Das Ende der europäischen Hegemonie

Lutz Raphael stellt in seiner Studie „Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation“ die Krisenzeit zwischen 1914 und 1945 dar

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ohnehin ist Geschichte selten eine behagliche Veranstaltung. Zuweilen aber gibt es Umbruchsphasen, in denen sich die Gewalt verdichtet und die schon den Zeitgenossen als deutlicher Einschnitt erscheinen.

Für das neuzeitliche Europa lassen sich drei solcher Phasen benennen: Der Dreißigjährige Krieg, die Konflikte zwischen dem Beginn der Französischen Revolution und Napoleons Niederlage sowie die Zeit vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten, die wiederum gut dreißig Jahre dauerte. All diese Konflikte gewinnen ihre Intensität daraus, dass sich in ihnen Staatenkriege und innergesellschaftliche Kämpfe, die bis zum Bürgerkrieg reichen, überlagern. Sie alle beschäftigen auch die Fantasie der folgenden Generationen: Vor allem Faschismus und Zweiter Weltkrieg faszinieren die Historiker und können mittlerweile als die wohl am besten erforschten Abschnitte der Geschichte gelten.

Lutz Raphaels Unterfangen, auf nur gut 300 Seiten einen Überblick zur Geschichte imperialer und nationaler Gewalt zwischen 1914 und 1945 zu geben, setzt also eine erhebliche Vorarbeit voraus nicht nur, was den Lektüreumfang angeht, sondern mehr noch die schwierige Bildung von Synthesen. Beispiele des Scheiterns gibt es genug: Die einen Historiker reduzieren ihr Schreiben auf feuilletonistische Schmankerln und versinken, im schlimmsten Fall, im Schlamm einer gefühligen Sprache, die die sich bis 1945 stetig steigernde Gewalt mit hilflosen Entsetzensformeln zu bannen versucht. Die anderen breiten eine Unmenge von Fakten aus und führen offen oder verdeckt Forschungskämpfe, die besser in ein anderes Textgenre gehören.

Raphael entgeht diesen Gefahren. Seine Darlegungen sind faktenreich, doch ist jede Einzelheit klar auf den Argumentationszusammenhang bezogen. Die Gewalt ist benannt und analysiert, doch ohne störendes Pathos; gerade so wird sie in ihrem Schrecken wie gleichzeitig in ihrer historischen Besonderheit erfassbar. Raphael verzichtet weitgehend auf die Diskussion von Forschungskontroversen – das kommt angesichts des knappen Raums der Klarheit seiner Darlegungen zugute.

Dies vorausgesetzt, kann man einschränken, dass die erste Hälfte des Buches die bessere ist. Besonders der Erste Weltkrieg ist in seiner Vorgeschichte – insbesondere den Balkankriegen, deren Einbezug die dreißigjährige Kriegszeit nach vorne und übrigens auch nach hinten noch einmal ausweitet – und in seinen sozialgeschichtlichen Voraussetzungen und Folgen bewundernswert erfasst. Auch widmet Raphael dem Spannungsverhältnis zwischen dem Staatsmodell Reich und dem Staatsmodell Nation interessante Überlegungen.

Am Ende des Ersten Weltkriegs stand der Zerfall der übernationalen Imperien der Habsburger und des Osmanischen Reichs, zum Teil auch des Russischen Reichs. Das Nationalstaatsprinzip hatte gesiegt und führte zu Konfliktlagen, die seine Befürworter verkannt oder verschwiegen hatten. Insbesondere in Osteuropa waren Nationalvolk und Territorium keineswegs identisch. Erst die Vertreibungen im Zweiten Weltkrieg, jedenfalls für wenige Jahrzehnte, schufen in Europa jene national homogenen Räume, die immer schon der Traum aller Nationalisten gewesen waren.

Raphael interessiert sich nicht nur für politische Vorgänge, sondern auch für soziologische Strukturverschiebungen. Hier zeigt sich insofern ein ungewohntes Bild, als Raphael auch das Leben auf dem Land berücksichtigt. Dies relativiert nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Länder den typischerweise auf Metropolen fixierten Blick. Dass zu einen heute tatsächlich die Städte das Zentrum sind und zum anderen die medialen Veränderungen vom frühesten Radio an die Vorstellungen von einem statisch-ländlichen Kern als vom Städtischen unberührten und letztlich unberührbaren Bereichs demontierten, das wird bei Raphael deutlich genug. Das ändert aber nichts daran, dass 1914 Dorf und Kleinstadt in weiten Teilen Europas und sogar Deutschlands das Lebensumfeld für einen Großteil der Bevölkerung bildeten. Erst der Ausbau der Verkehrswege und die Entwicklung einer modernen Medienlandschaft schleift die Machtbastion der zumeist konservativen ländlichen Eliten.

So erscheinen denn auch die anderthalb Jahrzehnte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs eingeschränkt als die roaring twenties, die sie tatsächlich nur für eine verschwindende Minderheit waren. Die gesellschaftlichen Verschiebungen dieser Jahre waren tatsächlich hart umkämpft. Das gilt auch für die politischen Ordnungsentscheidungen dieser Zeit. Nach 1918 entstanden in den meisten europäischen Staaten – wenigstens formal – Demokratien. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs waren davon nur noch wenige übrig.

Raphaels Perspektive, die auf einen Ländervergleich zielt, verzichtet auf vorschnelle Erklärungen. Oft diskutiert ist die These vom deutschen Sonderweg: Dabei erscheint der Weg Englands und Frankreichs als Normalfall, die diktatorische Entwicklung in Deutschland als defizitär und erklärungsbedürftig. So umstritten diese Lesart der Geschichte unter Historikern ist, so verbreitet ist sie in der Öffentlichkeit. Raphael setzt sich damit nicht explizit auseinander. Indem er jedoch für alle europäischen Länder die Parteienspektren und die Gründe für Erfolg oder Misserfolg der Demokratie benennt, wird die Vielfalt der Wege deutlich und die Rede von einem Sonderweg absurd.

Schwächer sind die letzten hundert Seiten des Buches, die die Regimes insbesondere in Deutschland nach 1933, der Sowjetunion und anschließend den Zweiten Weltkrieg betrachten. Hier wird die Abfolge der politischen und militärischen Ereignisse so dicht, dass sich der Blick auf sozialgeschichtlich bedeutsame Entwicklungen abschwächt. Ergebnis ist, was den Krieg betrifft, immer noch ein solider und gut lesbarer Überblick über das Geschehen. Doch gerät die Darstellung hier in Gefahr, längst Bekanntes abzuhaken.

Was die Nazi-Herrschaft in Deutschland betrifft, so stellt sich die Frage, ob sie eine – wenn auch besonders blutige – Variante des europaweit virulenten Faschismus war. Raphael ist skeptisch und sieht allenfalls für die Vorkriegszeit Parallelen, hebt dann aber den bereits 1939 als Rassenkrieg geführten Krieg als einzigartige Verlaufsform hervor. Das ist diskutabel und prägnant begründet. Dabei gerät Deutschland, das wie Großbritannien, Frankreich oder Japan als „imperiale Nation“ auftrat, sich aber gleichzeitig nach 1933 an einer rassebiologischen Ideologie orientierte, in eine interessante Zwischenstellung. Wahrscheinlich sind Imperialismus und nationaler Rassismus auf die Dauer unvereinbar und liegt darin ein wichtiger Grund für das Scheitern Deutschlands (wie auch Japans).

Leider beschränkt sich Raphael hier auf die politische Ebene und verzichtet auf Hinweise, in welchem Maße das NS-Regime eine Modernisierungsdiktatur war: national egalitär für alle, die der Volksgemeinschaft angehörten, bei radikaler Ausgrenzung aller Nichtzugehörigen. Unbeantwortet bleibt auch die Frage nach mentalitätsgeschichtlichen Folgen, insbesondere für die Jüngeren in der NS-Zeit, die bald darauf die neuen Führungsschichten in den beiden deutschen Staaten nach 1949 stellen sollten.

Ganz auf Politik bezogen ist dann Raphaels Interpretation von Stalins Regierung, die etwas einseitig auf Terror gegen das eigene Volk und schließlich auf Personenkult bezogen erscheint. Die sozialen Voraussetzungen, wirtschaftlichen Notwendigkeiten und politischen Probleme, die zu den Mordaktionen insbesondere zwischen 1936 und 1938 führten, bleiben im Dunkeln. Raphael lehnt eine Deutung des Stalinismus als Modernisierungsdiktatur ab, ohne klar benennen zu können, was sie denn sonst gewesen sei. Der anschließende Vergleich zwischen den Diktaturen in Deutschland, Italien und der Sowjetunion bleibt dann totalitarismustheoretisch auf einzelne Phänomene bezogen und erfasst nicht ihre historische Funktion. Hier vermisst man die sozialgeschichtliche Qualität der früheren Kapitel.

Am Beginn und am Ende des Buches stehen Blicke auf die Position Europas in den Jahren 1900 und 1947. In knapp einem halben Jahrhundert war der Kontinent vom wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum der Welt zu einer Ruinenlandschaft herabgekommen; danach konnte er an die alte Vormachtstellung nicht wieder anknüpfen. Allen nationalen Hoffnungen entgegen erwies es sich als wertlos, dass durch die Vertreibungen im Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal fast alle Staaten ethnische Homogenität aufweisen konnten. Auch ließen sich imperiale Ansprüche nicht mehr aufrechterhalten: Die Kolonialreiche Englands und Frankreichs sollten nach 1945 nur noch wenige Jahre bestehen. Die Kriege der ersten Jahrhunderthälfte hatten das globale Machtgefüge grundlegend verändert.

Titelbild

Lutz Raphael: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914-1945.
Verlag C.H.Beck, München 2011.
319 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783406623523

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