Leben im Konjunktiv

Zum 80. Geburtstag des Georg-Büchner-Preisträgers Alexander Kluge

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

„Für Menschen sind Lebensläufe die Behausung, wenn draußen Krise herrscht. Alle Lebensläufe gemeinsam bilden eine unsichtbare Schrift. Nie leben sie allein. Sie existieren in Gruppen, Generationen. Staaten, Netzen. Sie lieben Umwege und Auswege“, heißt es im pünktlich zum 80. Geburtstag des künstlerischen Universaltalents Alexander Kluge im Suhrkamp Verlag erschienenen opulenten Band „Das fünfte Buch“ – die Fortschreibung seiner umfangreichen Kompendien-Reihe, die vor 12 Jahren mit dem assoziativen Mammut-Epos „Chronik der Gefühle“ begonnen hatte.

„Ich bin anti-belletristisch. Ich glaube nicht an Hochkunst. Sondern an eine relativ triviale Art des Erzählens“, erklärte Alexander Kluge 2007 in einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“. Das klingt stark nach Understatement, denn der Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 2003 erzählt alles andere als „trivial“. Seine assoziative Prosa, seine Sammlungen bisweilen aphoristisch zugespitzter Gedankensplitter kommen wie ein freischwebendes, gigantisches, reflektierendes Œuvre daher. Literarische und methodische Parallelen sind im deutschen Sprachraum selten, allenfalls bei dem 2001 tödlich verunglückten WG Sebald zu konstatieren. Kaum zu glauben, dass der große Experimentierer und Dokumentarist Kluge in jungen Jahren einst Thomas Mann verehrt hatte, wie er uns in seinem neuen Band wissen lässt. Über seinen Besuch Anfang der 1950er Jahre in Kilchberg schreibt er: „Ich wagte nicht, an der Haustür zu klingeln. Was hätte ich als Grund meines Besuchs vorbringen sollen?“

Die Umtriebigkeit des intellektuellen Multi-Talents Kluge ist  bewundernswert. Als Schriftsteller, Filmregisseur, Filmtheoretiker, Leiter der Produktionsfirma „Kairos-Film“ und Mitgründer der „DCTP“, scharfsinniger Essayist, Dozent an der Filmhochschule, Kulturtheoretiker, TV-Moderator und Fernsehproduzent sammelte der promovierte Jurist und Adorno-Schüler Meriten. Dabei schwamm er nie auf den Wogen des Zeitgeistes mit, sondern ruderte kraftvoll gegen den Strom und gab viele neue kulturelle Impulse. Vor vier Wochen hielt er in München die Laudatio auf den neuen Karl-Valentin-Preisträger Helge Schneider. Auch das ist Kluge.

Alexander Kluge, der am 14. Februar 1932 in Halberstadt als Sohn eines Arztes geboren wurde, setzte nach seinem Jurastudium als Schriftsteller in den 1960er-Jahren noch vor Peter Weiss und Heinar Kipphardt ganz auf die dokumentarische Collage („Lebensläufe“, 1962). Als Regisseur, der einst bei Fritz Lang volontiert hatte, revolutionierte er den deutschen Film und gilt zusammen mit Edgar Reitz und Peter Schamoni als Wegbereiter des Autorenfilms. Ende der 1980er-Jahre, als von vielen Kulturpessimisten der Untergang der Fernsehkultur durch das Privatfernsehen vorausgesagt wurde, produzierte Kluge für diverse kommerzielle Sender anspruchsvolle Kulturmagazine („10 vor 11“, MitternachtsMagazin“, „Primetime“), die er sich gut honorieren, aber nicht zensieren ließ.

Ob als Filmregisseur („Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“, „Die Patriotin“) oder als „Autor“ (wie er sich selbst gern bezeichnet): Kluge stellt stets höchste Ansprüche. Er liefert weder festgefügte Weltbilder noch griffige Stories, sondern versucht, Erfahrungen zu vermitteln („Eigentlich brauchen wir einen Atlas unserer Erfahrung.“) und aus einem assoziativen Bildermeer und dokumentierten Fakten Zusammenhänge zu konstruieren.

„Wir leben nicht in einer Gegenwart. Wir leben gleichzeitig in einer Vergangenheit, einer Zukunft und in der Möglichkeitsform, in einem Konjunktiv“, heißt es in Kluges Band „Tür an Tür mit einem anderen Leben“ (2006). In der jüngsten Vergangenheit hat er sich wieder verstärkt der Schriftstellerei gewidmet und im Jahr 2000 sein erzählerisches Opus Magnum mit dem Titel „Chronik der Gefühle“ vorgelegt – eine zweibändige, 2.000 Seiten umfassende Essenz aus seinem bisherigen Werk, in der – leicht modifiziert – viele Werke aus den 1960er-Jahren wiederzufinden sind.

Seine eigene Arbeitsweise beschrieb Kluge 2003 in seinem Band „Die Lücke, die der Teufel lässt“: „Ich habe eine Partitur, nach der ich lebe, jedenfalls wenn ich schreibe: Wenn man vor der Wand steht, wenn es nicht weiter geht, muss es irgendwo anders weitergehen.“