Nur einen Klick entfernt

„Rosarote Stunden der Erotik“ oder „nie dagewesene Formen emotionalen Elends“? Neue Bücher zum Dauerthema „Liebe“ sind sich zumindest in einem einig: Das Internet hat alles verändert

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Schmerz bringt dich nicht um“, hielt unlängst Jonathan Franzen der „Generation Facebook“ vor. Diese sammle lieber Hunderte von Online-Kontakten, euphemistisch „Freunde“ genannt, und drücke harmlose „Gefällt mir“-Buttons, statt noch das Risiko wirklicher Beziehungen einzugehen, behauptete der amerikanische Romancier. Für Eva Illouz ist Franzens Essay ein Beleg für ihre Diagnose von einer gesteigerten, wenn nicht gar hypertrophen Bedeutung der Liebe in der Spätmoderne. Die damit einhergehenden „noch nie dagewesenen Formen emotionalen Elends“ bieten für Illouz eine Erklärung für den Erfolg sozialer Netzwerke. Verspricht deren Virtualität doch einen Schutz vor emotionalen Verletzungen.

In „Warum Liebe weh tut“ geht die israelische Kultursoziologin so desillusionierend wie in keiner ihrer viel beachteten Studien zuvor der Liaison zwischen kapitalistischer Konsumgesellschaft und romantischem Liebesideal nach. Daneben bezeugen weitere Neuerscheinungen das anhaltende Interesse an diesem Thema: Wilhelm Schmid verspricht „eine Anleitung zum Glück in der Liebe“, Alain Badiou singt in seinem Überraschungsbestseller ein erstaunliches „Lob der Liebe“, und der Soziologe Jean-Claude Kaufmann untersucht in „Sex@mour“ mit viel Lust an der Empirie jene Revolution, die das Internet dem postmodernen Liebesleben bereitet hat.

Die Feststellung dieses Umbruchs ist so etwas wie der gemeinsame Nenner der hier besprochenen Novitäten. Offenbar haben Single-Foren, Chatrooms und Dating-Seiten die Partnersuche gründlicher verändert als die 2000 Jahre zuvor. Denn noch nie war die „Liebe“ so einfach wie heute: Sie „ist nur einen Klick entfernt“, wie etwa die weltgrößte Partneragentur match.com wirbt. Und Jean-Claude Kaufmann zitiert – stellvertretend für Millionen einsamer Online-Herzen – den Jubel einer Jennifer alias Cendrillon69 in ihrem Blog: „Das ist das Jahr null der Liebe, der Großen, Wahren Liebe. … Da hast du auf deinen Prinzen gewartet und gewartet …, und du hättest lange warten können!! Denn der Arme wusste das nicht! Heute gibst du im Netz eine Anzeige auf, und die ganze Welt weiß es. Wenn irgendwo geschrieben steht, dass du ihn treffen wirst, gibt es keine Entschuldigungen mehr, es kann nicht mehr schief gehen. Man muss nur ein bisschen suchen.“

Auch Wilhelm Schmid sieht im Internet vor allem ein nützliches Werkzeug der von dem „freien Philosophen“ in immer neuen Büchern und Büchlein ventilierten Lebenskunst. Mit seinen Suchmaschinen sei es eine Chance, das notorisch unzuverlässige „Zufallsglück“ zu kitzeln, um so zum „Glück der Fülle“ mit seinen „rosaroten Stunden“ der Erotik oder auch nur den „grauen“ der Alltagsroutine zu gelangen. Dagegen ist für seinen französischen Kollegen Alain Badiou, ganz im Einklang mit Jonathan Franzen, das Internet die denkbar größte „Bedrohung“ der Liebe. „Liebe ist kein Zufall“, werben unisono Angebote wie match.com, Meetic oder Elitepartner.de und versprechen, für den Nutzer passgenau und algorithmengefiltert Mr. oder Mrs. Right im Supermarkt der einsamen Herzen zu finden. Die Aussicht auf eine risikolose Beziehung lasse aber nur Schrumpfformen der Liebe zu, glaubt Badiou.

Deshalb müsse sie heute „neu erfunden“ werden. Für Badiou ist jede wahre Liebe ebenso ein „Vertrauen auf den Zufall“ wie eine „authentische tiefe Erfahrung der Andersheit“, die Entstehung einer „Bühne der zwei“, von der aus die Welt nicht mehr von der Identität, sondern gerade vom Unterschied ausgehend erforscht werden kann. Vermutlich hat seit Niklas Luhmann kein Autor romantikferner und trotzdem (oder gerade deshalb) begeisternder von der Liebe gesprochen wie der französische Philosoph – von der wahren Bedeutung einer Liebeserklärung bis zum „Desaster“ einer Trennung.

Eine Neuerfindung der Liebe hält auch Eva Illouz für überfällig, die sich als Anwältin all derer versteht, die der spätmodernen Liebesideologie zum Opfer fallen: „Könnte die Soziologin die Stimme der Menschen hören, die nach Liebe suchen, dann vernähme sie eine lange und laute Litanei des Jammerns und Stöhnens.“ Nach Illouz hat die Liebe heute deshalb so ein zerstörerisches Potenzial, weil sie konstitutiv für Glück, Identität und Selbstwertgefühl des Individuums geworden ist, speziell für das weibliche.

Dass dies in früheren Jahrhunderten anders war, zeigt ihr ein Blick auf die Romane von Jane Austen oder die Liebesbriefe von Mark Twain oder Emily Dickinson. Im 19. Jahrhundert waren junge Frauen eingebunden in ein familiäres Netzwerk, das sie ebenso sehr fesselte wie schützte; bei der Partnersuche standen gesellschaftliche Stellung und das Einhalten unhinterfragter moralischer Werte im Vordergrund. Wer verlassen wurde, mochte zwar auch unglücklich gewesen sein, war aber, anders als das zeitgenössische Individuum, deshalb noch nicht therapiereif. Statt sich selbst als ungenügend zu empfinden, war der davongelaufene Verehrer eben als Hallodri entlarvt.

Der „Freudschen Kultur, von der wir durchdrungen sind“, wirft die Soziologin vor, nicht zu sehen, wie sehr die heutige „Organisation des Begehrens“ ein Ergebnis gesellschaftlicher Veränderungen ist. Die Psychotherapie verdiene nicht nur am Liebeselend, sie produziere es auch mit, indem sie die Schuld am Scheitern einer Beziehung dem Einzelnen gibt – in wirkmächtigen Ratgebern wie „Wenn Frauen zu sehr lieben“ oder mit fragwürdigen Diagnosen (vor allem bei Männern) wie „Bindungsangst“. Postmoderne Heiratsmärkte mit ihrem, gerade auch durch das Internet, entgrenzten Partnerangebot funktionieren aber nach Illouz grundlegend anders als die Heiratsmärkte des 19. Jahrhunderts, nämlich nach den Regeln der Konsumkultur, mit einem sexualisierten Körper als „Ware“.

Allerdings finde der Tausch unter ungleichen Marktteilnehmern statt, so Illouz: Waren für Männer im 19. Jahrhundert noch Treue und Verbindlichkeit entscheidend, um eine Partnerin zu finden, so gebe es für sie seit dem späten 20. Jahrhundert ein Überangebot an paarungswilligen Frauen. Und da Männer, anders als Frauen, auch keine biologische Uhr im Hinterkopf ticken hören, also ein ungleich größeres Zeitfenster haben, tendiert ihre Bindungsbereitschaft, wie frau weiß, gegen null. Männlichkeit werde heute gegenüber Geschlechtsgenossen durch das Sammeln weiblicher Trophäen statt durch Verbindlichkeit unter Beweis gestellt. Die „Bindungsangst“ erweist sich für Illouz als eine aus männlicher Sicht durchaus rationale Strategie, auf einem Markt mit Überangebot eine künstliche Knappheit zu erzeugen.

Die Folgen dieser neuen „emotionalen Herrschaft von Männern über Frauen“ sind fatal: Gespräche zwischen den Geschlechtern werden häufig paradox, aus Angst, den Partner mit Bindungswünschen in die Flucht zu schlagen. Wie sehr Verlustängste und Verletzlichkeiten Beziehungen von innen heraus zerstören können, belegt Illouz mit Interviews mit Frauen und Männern aus drei Kontinenten sowie mit Werken der Populärkultur wie der TV-Serie „Sex and the City“.

Das alles passt so gut zusammen, dass sich beim Leser der Eindruck aufdrängt, hier suche sich eine brillante Theoretikerin vor allem jene Belege zusammen, die ihre Thesen stützen, und simplifiziere sowohl die historische wie die gegenwärtige Realität, in der es durchaus auch Männer geben soll, die sich Kinder und Familie wünschen, oder Frauen, die lieber Karriere machen. Ein differenzierteres Bild der heutigen Generation zeigt Jean-Claude Kaufmanns spannende Studie. Der Pariser Soziologe ist ein Spezialist für die Mikroebene des Alltags in Beziehungen, bekannt wurde er mit Büchern wie „Was sich liebt, das nervt sich“ oder „Schmutzige Wäsche“. Nun hat er sich unter jene begeben, die in einschlägigen Foren unter Nicknames wie „Treuloser“, „Wattestäbchen“ oder „Miss Feige Miss Traube“ auf Partnersuche sind. Online-Dating scheint längst ein Volkssport zu sein. Dabei zeigen die dokumentierten Diskussionen und Erfahrungsberichte: So kurz heute der Weg ins Bett ist, so hürdenreich kann er – für beide Geschlechter – werden, soll daraus etwas „Ernstes“ werden. Einige beschränken sich daher bewusst auf das zynische „Gaming“ mit dem Ziel, möglichst viele Partner ins Bett zu bekommen; ihre erste Regel lautet: Emotionale Distanz wahren. Nicht nur Männer, auch Frauen führen online Statistiken über ihre Aufreiß- oder Abschlepperfolge, professionell aufbereitete Kuchendiagrammen inklusive. Sensiblere Gemüter scheitern dagegen bereits beim ersten Drink, weil die schützende Distanz des Chats zuvor zu einem Intimitätsniveau verführt hat, das sich „face to face“ nur schwer halten lässt.

Typisch für Online-Bekanntschaften, so Kaufmann, sei aber die Erfahrung einer „verwirrenden Sexliebe“, Gefühle stellten sich um so eher ein, je weniger man von einem Date erwarte. Für diese Verwirrungen werden in der „Community“ bereits Lösungen entwickelt: Eine „Marion“ propagiert die beinah romantisch anmutende Idee einer „R. G. B.-G.“, einer „regelmäßigen gefühlvollen Bett-Geschichte“, bei der sich beide Partner achten, die sich nicht aufs Bett beschränken muss und auf Exklusivität verzichten kann. Die Neuerfindung der Liebe – vielleicht hat sie ja im Netz längst begonnen?

Titelbild

Wilhelm Schmid: Liebe. Warum sie so schwierig ist und wie sie dennoch gelingt.
Insel Verlag, Berlin 2011.
93 Seiten, 7,00 EUR.
ISBN-13: 9783458175209

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Alain Badiou: Lob der Liebe.
Herausgegeben von Peter Engelmann.
Übersetzt aus dem Französischen von Richard Steurer.
Passagen Verlag, Wien 2011.
80 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783851659665

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jean-Claude Kaufmann: Sex@mour. Wie das Internet unser Liebesleben verändert.
Übersetzt aus dem Französischen von Anke Beck.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2011.
195 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783867642835

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Eva Illouz: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Adrian.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
467 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783518585672

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch