Ein literarischer Karneval
In seinem Roman „Perversion“ spürt Juri Andruchowytsch einer mysteriösen ukrainischen Legende nach
Von Beat Mazenauer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVenedig treibt die literarische Fantasie an, daran tragen nicht allein die unzähligen Venedig-Stipendien Schuld. Wenn sich der Ukrainer Juri Andruchowytsch auf dieses literarische Feld begibt, ist eines gewiss: die kulturellen Hochtöne gehen in einem närrischen Karneval der literarischen Sinnenfreuden unter. „Perversion“ heißt der Roman, Andruchowytschs erster, Mitte der 1990er-Jahre geschrieben und 1999 in Lwiw (Lemberg) erschienen. Sein Held ist Stanislaus Perfetzki, eine in Lemberger Avantgardekreisen bekannte Figur, der unter einer Vielzahl von Namen und Pseudonymen auftritt. Dieser Perfetzki alias Bimber Bibamus, Kraftprotz-Karpfen oder Kamal Manchmal folgt einer Einladung nach Venedig, zu einem Kongress zum Thema „Post-karnevalistischer Irrsinn der Welt“.
Dem Thema entsprechen der Modus der Veranstaltung ebenso wie die Liste der Teilnehmer. Während ein paar Tagen herrscht im sonst winterlich toten Venedig ein närrisches Tohuwabohu, in dem die Gebote von Vernunft, Moral und Realität durcheinander geraten. Perfetzki schließlich verschwindet am Tag nach Kongressschluss spurlos: ertrunken, ermordet, abgetaucht?
Auf dem Fensterbrett seines Hotelzimmers stehen seine zwei Schuhe akkurat nebeneinander, die Spitzen weisen zum Kanal. Eine Leiche aber hat man nie gefunden. Lediglich ein Paket mit unterschiedlichsten Dokumenten ist gemäß Perfetzkis Testament dem Schriftsteller Juri Andruchowytsch zugestellt worden. In diesem Buch legt er sie treuherzig vor uns aus, um wenigstens bruchstückhaft das „venezianische ABENTEUER“ Perfetzkis zu rekonstruieren. Vollständige Klarheit ist freilich nicht zu erwarten – umso funkelnder bezeugt dieses Buch die sprachliche Meisterschaft eines Autors, der Perfetzki zwar gekannt haben will, hier aber selbst vor einem Rätsel steht. Wer immer diese Dokumente verfasst hat: Perfetzki selbst (der ins Aufnahmegerät gesprochen hat), seine Muse und Aushorcherin Ada Citrina (an einen geheimen Monsignore gerichtet), Journalisten oder auch ein unbekannter allwissender Autor – sie alle demonstrieren gemeinsam eine sprachliche Kraftmeierei, die „Perversion“ zum wunderbaren Lesevergnügen macht. Darob gerät die Welt gänzlich aus den Fugen – poetisch wie real. Und mitten drin in diesem Karneval des Verfalls: Stanislaus Perfetzki, der sich in Ada verliebt, ohne dabei zu vergessen, dass diese Liaison nach dem Kongress ein Ende haben würde.
Einen seiner Höhepunkte bildet die postmodernistische Operninszenierung „Orpheus in Venedig“, in dem sich Realität und Tollheit untrennbar vermischen. Die von einem gewissen Matthew Kulikoff angerichtete Show der Superlative soll eine Neukombination „von Elementen schon existierender Opern“ darstellen, mit allen Mitteln der theatralen Möglichkeiten angerichtet, selbst wenn sie die Opernbühne sprengen müssen. Letzteres kann durchaus auch im realen Wortsinn verstanden werden. Doch, fragt tags darauf Stan Perfetzki in seinem Kongressbeitrag, gibt es überhaupt eine Wirklichkeit? Nein, lautet seine These: „Es existiert gar keine Wirklichkeit. Vielmehr existiert nur eine unendliche Anzahl unserer Versionen davon, von denen jede einzelne falsch ist und alle zusammengenommen widersprüchlich. Um uns selbst zu retten, müssen wir annehmen, dass jede der unzähligen Versionen die Wahrheit ist.“
Dementsprechend präsentiert sich die formale Viefalt des Romans: Pastiche, Collage, fingierte Dokumente, intertextuelles Spiel und poetische Dekonstruktion sind hier vom „Herausgeber“ Andruchowytsch virtuos orchestriert worden. Schließlich wächst sich „Perversion“ zur reinen Mystifikation aus, in der, wie der „Herausgeber“ am Ende gesteht, „weit mehr Ungeklärtes und Unverständliches“ bleibt, „als man sich erhofft hätte“. Vielleicht hat „Perversion“ nicht die konstruktive Kraft des Romans „Zwölf Ringe“ (erschienen 2005), als sprachliches Feuerwerk zeugt dieses Buch aber von einem literarischen Kraftgenie, der mit poetischen Spielereien vor allem auch seiner Übersetzerin Sabine Stöhr das Letzte an sprachlicher Biegsamkeit abverlangt hat. Im Grunde genommen sei „Perversion“ nicht übersetzbar, meint Andruchowytsch selbst. Der Roman sei ein offenes sprachliches Gebilde, das in jeder anderen Sprache auch anders aussehen müsste. Deshalb ist er bisher kaum übersetzt worden.
Er selbst sei überrascht gewesen, so Andruchowytsch, dass als erstes eine finnische Übersetzung ohne seine Mithilfe erschienen sei. Mangels eigener Finnisch-Kenntnisse vermag er nicht zu sagen, was darin geschrieben steht. Ganz anders dagegen diese deutsche Übersetzung. Sabine Stöhr hat bereits die früheren Romane übersetzt, kennt also ihren Autor bestens. Daraus hat sich eine intensive Zusammenarbeit ergeben, die es hier ermöglicht, die Klippen dadaistischer Wortspiele und dialektaler Wendungen zu überwinden. Der Autor konnte aktiv mithelfen, weil er selbst gut Deutsch spricht. So ist eine im fortlaufenden Dialog „völlig autorisierte Übersetzung“ entstanden, bestätigt Andruchowytsch, ein „Satz für Satz gültiges Original“, das notgedrungen gewichtige Abweichungen von der ukrainischen Fassung aufweist. Doch der Autor selbst freut sich über die „Auffrischung“ seines eigenen Textes. So entfaltet dieser sprühende Roman auch in der deutschen Umsetzung eine erfrischende erzählerische Kraft.
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