Gegen Hartleibigkeit und Schwermut – Heinrich Kaulen hat Walter Benjamins „Kritiken und Rezensionen“ herausgegeben

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn es ihm zu bunt wurde, konnte der Literaturkritiker Walter Benjamin ganz schön unangenehm werden. Über den linken Autor Erich Kästner etwa schrieb der polemische Publizist in einem seiner rücksichtslosen Verrisse, die auch vor international renommierten Linksintellektuellen nicht Halt machten: „Sicher hat das Kollern in diesen Versen mehr von Blähungen als vom Umsturz. Von jeher gingen Hartleibigkeit und Schwermut zusammen. Seit aber im sozialen Körper die Säfte stocken, schlägt Dumpfheit uns auf Schritt und Tritt entgegen. Kästners Gedichte machen die Luft nicht besser.“

Benjamin, der sich nach dem Scheitern seiner Unikarriere auf das Rezensieren verlegt hatte, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, verfasste seine Kritik im Herbst 1930 – im Zenit von Kästners Erfolg als Autor populärer Kinderbücher und Gedichtbände. Nach mehreren mahnenden Schreiben des Rezensenten an die Redaktion der „Frankfurter Zeitung“, man möge seinen Text doch bitte möglichst im nächsten „Literaturblatt“ bringen, hatte diese den Verriss nach einigem Zögern lieber abgelehnt – zur Überraschung des ungeduldigen Autors. „Doch hatte die Suche nach einer Alternative rasch Erfolg“, notiert Herausgeber Heinrich Kaulen in seinem Kommentar: „Die Rezension erschien im Februar 1931 in der sozialdemokratischen Monatsschrift ‚Die Gesellschaft‘“.

Noch heute kann der ambitionierte Publizist aus Benjamins Geschichte lernen, dass man als Polemiker auf autoritäre Torpedierungen des eigenen Habilitationsprojekts an der Universität ebensowenig zu geben braucht wie auf die Bedenken irgendwelcher Herausgeber und Redaktionen. Benjamins geschicktes Taktieren im literaturkritischen Feld demonstriert, dass man nicht unbedingt auf alle Gatekeeper in der akademischen und publizistischen Welt Rücksicht nehmen muss, nur weil diese die eigenen Texte eventuell ablehnen könnten und diese ihnen aus irgendwelchen Gründen heikel oder misslungen erscheinen: Derjenige Autor, der gut genug schreibt, wird ganz einfach einen anderen Abnehmer finden, den seine Arbeiten überzeugen oder der sie druckt. Auch Benjamin war insofern, wie er in seinen berühmten dreizehn Thesen zur „Technik des Kritikers“ schrieb, ein munterer „Stratege im Literaturkampf“ – und also keineswegs der gescheiterte Intellektuelle als ‚verkanntes Genie‘, als den man ihn lange Zeit begriff.

In seiner voluminösen Edition – bestehend aus einem Band mit Benjamins versammelten Literaturkritiken, darunter sogar einigen ganz neu entdeckten Texten sowie einem weiteren Band mit einem über 1.000-seitigen editorischen Kommentar des Herausgebers – unterstreicht Kaulen in seinem Nachwort: „Hinter dem zum Klischee geronnenen Leitbild des von einer Bredouille in die andere geratenden Melancholikers, das Benjamin in seinen Briefen mit einer unverkennbaren Neigung zur Selbststilisierung gelegentlich selbst skizziert“ habe, seien „der versierte Journalist, der angriffslustige Publizist und der nicht selten geschickt taktierende Medienpraktiker neu zu entdecken.“

Dazu bieten die beiden Bände, die nun im Rahmen der Suhrkamp-Ausgabe der Werke und des Nachlasses von Walter Benjamin erschienen sind, in der Tat reichliches Material.

J. S.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht die Bücher von regelmäßigen Mitarbeiter / innen der Zeitschrift sowie Angehörigen der Universität Marburg. Deren Publikationen können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.

Titelbild

Walter Benjamin: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Band 13: Kritiken und Rezensionen.
Herausgegeben von Heinrich Kaulen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
1500 Seiten, 98,80 EUR.
ISBN-13: 9783518585603

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch