Es war zu viel. Es wäre für jeden zu viel gewesen

Dieter Wiesner berichtet aus dem Leben von Michael Jackson

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Jackson hatte Angst. Seine Ängste vor großen Fernsehauftritten und vor Interviews, vor übermenschlichen Erwartungen, die wie Mühlsteine auf ihm lasteten, und finanziellen Problemen, seine Ängste vor den geldgierigen Menschen, die ihn umgaben, und vor undurchsichtigen Verträgen, die ihn von seinen Umsätzen kaum profitieren ließen, waren nur zu berechtigt. Dieter Wiesner hat seine Erinnerungen in seinem neuen Buch „Michael Jackson – Die wahre Geschichte“ veröffentlicht. Wiesner gehörte seit 1996 zu Jacksons engstem Mitarbeiterkreis, begleitete ihn während der HIStory-Tour rund um die Welt und wurde schließlich sein Manager. Er berichtet von der Zusammenarbeit mit dem Superstar und lässt dabei einen ungewohnt offenen Blick auf das Geschäftsleben und das Privatleben Michael Jacksons zu.

Wiesner erlebte mit den HIStory-Konzerten einen kreativen Höhepunkt des künstlerischen Schaffens von Michael Jackson hautnah mit. „Die ganzen technischen und architektonischen Effekte, die unglaubliche Perfektion der einzelnen Choreografien – all das kam von Michael selbst“, schreibt er. Der Manager aus dem hessischen Rodgau durfte auf der Neverland Ranch wohnen, fuhr mit dem Megastar auf Quads über das riesige Gelände der Ranch und plante mit ihm die Geschäfte. Das Buch spiegelt viel von der Begeisterung Wiesners für die Schaffenskraft und Vielfältigkeit Michael Jacksons wider.

Doch Angst ist ein fürchterlicher Lebensbegleiter. Mit Angst vor jedem Termin wird die Wartezeit zur Qual. Darüber konnte die scheinbar heile Welt der Neverland Ranch nicht hinwegtäuschen. Michael Jackson wurde von Lampenfieber geplagt, daran habe auch seine jahrzehntelange Routine als Megastar nichts geändert, erzählt Wiesner und beschreibt die äußerste Anspannung, die Jackson verspürte und die ihn vor Auftritten dazu trieb, seine Kleidung bis ins kleinste Detail zu überprüfen, hin und her zu laufen und immer wieder auf Toilette zu gehen. „Das ständige Unterwegssein, die Ruhelosigkeit, der jedes Mal aufs Neue enorme Erwartungsdruck, die körperliche Belastung – all das zehrte an ihm“.

Hinzu kam, dass er sich „von allen Seiten ausgenutzt und abgezockt“ fühlte. Michael Jackson hasste Auseinandersetzungen – „insbesondere mit seinem Vater“. Er wollte in Ruhe gelassen werden und zusammen mit seinen Kindern ein möglichst normales Leben führen. Er wollte seinen Ruhm nutzen, um Kindern zu helfen, spendete einen Großteil seines Geldes, baute Kinderkrankenhäuser und lud arme Familien auf sein Anwesen ein. „Sein innigster Wunsch war es, Menschen dabei zu helfen, ihr Leid zu überwinden.“

Umso schrecklicher waren für Michael Jackson die Anschuldigungen des Staatsanwalts Tom Sneddon, er habe Kinder missbraucht. Der Vater des angeblichen Opfers aus dem ersten Missbrauchsprozess 1994, Evan Chandler, hatte zugegeben, aus Geldgier gehandelt zu haben. Rund vier Monate nach Michael Jacksons Tod nahm sich Evan Chandler das Leben. Als mit der Durchsuchung der Neverland Ranch am 18. November 2003 Sneddons zweite Kampagne begann, verbreitete sich das Gerücht des Kindesmissbrauchs erneut in Windeseile um die Welt. Unbeschreiblich hart trafen Michael Jackson die Schlagzeilen – es war ein wohlinszeniertes Medienspektakel, der Megastar war hilflos.

Wiesner berichtet in Tagebuchform von den Ereignissen, die Jackson durchwachte Nächte brachten. Ihm sei es immer schlechter gegangen. „Er war so unendlich verzweifelt, keiner von uns hatte ihn je so erlebt“. Die Staatsmacht war in sein Innerstes eingedrungen „und hatte schließlich seine Privatsphäre auf demütigende Weise bloßgestellt“. Im Prozess tauchten immer mehr Widersprüche und Falschaussagen auf, Jackson wurde freigesprochen. Er feierte den Freispruch nicht. Jackson wusste, sein Image war zerstört; und viel schlimmer war der irreparable Schaden, den seine Seele genommen hatte.

Rastlos zog Michael Jackson um die Welt, tauchte ab und hielt sich „heimatlos“ mal in Irland, Schottland, Deutschland oder in Bahrain auf, bis er in Las Vegas eine Villa bezog. Er war laut Wiesner ein „gebrochener Mann“. Er vertraute niemandem und fand keinen Schlaf mehr: „Es kam vor, dass Michael drei Tage und die zwei Nächte dazwischen komplett wach war“. 2008 hatte Jackson schon 400 Millionen Dollar Schulden angehäuft, die „This is it“-Konzertreihe schien ein Ausweg, ihm wurde neue finanzielle Unabhängigkeit versprochen. Wiesner erinnert sich, mit welcher Überwindung Jackson sich auf zehn „This is it“-Konzerte eingelassen hatte, doch die Veranstalter verlangten immer mehr. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sein Leben längst nicht mehr im Griff. Er war abgeschirmt von der Außenwelt durch die „Nation of Islam“, eine religiös-politische Organisation schwarzer US-Amerikaner, die ihn seit dem Prozess 2005 begleiteten. Die Begegnungen mit den Bodyguards und den Predigern der „Nation of Islam“, die Wiesner schildert und die als „Gehirnwäsche“ bezeichnet werden können, lassen dem Leser eiskalte Schauer über den Rücken laufen.

Auf dem Anrufbeantworter von Dieter Wiesner fand sich Jacksons Hilfeschrei: „Ich fürchte um mein Leben und um das meiner Kinder.“ Ein paar Tage später starb Michael Jackson. Der Prozess gegen Conrad Murray, den Leibarzt von Michael Jackson, der ihm die tödliche Dosis Narkosemittel verabreichte, der viel zu spät den Notarzt rief und bei der Reanimation schwere Fehler beging, war zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches von Dieter Wiesner noch nicht beendet. Dennoch reiht sich der Prozess, in dem Murrays Schuld festgestellt wurde, in die von Wiesner beschriebenen Demütigungen ein, die Michael Jackson zeitlebens über sich ergehen lassen musste. Es ist erschreckend, dass im Fernsehen Bilder der Gerichtsmedizin live übertragen wurden, die den nackten, toten Körper des Künstlers zur Schau stellten.

Noch nie wurde das System, das sich wie ein Spinnennetz um einen Popstar herum aufbaut, und dessen Funktionsweisen so schonungslos offengelegt wie in Dieter Wiesners Buch. Michael Jackson war der größte Star unserer Zeit, umso härter ging das System mit ihm um. Wie abhängig Michael Jackson von seiner Plattenfirma war, wie er sich wegen der aus seiner Sicht schlechten Werbung für das 2001 veröffentlichte Album „Invincible“ rächen wollte und wie die Musikindustrie gnadenlos zurückschlug, belegt Wiesner eindrucksvoll. Wiesner und Jackson nannten die Abläufe, auf die sie immer weniger Einfluss hatten, voller Abscheu und Angst nur kurz „das System“. Das System zog sich um Michael Jackson immer enger und kostete ihn letztlich das Leben. „Es war zu viel. Es wäre für jeden zu viel gewesen“, resümiert Wiesner. Seither füllen sich die Konten wieder, Jackson ist der Bestverdiener unter den verstorbenen Künstlern. Es gibt sicherlich Menschen, die sich darüber freuen.

Titelbild

Dieter Wiesner: Michael Jackson. Die wahre Geschichte.
Heyne Verlag, München 2011.
332 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783453196087

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