Point of no return

Jonas-Philipp Dallmann erzählt in seinem Debütroman „Notschek“ in Schwarzweiß von einem fiktiven Überwachungsstaat

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erfahrungen mit diktatorisch-totalitären Gesellschaftssystemen im 20. Jahrhundert –  zumal mit dem „real existierenden Sozialismus“ oder den Volksdemokratien des früheren Ostblocks –  literarisch zu verarbeiten, scheint eine Domäne derjenigen zu sein, die unter ihnen, wie auch immer, gelitten haben. Das scheint so einleuchtend wie unhinterfragbar zu sein, zumal damit über Art und Form der literarischen Gestaltung und schon gar nicht über deren Qualität noch gar nichts gesagt ist.

Doch es gilt sich klarzumachen, dass sich das einem Regulativ in der literarischen Diskursordnung verdankt, einem Regulativ über Autorschaft. Es gilt noch strikter in der so genannten Holocaust-Literatur, denen sich mittlerweile ein kaum mehr zu überschauender Forschungszweig widmet. Wie es aussieht, wenn das Autoren-Regulativ des Selbsterlebten verletzt wird, die Authentizität sich als Fake herausstellt, hat seinerzeit der Fall Wilkomirski vor Augen geführt.

Nun ist das Schreiben über Erfahrungen in repressiven Regimes weniger tabubeladen im Hinblick auf ein Fiktionalisierungsverbot und weniger diskursiv reglementiert, doch auch hier ist Autorschaft so eng mit dem Selbsterlebten verknüpft, dass das Vorwissen über den Autor oder die Autorin auch dann noch die Rezeption steuert, wenn der Text als solcher keineswegs besonders dazu einlädt. So sind die Werke von Herta Müller – um nur das prominenteste Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum zu nennen – so gearbeitet, dass sie es in ihrem poetischen Eigenwert nicht nötig haben, nur als quasi poetisch verschlüsselte Erfahrungsberichte gelesen zu werden; sie brauchen kein biografisches Vorwissen, um verstanden zu werden.

Doch weder ihre Entstehung noch ihre spätere Etablierung und Würdigung, bis hin zur höchsten literarischen Auszeichnung, dem Nobelpreis, wäre sicher nicht möglich gewesen ohne das Schicksal ihrer Autorin. Gleiches ließe sich über das ähnlich gelagerte Werk des ebenfalls monothematischen Autors Imre Kertész sagen, auch wenn ihm Andreas Maier kürzlich in der „Zeit“ bescheinigt hat, er schreibe gar nicht über KZs.

Auf der anderen Seite gab es in der Literatur des 20. Jahrhunderts freilich auch einen anderen Zugang zum Thema: Modelle eines parabelhaften, nicht psychologisierenden Zugangs, der nicht unmittelbar in Selbsterlebtem wurzelt. Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ oder Eugène Ionescos „Nashörner“ wären an kanonischen Dramenwerken zu nennen, aber auch Bertolt Brechts Keuner-Geschichte „Maßnahmen gegen die Gewalt“ zählt dazu. Diese Beispiele liegen allerdings weit zurück und stellen – aus hier nicht zu klärenden Gründen – gegenüber dem anderen Typus bis heute die verschwindende Ausnahme dar. Und es gibt natürlich – über allen thronend – Franz Kafka, dessen vielschichtiges Œuvre in Teilen auch als präfigurierende literarische Gestaltung des Lebens in totalitären Systemen gelesen werden kann und auch wurde.

Zwischen diesen Koordinaten, nahe bei Kafka vor allem, ist der Debütroman von Jonas-Philipp Dallmann, Jahrgang 1969, anzusiedeln. Seine Handlung ist rasch skizziert: Bei dem in einem Vorstadthaus wohnenden Ich-Erzähler und seiner Frau Maria quartiert sich Notschek in der Mansarde ein, eine schrullige Mischung aus verbummeltem Student und Bohèmien. Obwohl eigentlich nur als Interimsbewohner eines ungenutzten Zimmers gedacht, nistet sich Notschek bei seinen Wirtsleuten auf Dauer ein und wird mehr und mehr eine bestimmende Größe im Alltagsleben des Paares.

Als die autokratische Regierung des Landes repressive Maßnahmen wie Lebensmittelkontingentierung und eine Ausgangssperre von drei Uhr morgens bis elf Uhr abends einführt, scheint Notschek, der mit anderen dubiosen Gestalten Kontakt pflegt, mit dieser Entwicklung vertraut zu sein. Der Lebenskreis der drei verengt sich  immer mehr, die Nahrungsbeschaffung gerät zum Abenteuer und die Zeit wird mit haushälterischen Verrichtungen wie dem Einkochen von Äpfeln, dem Monogramm-Besticken von Wäsche sowie dem Ordnen eines Medizinernachlasses auf dem Speicher herumgebracht. Ein Hausnachbar spricht in einem kargen Wortwechsel mit dem Ich-Erzähler eine kryptische Warnung aus. Eines Tages erhält Notschek einen Brief von seinem am anderen Ende der Stadt lebenden Freund Tomek mit der Bitte um Hilfe. Die drei machen sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in die entlegene Oststadt auf, wobei sie das Auto eines Malermeisters ein Stück mitnimmt.

Der Besuch bei Tomek in der Oststadt ist einmal eine Zäsur im Erzähltempo: jetzt gewinnt der Roman, der eher stagnierend wiederkehrende Verrichtungen geschildert hat, an Fahrt. Ein großer Erwartungsdruck ist entstanden; wusste der ungeduldig werdende Leser doch bisher nicht, worauf alles hinausläuft. Es ist auch eine Zäsur in der Topografie des Romans und ein „point of no return“: er bringt schließlich eine für alle Hauptfiguren einschneidende Wende; die drei ordnen sich dem Überwachungsstaat ein, wovon das letzte Viertel des Romans erzählt. Wie das aussieht, kann hier nicht preisgegeben werden, um den Leser beziehungsweise die Leserin nicht um den Lesegenuss zu bringen. Diese Wendung – in Bezug auf den Protagonisten zugleich eine Wandlung der Identität – ist in erzählstruktureller Hinsicht ein Bravourstück, da sie ohne Psychologie auskommt und ihre Überzeugungskraft ausschließlich der erzählerischen Logik verdankt. Vor allem deswegen lohnt die Lektüre.

Wenn der Rezensent zum sich aufdrängenden Prädikat „kafkaesk“ greift, dann nur, um es gleich wieder fallenzulassen, ist es doch mittlerweile so verwaschen und verbraucht, dass eine nähere Beschreibung der Schreibtechnik Dallmanns viel erhellender ist. Überdies ist er viel zu eigenständig, als dass er sich als Kafka-Epigone etikettieren ließe. In manchen Mitteln mag er sich wie andere auch an diesem Übervater der literarischen Moderne anlehnen – was wäre dagegen zu sagen? – , in der Substanz geht er über ihn hinaus.

Wie bei Kafka haben die Figuren keine psychologische Tiefe, in ihrem Sprechen gewinnen sie keine Kontur – es überwiegt die indirekte Erzählerrede, wir erfahren nichts über ihre Vorgeschichte und können das ganze Geschehen geografisch gar nicht und zeitlich nur sehr grob und eher atmosphärisch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verorten. Der neutrale, mitunter leicht altmodische Ton des Ich-Erzählers, der durchgängig im Präsens erzählt, unterstützt das; es ist quasi ein Erzählen in Schwarzweiß, in einem verfremdeten Realismus. Nirgends ist in diesem „einsinnigen Erzählen“ (F. Beißner in Bezug auf Kafka) der Erzähler dem Erzählten voraus. Der Autor imaginiert eine Dystopie, bei der konkrete, stimmig zusammenwirkende Referenzen auf etwa osteuropäische Überwachungsstaaten der jüngeren Zeitgeschichte nur den Modellcharakter beeinträchtigen würden. Auf der anderen Seite werden skurrile Details übergenau beschrieben, wie etwa das „Würstli-Männlein“, eine Figur, die einen von der Regierung ausgegebenen Ratgeber für einfache Küche in Notzeiten schmückt und sogar auf der Umschlagrückseite des Romans abgebildet ist. Die von Notschek für die eingekochten Äpfel gewählte Bezeichnung „Fruchtertrag“ wird so oft wiederholt, dass sie symbolisch aufgeladen wird, aber dennoch leer bleibt.

Wie bei Kafka hilft die Lust am Detail und an scheinbar für die Handlung nebensächlichen Vorgängen keineswegs, das Dunkel, das über dem Geschehen insgesamt liegt, aufzuhellen. Bis zur Wende bleiben für den Erzähler – und damit auch für uns – der Machtapparat des Staates und seine Ziele undurchschaubar. Eine Binnenerzählung im letzten Teil, die Propagandazwecken dient, und die im Romanganzen eine Funktion wie die Türhüterparabel in Kafkas „Proceß“-Roman besitzt, enthält die prägnanten Schlüsselsätze: „Ich fessele dich. Gefesselt bist du frei“. Sie führen ins thematische Zentrum von Dallmanns Roman: der Dialektik von Freiheit und Unterwerfung  unter eine kollektive Ordnung und was das für die Identität des Einzelnen bedeutet.

Mit der bewussten Künstlichkeit der imaginierten dystopischen Lebens- und Gesellschaftsordnung  und der ohne psychologischen Realismus auskommenden erzählerischen Gestaltung eines Identitätswandels geht auch der überaus lobenswerte Verzicht auf jedwedes Moralisieren einher, das dem eingangs charakterisierten vorherrschenden „realistischen“ Schreiben über Totalitarismus mitunter anhaftet. Jonas-Philipp Dallmann, den zuvörderst charakterisiert, dass er nie von einem „Stoff“, schon gar nicht von biografischen Erfahrungen ausgeht, ist dagegen gefeit, hat er sich doch in den letzten zehn Jahren mit einer hermetischen, surrealistisch anmutenden Kurzprosa in diversen Zeitschriften und Anthologien hervorgetan, die literarische Anerkennung, wenn auch kaum Bekanntheit, gefunden hat. In einem Blog schrieb er einmal, etwas altklug: „Auch die Literatur verfehlt ja regelmäßig, bis auf wenige Ausnahmen, was sie sagen will oder sagt etwas anderes als sie sollte oder wiederholt nur, was ohnehin schon da ist, als Gerede“.

Auch realistische Literatur zu diesem Thema, die es mitunter an die Spitzen der Bestsellerlisten zu bringen vermag, wiederholt oft nur, was ohnehin schon da ist: als fiktionalisierte Publizistik. Entgegen dem implizit vorherrschenden Credo, eine im Selbsterlebten wurzelnde, zum Dokumentarischen tendierende und sich als geschichtliches Zeugnis verstehende Literatur, die nicht selten erzählpoetisch nicht ganz auf der Höhe der Zeit ist, sei die einzig gültige Form der Thematisierung von Leben in einer totalitär-repressiven Ordnung, hat er mit seinem bezwingenden Debütroman vorgeführt, dass es auch anders geht – dass sich mit modellhafter Verfremdung und mit erzählerischer Raffinesse anstelle von Absicherung in biografischer „Authentizität“ und stilistischem Realismus einem eher übermäßig traktierten Thema abseits vom Mainstream etwas Unverbrauchtes abgewinnen lässt.

Titelbild

Jonas-Philipp Dallmann: Notschek.
Luftschacht Verlag, Wien 2011.
295 Seiten, 21,40 EUR.
ISBN-13: 9783902373922

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