Zwischen den Orten

Jamal Tuschicks Romandebüt "Keine große Geschichte"

Von Daniel BeskosRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Beskos

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist keine große Geschichte, und es gibt viele wie sie: Jemand verbringt seine Jugend in einer Kleinstadt, und irgendwann, wenn alle Plätze mit Erinnerungen versehen sind, alle Freundschaften einmal durchlebt und verkauft und alle Wege zu oft gegangen sind, bleibt nur eine Perspektive übrig: Man muß weg vom Land, hinein in die große Stadt, mit all ihren Verheißungen, Gerüchten und verruchten Ecken.

Und nun, angelangt in der Stadt, schaut der Ich-Erzähler zurück, blickt auf die Zeit "zwischen den Orten", schließt die Augen und lässt alle Bilder der Vergangenheit vor sich ablaufen. Zwischendurch spult er einige Szenen vor oder zurück, bleibt an einer Begebenheit hängen oder verweilt bei einzelnen Personen, für einen Moment, auf ein paar Zeilen. Er versucht, alles noch genauer zu fassen, versucht, das Intensive von damals wieder zu spüren, lebhaft vor Augen. Doch die Details werden zurückgelassen vom Hauptstrang der Ereignisse, der immer weiter fährt, so wie die Zeit auch damals viel zu schnell verging.

Und so lässt er die Bilder einfach weiterlaufen, sieht die Freunde von damals, viele waren Musiker oder ähnliches, wie er selbst auch. Sie strebten nach Erfahrungen mit der Ferne, mit Drogen, mit dem anderen Geschlecht. Verwandte sterben, Freunde auch, aber unerwarteter, schockierender, irgendwie näher. Ein Sommertag am See steigt auf, mit IHR. Anhalterfahrten, in die Großstadt, in den Urlaub, weg von allem. Immer wieder fällt ihm auf, rückblickend, wie groß die Distanz erschien zwischen der Kleinstadt Kassel und der Großstadt Frankfurt, die ständigen Vergleiche damals und heute, wissender, die Erkenntnis, wie klein die Unterschiede doch sind, dass sich nur Äußerlichkeiten ändern. Hinter den Fassaden scheint alles vertraut und heute schaut er sich nach den alten Freunden von damals um, die verstreut und verloren sind: Eine alte Freundin entdeckt er auf einem Werbeplakat wieder.

Die Jahreszeiten vergehen: Kälte, Sommer, wieder Kälte. Alles verändert sich, und man hinkt hinterher, hat schon mit dem Beobachten der anderen genug, kann sich nicht auch noch um das eigene Vorwärtskommen kümmern.

Und er erinnert sich an das eigene Bemühen zu schreiben. "An den Wänden Plakate. Sie zeigten Schriftsteller mit Erfolg." Die Nachrichten nennen die wichtigen Randdaten des Zeitgeschehens, doch man vergisst die großen Zusammenhänge, wenn man die kleinen so intensiv betrachtet. Der Krieg in Vietnam. Bagdad. Amerika. Die Hausbesetzungen. Die Weltliteratur.

Tuschicks Beobachtungen sind sehr genau und detailreich, es sind die vielen kleinen Dinge, die abseits liegen, auf die es ihm ankommt. Er scheint in der Wahl seiner Worte sehr behutsam und sorgfältig vorzugehen, ohne jedoch davor zurückzuschrecken, unangenehme Wahrheiten in aller Deutlichkeit hervortreten zu lassen. Der Ich-Erzähler deckt immer wieder auf, wie viele Handlungen der Personen sich lediglich um Äußerlichkeiten drehen und wie viel Zeit Menschen damit verbringen.

Viele Geschehnisse sind in der Erinnerung des Erzählers mit einzelnen Worten verknüpft, mit Namen, Orten oder Dingen, die als einzige übriggeblieben sind. Die Erzählstränge sind zeitlich und räumlich ineinander verschoben. Dadurch entsteht auch für den Leser viel Freiraum, viele Möglichkeiten, Ereignisse für sich zu interpretieren.

Der Erzähler ist sich seiner Rolle als Beobachter, als Außenstehender durchaus bewusst. Dieses Außenseitertum scheint für ihn normal, grundlegend und ständig präsent zu sein. Es findet sich hier keine Verbitterung, sondern es schwingt sogar ein gewisser Stolz mit, als einziger unter vielen hinter die Dinge blicken zu können, der Wahrheit am nächsten zu kommen.

Viele Leser werden in diesen Jugenderinnerungen Teile der eigenen Vergangenheit wiedererkennen können. Auch wenn die ausgeprägte Außenseiterposition auf manche vielleicht befremdend wirkt, so tut das dem Verständnis für die Gedanken des Erzählers keinen Abbruch. "Keine große Geschichte" ist ein wunderbar poetisches und doch bescheidenes Buch.

Titelbild

Jamal Tuschick: Keine große Geschichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
185 Seiten, 9,70 EUR.
ISBN-10: 3518121669

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