Verlust der Weltzugehörigkeit konstatiert – und durch seine Entführung nun gezwungenermaßen die Validität seiner Zuschreibung überprüft. Diese persönliche Autorisierung der eigenen wissenschaftlichen Denkfigur fällt im Buch mit einem der bereits erwähnten Wechsel zwischen Ich- und Er-Perspektive zusammen: „Für das, was andere hatten erleben müssen, hatte ich mehrfach die Metapher ‚aus der Welt fallen‘ gewählt, und auf unangenehm unmittelbare Weise lernte er jetzt, daß diese Metapher sehr präzise das Gefühl enthielt, das von nun an für die gesamte Zeit von ihm Besitz ergriff.“ (72, meine Herv.)

Während „Im Keller“ die Bezüge zu Freuds und Reemtsmas Schriften ausdrücklich thematisiert, bleibt das Verbindungsglied zwischen diesen beiden Positionen – beziehungsweise dem Dreieck zwischen dem Psychoanalytiker, dem forschenden Ich und dem entführten Er – ungenannt. Es handelt sich dabei um den österreichisch-jüdischen Essayisten Jean Améry, auf den lediglich – und nicht in diesem Kontext – ein kurzes Zitat verweist,[15] dessen Aufsatz „Die Tortur“ aber gleichwohl – so meine Deutung – das Leitbild für Reemtsmas „Im Keller“ darstellt.[16] In dem 1966 erschienenen Essay über seine Folterung durch die SS beschreibt Améry diese Gewalterfahrung als Verlust des „Weltvertrauens“, das heißt als Bruch der Gewissheit, dass „der andere auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt, daß er meinen physischen und damit auch metaphysischen Bestand respektiert.“[17] Bei Reemtsma wird aus dieser seelisch-körperlichen Kategorie eine räumliche; nicht das Vertrauen zerbricht, sondern die Welt selbst verliert ihre Stabilität. In anderen Passagen liest sich „Im Keller“ als direkte schriftstellerische Umsetzung weniger von Améry selbst als von dessen Lektüre durch Reemtsma. So erläutert der Hamburger Philologe in einem 1992 gehaltenen Vortrag, „Die Tortur“ handele vom Angriff auf die Kontinuität eines Individuums und beschreibe deshalb kein Erlebnis, sondern vor allem einen Raum – eine Verschiebung, der „Im Keller“ folgt.[18] Und auch Reemtsmas Reflexion über seine Identität beziehungsweise deren Auflösung, auf die ich noch eingehen werde, deckt sich mit der Argumentation Amérys.

Ich möchte nicht so weit gehen zu behaupten, dass Reemtsma sich in seinem „Im Keller“ als der Améry von „Die Tortur“ imaginiert oder gar inszeniert. Formal liefe dies auf einen Plagiatsvorwurf oder zumindest auf die umfassende Verwendung von Reminiszenzen hinaus; inhaltlich würde es die ethisch brisante Frage nach der Vergleichbarkeit verschiedener Gewalterfahrungen, nach geborgter Authentizität oder gar Anmaßung provozieren, falls nämlich Reemtsma sich mit „Im Keller“ in eine Opferposition einschriebe, in der sich ein individuelles Schicksal – hier seine Geiselhaft, dort Amérys Folter – mit dem kollektiven Trauma der Shoah verknüpft. Reemtsma selbst warnt in seinem Vortrag: „Die Versuchung ist groß für den, der das Glück hatte, so nicht sprechen zu müssen, durchs Zitat seiner [also Amérys] Worte eine Gemeinsamkeit zu erschleichen, die es nicht gibt.“[19] Dennoch bleibt festzuhalten, dass „Die Tortur“ als eine Art Urtext möglicherweise für das Erleben, sicherlich aber für die sprachliche Gestaltung der Geiselhaft fungiert. Neben die allgemeine kulturelle Codierung von Entführung und Haft, die Opfer und Täter miteinander teilen, tritt also in diesem Falle ein spezifischer, aber als solcher nicht explizit gemachter Mastertext – und mit ihm zumindest die Assoziation einer indirekten Teilhabe am symbolischen Kapital des spezifischen Opferdiskurses ‚nach Auschwitz‘.

Die beiden Aufsätze von Freud und Améry bilden die wichtigsten, aber keineswegs einzigen intertextuellen Verweise in Reemtsmas Buch. „Im Keller“ lässt vielmehr durch Anspielungen oder direkte Zitate eine Vielzahl ganz unterschiedlicher literarischer und theoretischer Texte zu Wort kommen – vom Lesestoff, den die Bewacher zur Verfügung stellen, bis zu versteckten Botschaften in den gelegentlich erlaubten oder sogar geforderten Briefen an die Familie, die für den Protagonisten das einzige Sprachrohr zur Außenwelt bilden. Die auf diese Weise entstehenden Text-Koordinaten lassen sich als Versuch deuten, die fehlenden räumlichen Koordinaten zu ersetzen, die eigene Ortlosigkeit durch ein diskursives Netz abzufedern und aus der Exterritorialität zumindest imaginär in eine bislang vertraute intellektuelle Welt zurückzukehren. Textualität und Topografie verbinden sich also an dieser Stelle besonders deutlich. Selbst unabhängig von ihrem Inhalt werden gerade Bücher zur Brücke zwischen Einkerkerung und häuslicher Privatsphäre, so wenn Reemtsma seinem 13-jährigen Sohn vorschlägt, beide sollten jeweils um 17 Uhr den Tageseintrag in der „Chronik des 20. Jahrhunderts“ lesen, um sich durch dieses Ritual einer getrennt-gemeinsamen Lektüre einander nahe zu wissen.

Dass Intertextualität dennoch nur bedingt als Kommunikations- und Überlebensprinzip funktioniert, verdeutlicht eine selbstironische Passage über die Grenzen der philologischen Erkenntnis beziehungsweise ihrer Vermittlung. Weil alle seine Briefe die Zensur der Bewacher passieren müssen, denkt der Protagonist darüber nach, „wie er vermeiden könne, etwas zu schreiben, das man als versteckte Nachricht würde deuten können, und kam zu dem Schluß, daß es nicht zu vermeiden war. Der Verdacht, irgendwo sei eine Nachricht verborgen, produziert seine eigene Evidenz, da er nicht zu widerlegen ist. In der Tat kann man nicht zu dem Schluß kommen, in einem Text sei keine verschlüsselte Botschaft enthalten – man kann stets nur sagen, man habe sie noch nicht gefunden.“ (92f.)

Im Keller mutiert diese Erkenntnis schließlich zur Farce. Weil die Entführer nach zwei gescheiterten Lösegeldübergaben annehmen, sie würden unterschätzt, fordern sie den Protagonisten auf, einen Brief zu schreiben, der versteckte Informationen über seine Geiselhaft enthält – also Informationen, die das Opfer mit Billigung der Täter verbreitet, die jedoch so wirken, als seien sie an diesen vorbeigeschmuggelt und mithin verlässlich. Innerhalb von „Im Keller“ ist die Pointe, dass das Schriftstück des entführten ‚Er‘, das Hinweise auf Goethes „Faust II“ und Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“ enthält, von den philologischen Kommentaren des schreibenden ‚Ich‘ begleitet wird – und vom Eingeständnis, dass weder seine Frau noch die Sonderkommission die Anspielungen als solche bemerkten. Dass ausgerechnet den empathischen beziehungsweise professionellen Lesern die erwartete hermeneutische Kompetenz fehlt, ist ein Ergebnis, das für die interpretierende Literaturwissenschaftlerin durchaus einen zwiespältigen Beigeschmack besitzt. Und ob die literarische Öffentlichkeit wieder gutmachen kann, was Familie und Fahnder versäumten, bleibt ebenfalls fraglich. Vielleicht ist ja der unausgesprochene Dialog mit Améry ein Versuch, das im Keller gescheiterte Spiel verdeckter Hinweise mit dem Lesepublikum von „Im Keller“ zu wiederholen.

III.

Meine Analyse hat Topografie und Textualität zu Leitkategorien von „Im Keller“ erklärt und diese Behauptung anhand einiger Raum-, Lektüre- und Schreiberfahrungen des Protagonisten überprüft. Natürlich liegt der Einwand nahe, die Wahl gerade dieser Aspekte führe zu einer tautologischen Argumentation. Deshalb soll die Reichweite der These, dass Physis und Psyche des Protagonisten als Raum- und Texteffekte verstanden werden können, im folgenden am Zusammenhang zwischen Körperlichkeit, Identität und Autorschaft verdeutlicht werden. Über den Körper erfahren wir einerseits viel – die Rede ist beispielsweise von Kopfwunden und einem beim Überfall gebrochenen Nasenbein, von Taubheitsgefühlen durch Handschellen, von Nierenschmerzen, psychosomatischen Herzbeschwerden und den bereits erwähnten Sehnenscheidenentzündungen – und andererseits sehr wenig, zumindest für ein an sex and crime geschultes voyeuristisches Leseinteresse. Über weite Strecken erscheint der Körper vor allem als Raummaß, nämlich als Verlängerung des durch die Kette vorgegebenen Radius; die für den Protagonisten wichtigen Fragen lauten: erreiche ich mit den Fingerspitzen die Heizung, um das Thermostat zu regulieren, und: wieviel Schritte kann ich gehen. Ansonsten heißt es lediglich lapidar: „Sein Unbewußtes war freundlich zu ihm, ähnlich wie sein Körper“ (74). Erotische Fantasien hätten ihm „nur eingeschränkt zu Gebote“ gestanden (202), und selbst die Schilderung seiner Ausbruchs- und Selbstmordüberlegungen sind in eine selbstauferlegte „Contenance“ (71) gekleidet, weil Reemtsma – wie er im Exklusiv-Interview erläutert – die „Eskalationen“ von Furcht oder Hoffnung gleichermaßen fürchtete.[20]

Trotz dieser Selbstbeherrschung und des geschäftsmäßigen Gebahrens der Bewacher ist eine Entführung natürlich von vorneherein auf Eskalation angelegt; der Höhepunkt im Falle Reemtsma ist allerdings weniger die allgemeine Todesdrohung oder die Erhöhung der Lösegeldforderung von 20 auf 30 Millionen als die Erklärung, bei erneuten Behinderungen durch die Polizei werde man der Geisel einen Finger abschneiden und diesen seiner Familie zusenden. Sie löst jene Briefe aus, die der Erzähler rückblickend als „peinlich“ charakterisiert (98), weil sie der selbstgeforderten Contenance nicht mehr genügen. Auch hier überlagert sich Persönliches mit kulturell vorgeprägten Mustern: „Er rechnete die bisherigen Erfahrungen hoch und schloß daraus, daß man ihm keine Verstümmelungen um ihrer selbst willen zufügen wollte. Also würde es wohl den kleinen Finger der linken Hand als den am wenigsten genutzten treffen. […] Er fragte sich, ob ein Zeh leichter zu entbehren sei (ging es doch wahrscheinlich nur um ein blutiges ‚Ecce‘), und entschied, daß die Folgeprobleme mit einem abgeschnittenen Zeh vermutlich größer wären. […] Immer wieder verband sich ernsteste, brutale Realität mit Irrealem. Einen Finger abschneiden – das war in der Tat, als wäre er plötzlich in einem Mafiafilm aufgewacht.“ (104f.)

Zu der Angst vor Schmerz und Verstümmelung gesellt sich die Befürchtung, die erneute körperliche Überwältigung als „Reprise“ der Entführung und „Reihenbildung“ (105) verarbeiten zu müssen. Die Imagination des Tathergangs ist die einzige Passage von „Im Keller“, in der der Erzählfluss von Auslassungszeichen unterbrochen wird. Der gedanklich vorweggenommene Angriff auf die physische Integrität schlägt sich jedoch nicht nur im Text nieder, sondern auch in der psychischen Verfassung der Geisel – wenn auch anders, als dies vielleicht zu erwarten wäre. Im Epilog seines Buches berichtet der Erzähler von seinen Erfahrungen mit dem sogenannten Stockholm-Syndrom, also der Übernahme der Täterperspektive durch die Opfer sowie deren emotionale oder körperliche Annäherung an die Verbrecher. Als „Professioneller“ (176) erwartet der Wissenschaftler diesen Zustand, kann die Vorfreude auf die kurzen Wortwechsel mit seinem Hauptbewacher und das „Moment des Männerbündischen über die Grenzen auch extremer Gewalt hinaus“ reflektieren (179), empfindet dieses Erleben aber dennoch als „Schändung“ (187): „Einmal hatte er die Phantasie, der Entführer solle ihn trösten, ihn berühren, die Hand auf seine Schulter legen. Es fällt mir nicht leicht, das aufzuschreiben; ihm fiel es nicht leicht, sich diesen Wunsch einzugestehen, denn dieses Gefühl läßt sich nicht einfach als Äquivalent zur menschlichen Stimme darstellen, die man eben hören möchte, egal, von wem sie stammt. Es war ja schon bei der Stimme nicht ganz einfach so. Bei dem Wunsch nach körperlicher Berührung aber ist die Grenze zur Unterwerfung überschritten.“ (178)

Was Reemtsma trotz dieser eindrucksvollen Offenheit verschweigt, ist die Tatsache, dass die emotionale Annäherung an die Erpresser sowohl in der Chronologie der Entführung als auch des Buches in eben der Phase erfolgt, in der die körperliche Integrität der Geisel bedroht wird. Die psychische Grenze des Ichs gegenüber den Tätern verliert also genau dann ihre Kontur, als die physische Grenzverletzung imaginär vorweggenommen wird. Nicht innerer Rückzug, sondern im Gegenteil eine Art „Identifikation mit dem Angreifer“ ist die Antwort der wehrlosen Geisel auf die angedrohte Verstümmelung.[21] Auch diese Dynamik folgt erstens topografischen Vorstellungsbildern und zweitens einer doppelten Texterfahrung. Eine der zentralen Aussagen in Amérys „Die Tortur“ lautet: „Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Die Hautoberfläche schließt mich ab gegen die fremde Welt: auf ihr darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will.“[22] Körper und Ich werden hier gleichermaßen als Räume verstanden, deren Bestand im wörtlichen wie auch übertragenen Sinne von der Unversehrtheit der Haut abhängt. Natürlich besitzt auch dieses Améry-Zitat einen psychoanalytischen Subtext, denn Freud entwirft in seinem 1923 erschienenen Artikel „Das Ich und das Es“ die Herausbildung des Ichs als Folge einer grundlegenden Unterscheidung zwischen Innen und Außen, die sich über die Körperoberfläche konstitutiert. „Das Ich“, so Freud, „ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche“.[23] Und weil – so lässt sich Freuds Überlegung weiterführen – das Ich die psychische Repräsentation dieser physischen Grenze ist, können gewaltsame Überschreitungen der Körpergrenze solch identitätsauflösende Wirkungen besitzen.

Im Falle Reemtsmas wird die angedrohte Verstümmelung zwar nicht vollzogen, doch bereits der imaginierte Einfall in den Körper, der das ‚Aus-der-Welt-Fallen‘ zu wiederholen droht, sorgt dafür, dass zusätzlich zu den Koordinaten der Außenwelt auch diejenigen der Psyche aus den Fugen geraten. Zurück bleibt das Ich als Hohlraum, dessen innerer Zustand sich der weißen Leere des Kellerraums angepasst hat: „Das Bild vom Kern der Person hatte nichts mit dem zu tun, was er empfand. Viel eher traf das Bild eines leeren Raumes zu, durch den die Gefühle zogen. […] Es gab keinen Ort der Resistenz, von dem aus etwas hätte bewahrt oder unberührt gehalten werden können.“ (201)

Diese Erfahrung führt zum Abschied vom Konzept des Individuums: „Im Keller wurde ihm übrigens das mir schon längst theoretisch fragwürdige, aber historisch interessante Konzept des ‚Individuums‘ als der Vorstellung von einem Menschen, in dem irgend etwas Kontinuität und Festigkeit in allen Wechselfällen des Lebens verbürgt, zu einer gänzlich obsoleten Vorstellung“ (196, meine Herv.), so der Erzähler in einer ambivalenten Argumentationsfigur, die trotz ihrer Schärfe letztlich zwischen ‚Er‘- und ‚Ich‘-Perspektive vermitteln will: Die Verlusterfahrung – also die als Fantasma entlarvte Kontinuität seines Ichs – wird durch einen Erkenntnisgewinn – nämlich die Bestätigung philosophiegeschichtlicher Zweifel – neutralisiert. Die Diskontinuität des Individuums Reemtsma scheint also auf überraschende Weise die Kontinuität des Intellektuellen Reemtsma zu bekräftigen; „Im Keller“ wird zur Apotheose des Akademikers, der selbst Todesnähe in wissenschaftliche Kompetenz umzumünzen vermag. Zwar würden sich seine Arbeitsschwerpunkte durch die Entführung nicht ändern, der Unterschied sei jedoch – so Reemtsma in einem Interview – „daß ich halt jetzt bei manchen Dingen besser weiß, worüber wir reden, als meine Gesprächspartner“.[24]

Damit stellt sich erneut die Frage, wie das in den Medien diskutierte Verhältnis zwischen dem Gewalt-Opfer und dem Gewalt-Theoretiker von Reemtsma selbst in seinem Buch entworfen wird. Hier findet sich eine wenn nicht widersprüchliche so zumindest ambivalente Argumentation. Auf der einen Seite betont „Im Keller“ den Bruch zwischen einer wissenschaftlichen oder literarischen Beschäftigung mit Gewalt, deren tatsächlicher Erfahrung und ihrer anschließenden sprachlichen Vermittlung; Gewalterleben bleibt auch diskursiv exterritorial. Weder könne man sich „auf so etwas“ wirklich vorbereiten,[25] noch sei das Erlebte wissenschaftlich ergiebig: „Daß man Menschen nicht überfällt, verschleppt, nicht mit dem Kopf gegen die Wand schlägt, nicht in Isolation, nicht wochenlang in Todesangst hält, ist zuvor hinlänglich bekannt gewesen. Ich habe keine relevanten Erkenntnisse mit nach Hause gebracht.“ (45) Der Vollständigkeit halber möchte ich zumindest erwähnen, dass auch die Auffassung‚ Leben und Text seien letztlich inkompatibel, einem Text folgt, nämlich wiederum Amérys „Die Tortur“.[26] Auf der anderen Seite erklärt Reemtsma jedoch wiederholt, dass ihm sein Wissen über Gewalt und ihre Folgen bei der Bewältigung seiner Erlebens geholfen habe; entsprechend ist auch „Im Keller“ als Überlebenshilfe konzipiert: „Vielleicht ist die Lektüre dieses Buches einmal jemandem nützlich.“ (16)

Mit „Im Keller“ sucht Reemtsma sich seine eigene Geschichte und seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu erschreiben. Wenn es auf den ersten Seiten des Buches heißt, „Es gibt für das eigene Leben kein Copyright, aber es ist leichter, sich mit allerlei mißbräuchlichen Aneignungen abzufinden, wenn es irgendwo den eigenen Text gibt, auf den man dann zeigen kann“ (16), dann spricht an dieser Stelle ein Philologe, der ganz auf die Autorität der Autorschaft vertraut. Diese Emphase, die einem modernen (im Sinne von bürgerlich-aufklärerischem) Textverständnis entspricht, paßt kaum zu der wenige Seiten später erklärten Dekonstruktion des Individuums, behält aber – so meine These – allen Diskontinuitätserfahrungen zum Trotz das letzte Wort. Mehr noch als die Erinnerung an frühere Lektüreerfahrungen ist es das Schreiben von Briefen oder Tagebuchnotizen, das dem Gefühl des ‚Aus-der-Welt-gefallen-Seins‘ einen stabilen Ort entgegensetzt, denn, so der Erzähler: „Die Schrift markierte einen Ort außerhalb des Gefühls und schreibend verfügte er über diesen Ort.“ (176)[27] Auf den Schlussseiten des Buches wird das eigene Ich schließlich überdeutlich als Text- und als Raumeffekt entworfen: „Nichts blieb unberührt, er war der Aufenthaltsort für die Angst. Aber das Stück Papier war doch ein Ort, der dokumentierte, daß er aus sich heraustreten konnte. Wenn man so will, war das Stück Papier der Ort seines Ichs.“ (205) In diesem Sinne kann „Im Keller“ als Versuch verstanden werden, die raum- und identitätsstiftende Erfahrung des Schreibens aus dem bedrohlichen Keller an den vertrauten Hamburger Schreibtisch zu holen.

IV.

Wer davon berichtet, wie eine als kontingent erfahrene Gewalt in den Alltag einbricht und sein Lebenskonzept sowie seine Persönlichkeit grundsätzlich infrage stellt, kann dies auf unterschiedliche Weise tun. Literatur- und Kulturwissenschaften, aber auch Philosophie, Psychologie und Ethnologie haben sich detailliert mit den Erzählmustern auseinandergesetzt, mit deren Hilfe ein solches Ereignis beispielsweise als endgültiger Zusammenbruch gestaltet oder – um nur ein mögliches Alternativmodell zu nennen – als Schwelle bzw. Initiation inszeniert wird, die sich in einen größeren Lebens- und Erzählzusammenhang integrieren lässt. „Im Keller“ verweigert sich einer solchen Sinnstiftung, sei sie religiös, politisch oder durch die Vorstellung eines individuellen Reifeprozesses motiviert. „Er war wegen seines Geldes im Keller, und Geld allein taugt nicht zur Identitätsbildung“ (200), heißt es lapidar. Reemtsmas Buch betont vielmehr die Diskontinuitäten und tut dies – wie meine Lektüre gezeigt hat – unter anderem durch die gezielte Verwendung von Leitmetaphern wie ‚Exterritorialität‘ und ‚Aus-der-Welt-Fallen‘, durch die vierfache Aufgliederung des Textes, die Trennung der Erzählperspektive und die fortwährende ironisch-reflexive Brechung des Erzählten.

Die jüngere Literaturtheorie hat darauf hingewiesen, dass die Autobiografie des 20. Jahrhunderts – ähnlich wie der moderne Roman – weniger die gelungene Entwicklung als vielmehr die Irritation und Gefährdung des individuellen Lebenswegs thematisiert. Peter Sloterdijk hat bereits mit Blick auf autobiografische Texte der 1920er-Jahre den Begriff der „Stör-Erfahrung“ eingeführt im Sinne nichtintegrierbarer Ereignisse, die „bisherige Erfahrungen, Überzeugungen oder Selbstverständlichkeiten durchbrechen und eine Dissonanz gegenüber den Erwartungen enthalten“.[28] Mit ähnlichen Argumenten erklärt Michaela Holdenried, die moderne Autobiografie sei im wesentlichen „abweichende Autobiographie“, weil sie sich „der Darstellung nicht gelingender, verhinderter oder zerstörter Identität“ widme und auf diese Weise sowohl gegen tradierte Muster autobiografischen Schreibens als auch die „Konventionalität überkommener Identitätskonzepte“ anschreibe.[29] Auf den ersten Blick entsprechen diese Charakterisierungen Reemtsmas Geiselhaftbericht: „Der Keller bleibt im Leben und ist doch nicht zu einem Teil des Lebens zu machen. Er bleibt der zerstörerische Einbruch, die Vergewaltigung, die Exterritorialität, die plötzlich wieder dasein kann“ (221), so der Erzähler am Ende seines Textes.

Obwohl auf diese Weise noch einmal der Bruch betont wird, besitzen im Buch selber die Kontinuitäten jedoch mindestens ebenso viel Gewicht. Und zwar nicht nur deshalb, weil „Im Keller“ durch seine bloße Existenz ein narratives framing der Kontingenz vollzieht, weil es mit einem ‚Ich-Satz‘ sowohl beginnt als auch endet oder weil die physischen und psychischen Verletzungen des Protagonisten in der relativ konventionellen Sprache des Textes kaum Entsprechungen besitzen, sondern auch aufgrund der verwendeten Metaphorik. Mit der durchgängigen Bildersprache von Textualität und Topografie (und mit dem Generalbass des Améry’schen Subtextes) besitzt das Buch eine stilistische Einheitlichkeit, die quer zu seinem Inhalt liegt. „Im Keller“ ist der Versuch, die Geschichte einer Diskontinuitätserfahrung mit den Mitteln der Kontinuität zu erzählen. Weil das Buch angesichts von Verschleppung, Gefangenschaft und Todesangst in der Spannung zwischen der Stiftung und der Verweigerung von Sinn steht, muss es sich mit Sarah Kofman fragen lassen, wie weit es sich jener Logik eines Berichts beziehungsweise einer Erzählung entziehen kann, die dem Muster folgt: „raconter une histoire d’événements, faisant sens“.[30] Im Konflikt zwischen dem Wunsch, die erfahrene Gewalt auf verstehbare Weise zu bezeugen und dadurch möglicherweise auch zu bewältigen, und der Notwendigkeit, sie dabei weder mit Sinn zu füllen noch zu verharmlosen oder ästhetisch zu überhöhen, entscheidet sich Reemtsmas Buch zugunsten der diskursiven Vermittlung des Erlittenen. Dass ihm dies auf so nachvollziehbare Weise gelingt, ist seine Stärke und zugleich sein Handicap; „Im Keller“ setzt auf das Verstehen des Lesers – und nicht auf dessen verstörte Ratlosigkeit.

Mag die Schreibweise von „Im Keller“ auch davor zurückschrecken, dem Publikum zu viel zuzumuten, so wird zumindest in zwei Textpassagen der Einbruch eines Außen in das Innen auch für den Leser erfahrbar; in beiden Passagen geht es um den ansonsten eher marginalisierten Bereich der Körperlichkeit. Sigrid Weigel hat in einer Analyse von Gefängnisliteratur des 18. bis 20. Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass der überlebensnotwendige Versuch, durch „Innenweltproduktion“ ein Residuum geistiger Autonomie aufrechtzuerhalten, auf der Verleugnung bzw. Sublimierung des eigenen Körpers und seiner Triebstruktur beruht.[31] Reemtsmas Text entspricht dieser Strategie, wenn er mit einer Spaltung zwischen ‚Er‘ und ‚sein Körper‘ beziehungsweise ‚Er‘ und ‚Ich‘ arbeitet, führt jedoch auch vor, dass es gerade Körpererfahrungen sind, an denen diese gedanklichen und sprachlichen Differenzierungen scheitern – beispielsweise in dem auch nach der Freilassung noch auftretenden Gefühl, „verlorenzugehen“ und „den Verstand verlieren zu müssen, wenn sein/mein Körper nicht berührt, in den Arm genommen, festgehalten würde“ (203). Im Epilog schildert der Erzähler ein flashback, welches das traumatische Erleben aus dem Keller in den Alltag des Überlebenden holt, und zwar nicht lediglich im Sinne einer Erinnerung, sondern einer unmittelbar körperlichen Vergegenwärtigung: „Und da geschah es. Von einer Minute auf die andere war er wieder im Keller. Das Gefühl war wieder da, deckte sich über alles oder schob es weg. […] Ich kann das nicht mehr ertragen! war der einzige Gedanke, der neben dem Gefühl noch Platz hatte. Dann begann er zu gehen. Drei Schritte hin, drei Schritte her. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, hundert, zweihundert, dreihundert, vierhundert – es gelang ihm noch zu hoffen, daß niemand hereinkomme und ihn sehe. Noch lieber wäre er einfach ohnmächtig geworden.“ (211f.)

Im Zwang des Opfers, die ritualisierte Schrittfolge seiner Geiselexistenz zu wiederholen, fallen Vergangenheit und Gegenwart zusammen, so daß der Keller in das heimatliche Büro einbricht und den Freigelassenen überwältigt. Die Re-Inszenierung des Traumas artikuliert sich über Bewegungen, also als eine Körpererfahrung, die zugleich eine Raumerfahrung ist. Die imaginäre Kette, die noch in der Intimität des Arbeitszimmers Reemtsmas Bewegungsfreiheit einengt, verdeutlicht, was es bedeutet, dass die im Schreiben geleistete „Selbstaufklärung“ die ihr zugrunde liegende Beschädigung zwar produktiv machen, nicht aber aufheben kann.[32] In der schmerzhaften Reflexion über das Stockholm-Syndrom hatte Reemtsma erklärt, die Sehnsucht nach einer freundschaftlichen Berührung durch die Bewacher sei deshalb so demütigend, weil Körpererfahrungen im Gegensatz zu Gesprächen „nicht ironisierbar“ seien (178). In diesem Sinne muss der traumatischen Wiederkehr des Gehens an einer Kette jede (Selbst-)Ironie fehlen – und damit wird auch dem Leser eine distanzierte Lektürehaltung erschwert.

Die zweite Passage, die eine Körpererfahrung in den Mittelpunkt stellt und dabei sowohl die Grenze der Contenance als auch des Sagbaren umkreist, beschreibt einen Traum des mittlerweile Freigelassenen, in dem er seinen eigenen Erschießungstod bezeugt: „Ich wußte nicht, wann es passieren würde, nur, daß es bald sein würde. Ich las in einem Buch, es hieß „Dantons Tod“, und darin die Namen Damiens und St. Preux; es zitierte also die Spannweite gewaltsamen Zu-Tode-Kommens der unendlichen Qual des langsam öffentlich zu Tode Gemarterten über die Guillotine bis hin zum Selbstmord. Dann wurde ich von hinten in den Kopf geschossen. Ein Schlag, nicht schmerzhaft, ein Gefühl, daß etwas aus dem Schädel gerissen wird, Teile des eigenen Gehirns auf dem Buch vor den Augen, gleichzeitig der Gedanke: „Ich bin nicht tot, er hat schlecht geschossen, hoffentlich schießt er noch einmal, damit es vorbei ist“, ein zweiter Schuß – ich denke, daß ich immer noch denke, doch der Gedanke wird leiser oder kleiner, verschwindet. Schwärze.“ (181)

Der Versuch, bis zu jenem Moment vorzudringen, der sich aus der Ich-Perspektive nicht mehr beschreiben lässt, könnte als Sinnbild für den ganzen Geiselhaftbericht verstanden werden. Zugleich erhält die Imagination des eigenen Todes als Leser eine aggressive Wendung gegen das Publikum, das sich über „Im Keller“ beugt wie die Geisel über „Dantons Tod“. Die erlittene Gewalt schreibt sich somit nicht allein in den Bericht ein, sondern zielt von dort aus auch auf die Öffentlichkeit. An dieser Stelle erweist sich Reemstmas Buch als ein Text der Rettung, der hart gegen seinen Protagonisten, seinen Erzähler und seine Leser vorgeht.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien zuerst in Weimarer Beiträge 48.1 (2002), S. 24-40. Wir danken der Autorin für die Publikationsgenehmigung.

[1] Auch in den Prozessen gegen Wolfgang Koszics, Peter Richter und Pjotr Laskowski, die 1997 und 1999 mit Gefängnisstrafen von zehneinhalb, fünf bzw. sechs Jahren endeten, trat Reemtsma als Nebenkläger auf, doch war seine Konfrontation mit dem Anführer und Hauptbewacher Thomas Drach im Winter 2000/2001 von besonderer Brisanz.

[2] Vgl. das Gespräch mit Sabine Rückert „Vergeltung kann ein Prozeß nicht sein.“ Entführungsopfer Jan Philipp Reemtsma über seine Gefühle im Verfahren, über Trauma und Ohnmacht, Religion und Tod. In: „Die Zeit“ vom 25. Januar 2001, S. 12f., hier S. 12.

[3] So der Vorwurf gegen Irene Stratenwerths Artikel in der Zeitschrift „Die Woche“ vom 12. Januar 2001. Vgl. Jan Philipp Reemtsma: Recht und Vergeltung. Der Wunsch nach Rache muß enttäuscht werden, aber auf ein Unrecht hat eine Strafe zu folgen: Eine Richtigstellung. In: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 31. Januar 2001, S. 51.

[4] Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf Jan Philipp Reemtsma: „Im Keller“. Hamburg 1997.

[5] Philipp Lejeune: „Der autobiographische Pakt“ [1973]. In: Günter Niggl (Hrsg.): „Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung“. Darmstadt 1989, S. 214-257, hier S. 217.

[6] Klappentext und Umschlaggestaltung der Originalausgabe festigen im Sinne Lejeunes den autobiographischen und referentiellen Pakt: Sie bestätigen die Identität zwischen Autor und Figur („Dies ist Jan Philipp Reemtsmas Bericht über seine Gefangenschaft“) und sie lassen vermuten, daß der Umschlag jenen Keller zeigt, von dem im Text die Rede ist. Tatsächlich veröffentlichte der „Spiegel“ in Heft 2 (1997) ein Polizei-Foto aus dem identifizierten Kellerraum in Garlstedt bei Bremen, das sich als Gegenstück zum Umschlag-Bild erweist.

[7] Lejeune: „Pakt“, S. 255.

[8] Der erste der insgesamt drei Teile erscheint am 30. Dezember 1996 im „Spiegel“-Heft 1 (1997); wohl aus diesem Grunde gibt die Rowohlt-Lizenzausgabe (im Gegensatz zur Originalausgabe der Hamburger Edition) als Copyright-Datum nicht 1997, sondern 1996 an. – Der Vorwurf der Verteidigung Koscics‘ und Richters, Reemtsmas Veröffentlichung sei eine unzulässige Beeinflussung des Prozessverlaufs, wurde vom Gericht zurückgewiesen.

[9] Laut Presseberichterstattung existiert zwischen Tagebuch und Buch noch ein weiterer Text, nämlich das Polizeiprotokoll, das Reemtsma unmittelbar nach seiner Freilassung den Ermittlern diktierte.

[10] Claudius Seidel: Entführung in die Fiktion. Jan Philipp Reemtsma als Held der Literatur. In: „Süddeutsche Zeitung“ vom 24. Januar 1997, S. 15.

[11] „Süddeutsche Zeitung“ vom 6. Mai 1996, S. 3-5, hier S. 3. – Am Ende von „Im Keller“ bezeichnet Reemtsma seinen Aufenthaltsort einmal als „Todeszelle“ (S. 182).

[12] Gaston Bachelard: „Poetik des Raumes“ [1957]. München 1975, hier S. 35.

[13] Marc Augé: „Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit“ [1992]. Frankfurt a. M. 1994.

[14] Sigmund Freud: „Das Unbehagen in der Kultur“ [1930]. In: Ders.: „Studienausgabe Bd. IX: Fragen der Gesellschaft und Ursprünge der Religion“. Frankfurt a. M. 1974, S. 191-270, hier S. 198.

[15] Beim Bericht über die brutale Überwältigung des Protagonisten wird der Satz „Der Schlag wirkt als seine eigene Anästhesie“ (57) aus „Die Tortur“ zitiert.

[16] In „Im Keller“ zitiert Reemtsma aus seinem Editorial zum Thema „Historische Traumen“ der Zeitschrift „Mittelweg 36“; während die Passage über Freud von der Soziologie in die Autobiographik übertragen wird, findet der „Mittelweg“-Hinweis auf Amérys Folter-Text keine Entsprechung im Geiselhaftbericht. Vgl. „Mittelweg 36“, 2 (1996), S. 8-11.

[17] Jean Améry: „Die Tortur“. In: Ders.: „Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten“ [1966]. 2. Aufl. Stuttgart 1977, S. 46-73, hier S. 56.

[18] Jan Philipp Reemtsma: „172364. Gedanken über den Gebrauch der ersten Person Singular bei Jean Améry“. In: Ders.: „Der Vorgang des Ertaubens nach dem Urknall. 10 Reden und Aufsätze“. Zürich 1995, S. 94-122.

[19] Ebd., S. 120.

[20] „Süddeutsche Zeitung“ vom 6. Mai 1996, S. 5.

[21] Vgl. Anna Freud: „Das Ich und die Abwehrmechanismen“ (1936). In: „Die Schriften der Anna Freud. Bd. I 1922-1936“. München 1980, S. 293-304. Freuds Text beschreibt allerdings die Herausbildung des Über-Ichs beim Kind durch die Identifikation mit einer Autoritätsperson beziehungsweise. die Introjektion ihrer Aggression oder Stärke.

[22] Améry: „Tortur“, S. 56.

[23] Sigmund Freud: „Das Ich und das Es“ [1923]. In: Ders.: „Studienausgabe Bd. III: Psychologie des Unbewussten“. Frankfurt a. M. 1975, S. 273-330, hier S. 294.

[24] Vgl. das Rundfunk-Interview mit dem NDR-Journalisten Stephan Lohr, zitiert nach dem gekürzten Abdruck in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 14. Januar 1997, S. 8.

[25] „Süddeutsche Zeitung“ vom 6. Mai 1996, S. 3.

[26] Dort heißt es mit einem Seitenblick auf Proust: „Nichts ereignet sich in der Tat so, wie wir es erhoffen, noch so, wie wir es befürchten. Aber nicht darum, weil etwa, wie man so sagt, das Geschehnis ‚die Vorstellungskraft überstiege‘ (es ist keine quantitative Frage), sondern weil es Wirklichkeit ist und nicht Imagination.“ Améry: „Tortur“, S. 52.

[27] Zu dieser Erfahrung, im Schreiben einen Flucht-Raum zu besitzen, trägt möglicherweise auch eine Trennung der Sprachen bei: Mit seinem Haupt-Bewacher verständigt sich der Protagonist ausschließlich auf Englisch, so dass das Deutsche ein stärkeres Maß an Privatheit behält.

[28] Peter Sloterdijk: „Literatur und Organisation von Lebenserfahtung. Autobiographien der Zwanziger Jahre“. München 1978, S. 113.

[29] Michaela Holdenried: „Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman“. Heidelberg 1991, S. 132.

[30] Das vollständige Zitat lautet: „Sur Auschwitz, et après Auschwitz, pas de récit possible, si par récit l’on entend: raconter une histoire d’événements, faisant sens.“ Sarah Kofman: „Paroles suffoquées“. Paris 1987, S. 21. Das eingangs zitierte Motto findet sich auf S. 43.

[31] Sigrid Weigel: ,Und selbst im Kerker frei…!‘ Schreiben im Gefängnis. Zur Theorie und Gattungsgeschichte der Gefängnisliteratur (1750-1933)“. Marburg 1982, S. 98.

[32] So Hartmut Böhme in seiner Laudatio auf Reemtsma. Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg (Hrsg.): „Lessing Preis 1997. Reden anläßlich der Preisübergabe“. Hamburg 1997, S. 11-27, hier S. 27.