Si sprechent willekomen….

Wegera, Schulz-Balluff und Bartsch führen Studienanfänger in die Mediävistik ein

Von Ina KargRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ina Karg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Lernenden „abzuholen“ ist bekanntes didaktisch-pädagogisches Motto, bei dem man an die Schule, aber bislang kaum an die Wissenschaft denkt. Ohne dies explizit zu benennen, hat das Autorenteam seinen Band „Mittelhochdeutsch als fremde Sprache“ unter diesen Leitgedanken gestellt – und dies aus guten Gründen: In allen Bildungsbereichen ist die „Kompetenzorientierung“ zum Hochwertwort avanciert, es wird nicht mehr selbstverständlich „Wissen“ vermittelt, und ein Kanon an Texten steht mehr zur Disposition, als dass er Konsens wäre. Dabei sieht sich vor allem das Mittelalter und seine Literatur einem besonderen Legitimationszwang ausgesetzt, vor allem für den Deutschunterricht an den Schulen und in den Studiengängen für das Lehramt. Auf der anderen Seite nimmt man überall und allenthalben ein öffentliches Interesse am Mittelalter – oder besser: was dafür gehalten wird – wahr. Daraus resultiert ein Kommunikations- und Vermittlungsproblem, das die germanistische Wissenschaft vom Mittelalter zu bedenken hat, wenn sie auf ihre Studienanfänger trifft.

Das Autorenteam darf mit diesem Einführungsbuch zu Recht ein Alleinstellungsmerkmal beanspruchen. Anders als andere stellt es sich der Herausforderung, den Ankömmlingen an der Hochschule eine Brücke zu bauen, auf der sie in ein für sie aus wissenschaftlicher Sicht völlig neues Gebiet gelangen sollen. Es greift dabei gegenwärtig prominente fachdidaktische Paradigmen der kulturellen und kommunikativen Kompetenz, der Prozessorientierung und Selbsttätigkeit der Lernenden auf. Eine solch moderne didaktische Ausstattung erfordert vielfältige, auch kreative und produktive Aufgaben: Texte werden umgeschrieben, Grafiken und Schaubilder in Worte gefasst oder multiple-choice-Aufgaben gelöst. Mittelhochdeutsch wird in diesem Sinn als „fremde Sprache“ verstanden, deren Wortschatz und Grammatik integrativ und funktional zum Zweck der Lektüre und des Verständnisses von Texten vermittelt wird. Abgeholt werden die Studierenden gleich mit einem Willkommensgruß: Das erste Kapitel trägt die Überschrift „Lasst uns sprechen: willekomen und beginnt mit den Anfangsstrophen des „Nibelungenliedes“ als eines der – wenn auch für die Adressaten dieses Buches vielleicht nur vom Hörensagen – bekanntesten Werke der mittelalterlichen Literatur. Geboten werden erste Einblicke in die mittelhochdeutsche Sprache, weiter geht es mit sprachgeschichtlichen Informationen und schließlich mit einer Liste von Grundlagenliteratur, Titeln mediävistischer Zeitschriften und einigen Adressen von einschlägigen Internetseiten zur weiteren Recherche. Die Aufgaben sind in das Kapitel integriert, wodurch nicht nur die Studierenden punktuell aktiviert werden, sondern im Wechsel von Informationen, Beispielen und Selbsttätigkeit ein Lernprozess angeleitet und begleitet wird. Diesem Zusammenspiel von Beispieltexten, Informationsbausteinen, Aufgaben und weiterführender Literatur folgen im Wesentlichen alle Kapitel. Ein zweites setzt zunächst die Grundlagenarbeit fort; weitere konzentrieren sich thematisch auf die Bereiche Wald, Hof, Macht, Glaube, Eukrasie, Ehe und Minne, Wissen und Wissensvermittlung, deren Bedeutung für die mittelalterliche Lebenswelt und die sinngebende Orientierung ihrer Menschen den Lernenden nahegebracht wird. Nicht zu vergessen für den Anspruch, genuine Vermittlungsarbeit zu leisten, ist die übersichtliche, ansprechende grafische Gestaltung des Bandes mit Icons am Rande, die die Lernenden bei ihrem Erkenntnisprozess leiten, sowie seine sehr reiche Bebilderung. Dabei ist bekanntes, aber auch weniger bekanntes Bildmaterial einbezogen – es sind sehr viele – mitunter leider auch sehr kleine Bilder – und auch sie sind dem integrativen Prinzip verpflichtet: Texte und Bilder sind in Zusammenhang gesetzt, und Bilder dienen als Verstehenshilfen für Texte, die – nach heutigem Verständnis – literarische und nicht literarische aus den Bereichen Recht, Medizin und Religion umfassen.

Wo sind nun die Lernenden nach dem „Abholen“ und am Ende ihres begleiteten Erkenntnisweges angekommen?

Das integrative Prinzip des Sprachunterrichts steht stets vor dem Problem, dass einerseits nicht aufgrund einer Sachlogik einem bestimmten Thema eine bestimmte sprachliche, vor allem nicht grammatikalische Erscheinung zugeordnet werden kann, sondern allenfalls die Auswahl der Texte so erfolgen muss, dass sich an ihnen bestimmte Sprachphänomene zeigen lassen. Dass damit logischerweise kein systematischer Wissenserwerb erfolgt, wird in Lehrwerken des Fremdsprachenunterrichts damit kompensiert, dass zusätzlich zu den prozessorientiert konzipierten Lerneinheiten systematische Übersichten abgedruckt werden. So auch hier: Zum einen in Form von Grammatiktabellen und Wortlisten am Ende des Buches und zum anderen als doppelseitige, lose Einlegekarte, auf der man die Übersicht über die (gefürchteten) Ablautreihen und Präteritopräsentien findet.

Gerade wenn es um Prozesse und Kompetenzen geht und sich das Buch damit an den gegenwärtigen Bildungsdiskurs anschließt, ist es doch wichtig zu sehen, dass sich ohne Wissen kein Können einstellen kann: Die Vermittlungsarbeit des Buches zielt eben doch – und dies sinnvollerweise – auf Wissen: Es ist zunächst Wissen um die Prinzipien der anderen Sprache; es wäre aber auch Wissen um eine andere Wissenslogik jener Zeit, die man gemeinhin Mittelalter nennt, und es wäre vor allem ein Wissen um die Tatsache, dass das Mittelalter keine Fantasywelt ist, sondern die eigene kulturelle Vergangenheit darstellt. Die in den Kapiteln des Buches präsentierten Strukturen bestimmter semantischer Felder können eine Vorstellung davon geben, dass sich Einstellungen zu Erscheinungen der Welt gewandelt haben.

An anderen Stellen hätte die Brücke sowohl am einen wie am anderen Ende des Lernweges noch etwas mehr Aufmerksamkeit verdient: Beispielsweise sind Bilder, auch wenn sie auf dem Wissen und der Erfahrung der Zeit beruhen, nicht einfach Fotos mittelalterlichen Lebens und auch nicht lediglich Umsetzung von Text, wie dies die Aufgaben nahelegen mögen. Vielmehr sind sie als Rezeptions- und Vermittlungsphänomene zu begreifen, bei denen sowohl ikonografische Konventionen als auch Kanonisierungseffekte eine Rolle spielen, denn nicht alle Handschriften sind bebildert und dies auch nicht in derselben Weise. Eine eigene Bildlesekompetenz in den Blick zu nehmen, hätte die Chance für weitere Einsichten in die mittelalterlichen Prinzipien der Weltdeutung, Orientierung und Sinngebung noch besser genutzt. Ähnliches gilt für den Zugriff zu Texten: Im Hinblick auf das „Abholen“ wäre stärker zu bedenken, dass Lernende aus der Schule meist mit Literaturvorstellungen kommen, die der Geniepoetik und Autonomieästhetik verpflichtet sind und eine klare Unterscheidung von Literatur und Sachtexten annehmen. Solche vermeintlichen Selbstverständlichkeiten gilt es aufzubrechen.

Wissen muss man auch etwas über die Nutzung von Hilfsmitteln, wenn man die mittelhochdeutschen Texte nicht nur verstehen, sondern mit ihnen auch wissenschaftlich arbeiten soll. Das wird bedacht, ist jedoch mehr, als dies das „Verstehen“ von Texten mit bestimmten Tools der Fremdsprachendidaktik und angeleiteten Strategien der Leseprozessforschung nahelegt. Immerhin: Das Lehrwerk bringt das Lesen der mittelhochdeutschen Texte selbst zurück und eröffnet die Chance, dass Studierende bestehende Barrieren nicht einfach mit dem Griff zur Übersetzung überwinden. Und schließlich muss ja auch über das Anfängerseminar hinaus im Studium der Mediävistik noch etwas zu tun bleiben. Das mediävistische Anfängerseminar selbst jedoch sollte mit diesem Buch zum Erfolg werden können.

Titelbild

Klaus-Peter Wegera / Simone Schultz-Balluff / Nina Bartsch: Mittelhochdeutsch als fremde Sprache. Eine Einführung für das Studium der germanistischen Mediävistik.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2011.
234 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783503122868

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