Er konnte nicht mehr
Prosa aus dem Nachlass von Wolfgang Koeppen "Auf dem Phantasieroß"
Von Oliver Jahn
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWolfgang Koeppen brachte seinen Verleger lange in Verlegenheit. Als er 1996 starb, galt er als der wohl berühmteste Verstummer der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. In den 1930 er Jahren erschienen zwei Romane bei Bruno Cassirer in Berlin, dann 1951bis 1954 seine Trilogie des Scheiterns: ein Pandämonium der Adenauer-Ära, das seine heillosen Helden nur mit einem Sprung von der Rheinbrücke oder dem Tod in Rom zu beantworten wussten. Mit den Reiseberichten der 1960-er Jahre aus Russland, Frankreich und den Vereinigten Staaten hob Koeppen nochmals an, um darauf seine Erzählerstimme endgültig zu veratmen. Ein paar respektable Petitessen, ein wenig Autobiographisches, und der Rest Schweigen?
Schon lebend schien er begraben, zum Klassiker erhoben und eingesargt spätestens in das Mausoleum seiner großen Werkausgabe aus dem Jahr 1986. Sollte tatsächlich die Frage nach der schriftstellerischen Frucht eines halben Lebens mit einem bloßen Achselzucken beantwortet werden?
Mit einer Diagnose war man schnell bei der Hand, die Branche hatte mit medizinischer Sachlichkeit ihr Hörrohr auf die Brust des kaum noch zu vernehmenden Erzählers gesetzt und eine Schreibhemmung erkannt. Koeppen wehrte sich nicht recht, wand sich in Erklärungen. In Gesprächen kündigte er immer neue Romanprojekte an, sprach von nahezu fertigen Manuskripten, die er nur einer neu herandrängenden Idee wegen habe aus der Hand legen müssen. Folgt man diesen Spuren, so hätte man im Nachlass mindestens zehn solcher Konvolute finden müssen. Je älter Koeppen wurde, desto größer wurde der Verdacht, den großen Roman aus seiner Schublade nicht mehr erwarten zu dürfen.
Jetzt sind nahezu 800 Seiten aus dem Nachlass Wolfgang Koeppens erschienen, die zeigen, dass die geheimnisumwitterten Manuskripte offenbar nie existierten. Der voluminöse Band, umsichtig besorgt von Alfred Estermann, enthält 170 weitgehend unbekannte Texte aus genau 70 Jahren. Bereits die schiere Fülle des Materials widerlegt die These vom Verstummen. Hier war einer unermüdlich am Werk, der nichts aus der Hand geben mochte und ernst machte mit seiner Maxime vom Schreiben als einem "düsteren Selbstgespräch".
Die Erzählungen, Skizzen, Miniaturen und Entwürfe markieren einen Lebensweg, der hinausführt aus der engen Geburtsstadt Greifswald, der er nichts als ein paar dunkelverhangene Friedhofsstimmungen abgewinnen konnte, und hinein in das taumelnde Leben der Großstadt Berlin. Es sind keine Flanerien im Berlin der zwanziger Jahre, die Koeppen da etwa wie Franz Hessel oder Walter Benjamin in der kleinen Form hätte brillieren lassen, sondern Brotarbeiten, das unstete Flackern zerschlissener Schicksale im Passantengewimmel. Punktiert sind diese im Tagesgeschäft der Zeitungen oft abgelehnten Arbeiten allein durch die wechselnden Adressen ihres Schreibers. "Wichmannstr. 18", "Kaiser-Allee 202", Kurfürstenstr. 111" - die wechselnden Briefköpfe zeugen von ruheloser Ruhelosigkeit. Hier hatte Koeppen noch nicht zu seiner Stimme gefunden.
Einen besonders nachhaltigen Eindruck hinterlässt das Romanfragment die "Jawang-Gesellschaft", das mit der Beschreibung seiner Stationen einen wahrhaft mythischen Status erhält: 1937 als dritter Roman begonnen, sei er - so Koeppen - im holländischen Exil "angefangen" worden, dort "halb vollendet" oder "fast fertig" gewesen, "ging verloren", musste "gerettet" werden, war teilweise "verschollen" und "verbrannt". Nur "ein kleines Fragment" habe sich erhalten und wurde verschiedentlich umgearbeitet. Das Resultat dieser abenteuerlichen Bemühungen kann jetzt auf nahezu einhundert Seiten nachgelesen werden. Es ist die Geschichte des jungen Erbens Carel, der vor der geplanten Offizierslaufbahn mit einer dubiosen Gruppe zu einem Urlaub nach Monte Carlo aufbricht. Über dieser Reisegesellschaft schwebt ein Verhängnis, opak und ungreifbar, das schließlich den hoffnungsfrohen Carel seine ganze Habe verlieren und ihn seine militärischen Karriere abbrechen lässt.
Wie ist es mit diesen Texten, bestätigen sie tatsächlich den Eindruck einer "Ästhetik des Unbeendbaren", von der Estermann in seinem aufschlussreichen Nachwort spricht? Man ahnt das erschöpfende Zögern, mit der Koeppen seine Blätter nur herausrücken mochte: "Schon am Vormittag drei Anrufe von Siegfried Unseld. Er will nicht, daß ich mir den Text noch einmal ansehe und vielleicht überarbeite. Er fürchtet, daß ich dann wieder auf ganz neue Ideen komme." Die aufmerksame Lektüre dieser unveröffentlichten Etüden zeigt Überraschendes: Koeppen schien mit ihnen keineswegs an ästhetische Grenzen gelangt zu sein, die er nicht weiter hätte verschieben können. Dieser sentimentalische Mythos, den die Literaturgeschichte seit den 60er Jahren pflegte, könnte jetzt einer Revision unterzogen werden. Marcel Reich Ranicki hatte mit seiner Einschätzung, eine allzu harsche politische Kritik habe den Dichter verstummen lassen, den "Fall Koeppen" ausgerufen.
Die Geschichten zeigen keine formale Anlage, die etwa in der Nachfolge und Radikalisierung der filmischen Montagetechnik in"Tauben im Gras" unlösbare Erzählprobleme hätten aufwerfen können. Der Zeitpunkt ihrer Entstehung macht zudem deutlich - ein überwiegender Teil der Texte ist vor den avantgardistischen Verdikten gegen ein lineares Erzählen geschrieben -, dass Koeppen sich auch nicht programmatisch ins Schweigen zurückzog. Eine viel schlichtere Erklärung liegt mit diesem vor uns ausgebreiteten Nachlass nahe: Koeppen konnte einfach nicht mehr. Er hatte nicht mehr die Kraft und wohl auch nicht mehr den gleichmäßigen Atem für die lange erzählerische Strecke.
Gleichwohl ist dieser Band ein Ereignis, bietet er doch das beeindruckende Zeugnis eines Dichters, der, alles andere als unermüdlich, in seiner Erzählbewegung doch nicht innehalten mochte. Vielleicht gehorchte er bis zum Ende einer Pflicht, die er seiner Mutter 1925 ins Grab versprochen hatte: "In Armut reich gelebt / In Armut schwer gestorben / Möge Fahrt durch Armut / Dir geben Kräfte / Zu reichem, erlebenden Leben. / Und ich will Dir / eine Totenfeier sein / Und meine Dichtung / dessen Schein / Wie arm (und doch wie reich) / ist dies in Armut / Wolfgang."
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