Vielstimmiges Ende der Natur

Der Züricher Philosoph Michael Hampe schreibt in „Tunguska“ über singuläre Ereignisse und naive Naturbegriffe

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 30. Juni 1908, um 7.15 Uhr, kam es in Sibiren, nahe des Tunguska-Flusses, zu einer rätselhaften Explosion. Dabei knickten noch in 30 Kilometern Entfernung Bäume wie Streichhölzer um, noch in 65 Kilometern fand man eingedrückte Türen und Fenster. Die dafür nötige Sprengkraft wird auf das Mehrfache der Hiroshima-Atombombe geschätzt. Bis heute rätselt die Wissenschaft über die Ursache dieses beängstigenden Vorfalls. Als wahrscheinlichste Erklärung gilt der Einschlag eines Asteroiden, allerdings wurde ein entsprechender Krater bislang nicht gefunden. Denkbar wäre auch eine gewaltige Methangasexplosion. Oder war es gar kein Naturereignis, sondern, wie Science-Fiction-Anhänger glauben, der Absturz eines UFOs?

Die vielleicht originellste Theorie sieht im „Tunguska-Ereignis“ ein Werk von Menschenhand. Auf der Suche nach neuen Geldgebern hatte seinerzeit Nikola Tesla behauptet, an Methoden zur Hochfrequenz-Energieübertragung durch die Ionosphäre zu arbeiten. Zum Beweis wollte der Erfinder des Wechselstroms und Induktionsmotors von seinem geheimnisvollen Wardenclyffe Tower in Long Island, USA, aus einer Nordpolexpedition den Himmel erleuchten – geriet das Experiment außer Kontrolle und entlud sich die Energie an anderer Stelle?

Im neuen Buch Michael Hampes sind das Tunguska-Ereignis und die Geschichte seiner nicht immer seriösen Erklärungsversuche ein faszinierender Anlass, um über „Das Ende der Natur“ (so der Untertitel) nachzudenken. „Das Ende“ nicht nur deswegen, weil die Tunguska-Explosion stellvertretend für heute grassierende Weltuntergangsszenarien, von der Klimakatastrophe bis zum finalen Asteroideneinschlag, stehen kann. Sondern auch, weil sich für Hampe an den verschiedenen Tunguska-Theorien besonders deutlich zeigt, dass es „die Natur“ gar nicht gibt. Was es für den an der ETH Zürich lehrenden Philosophen, der 2007 „Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffes“ vorgelegt hat, stattdessen gibt, sind zunächst einmal verschiedene Naturbegriffe, die auf unterschiedlichen Unterscheidungen beruhen. Als Kronzeugen dieser skeptischen Metaposition dienen dabei vor allem C. S. Peirce, Bruno Latour und Paul Feyerabend.

Wie bereits in „Das vollkommene Leben“ (2009) vertraut Hampe auch in „Tunguska“ auf die erhellende Wirkung einer polyphonen Darstellung. Die Vielstimmigkeit wird sowohl durch unterschiedliche Darstellungsformen (Dialog, Essay, wissenschaftliche Abhandlung) als auch durch fiktives Personal erreicht. Waren es im Vorgängerbuch für einen fiktiven Wettbewerb eingereichte, unterschiedliche Positionen vertretende Essays, so versammelt Hampe im neuen Werk vier tote Denker auf einer hochmodernen Totenbarke, der MSC Norach, einem riesigen Kühlcontainerschiff, das sich durch Nebelbänke den Jenissei hoch Richtung Tunguska kämpft. An Deck begegnen sich als Gespenster ein gewisser Feierabent (ein Wiedergänger des Philosophen Paul Feyerabend), der Mathematiker Blackfoot (alias Alfred North Whitehead), der Biologe Bordmann (Adolf Portmann) sowie der Physiker Tscherenkow (Steven Weinberg).

Den sich entspinnenden Totengesprächen sind einleitende Essays vorgeschaltet, die den vier Elementen Wasser, Erde, Feuer und Luft gewidmet sind und die die bereits aus „Das vollkommene Leben“ bekannten beachtlichen literarischen Qualitäten Hampes erneut unter Beweis stellen. Dagegen hätte man sich die Totengespräche selbst gern ein wenig – wenn der Kalauer erlaubt ist – lebendiger gewünscht: Jeder Ansatz zum unterhaltsamen Streitgespräch wird prompt von einem langatmigen Monolog eines der vier Diskutanten erstickt. Vertritt Tscherenkow die sich streng an kausalen Naturgesetzen orientierende Naturwissenschaft, so glaubt Bordmann an die Tesla-Theorie und Blackfoot an ein letztlich unerklärliches singuläres Ereignis, welches er paradigmatisch für unsere Naturerfahrung generell hält. Feierabent, dem Hampe erklärtermaßen am nächsten steht, kritisiert alle drei Positionen und beklagt den Ausschluss beispielsweise mythologischer Beschreibungsversuche.

Welche Konsequenzen sich aus bestimmten Naturbegriffen ergeben, zeigt Hampe in einem Schlusskapitel mit dem Titel „Geteilte Natürlichkeiten“. Vor allem die angebliche Verantwortung des Einzelnen gegenüber seiner „natürlichen“ Umwelt hat es ihm angetan. Für Hampe werden von selbsternannten Naturschützern die Möglichkeiten des Einzelnen überschätzt, finden sich doch Individuen in vorgängigen kollektiven Lebensformen wieder. „Die Willensanstrengungen von einzelnen Menschen ändern noch keine kollektiven Gewohnheitssysteme […]. Es ist eine individualistische Ideologie zu glauben, dass die vielen einzelnen Menschen allein mit ihren Willensanstrengungen ‚das Wesen‘ der Märkte, Gesellschaften oder Zivilisationen ausmachen und bestimmen.“

Hampes desillusionierende Warnung vor einem naiven Lasst-uns-die-Welt-retten-Glauben in Ehren, befriedigen kann sie mangels einer alternativen Antwort auf die Kantische Frage „Was soll ich tun?“ nicht. Diesbezüglich erscheint die von dem Sozialpsychologen Harald Welzer vertretene Theorie der sich verändernden, aber auch aktiv veränderbaren gesellschaftlichen „Referenzrahmen“, innerhalb derer sich menschliches Handeln im Guten wie im Schlechten entfaltet, als lohnenderer Ansatz.

Titelbild

Michael Hampe: Tunguska oder Das Ende der Natur.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
317 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446237674

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