Von der Sehnsucht der Kinder nach einem normalen Leben

Peter Pohl erzählt von Lena und ihrer Freundin Mia

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

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Das Leben ist nicht einfach für Lena: Wenn sie nach Hause kommt, darf sie nicht läuten. Denn ihre Mutter macht nicht auf, selbst wenn sie da ist: „Da könnte ja Gott weiß wer vor der Tür stehen!“ Sie schließt immer von innen ab. Einmal hat sie es vergessen, da musste sie dann ein paar Tage lang ihre Haare in die Stirn kämmen, wegen der blauen Flecken.

Manchmal schläft ihre Mutter den ganzen Tag, manchmal ist sie betrunken. Oft muss Lena ihren Bruder Ola von der Vorschule abholen: „Er ist erst fünf, zu klein, um die Ursache zu begreifen, aber er weiß, dass es Mama nicht immer gleich gut geht. Und es besser ist, im Voraus zu wissen, was ihn erwartet, wenn er nach Hause kommt.“ Wenn sie „bloß müde“ ist, kann er ruhig mit ihr heimgehen und legt seine kleine Hand in Lenas Hand. Manchmal, ganz, ganz selten holt Mama ihn selbst ab: Dann „hüpft Ola fast vor Freude, weil die Leute in der Kita dann sehen können, dass er auch abends eine Mama hat.“ Manchmal umarmt er sie, und Lena spürt einen kleinen Stich, weil sie sich nicht traut, ihre Mutter zu umarmen. „Immer war da die Befürchtung: Jetzt krieg ich gleich eine gewischt, oder: Jetzt sagt sie gleich was Fieses.“

Lena hat eine Freundin, Mia. Mia ist immer fröhlich, und sie hat viele Geschwister, von deren Streichen sie erzählt – bei Mia ist immer was los. Gerne würde Lena sie mal besuchen, aber das geht nicht, denn dann müsste sie sie ja auch mal zu sich einladen. Und dann würde Mia sehen, wie trostlos es bei ihnen zugeht, wie schäbig die Wohnung ist. Und dass ihre Mutter eine Alkoholikerin ist.

Der schwedische Schriftsteller Peter Pohl erzählt in seinem neuen Roman eine leider ziemlich alltägliche Geschichte: von Kindern, die die Elternrolle übernehmen müssen, weil ihre Eltern dazu unfähig sind. Von der Sehnsucht der Kinder nach einem normalen Leben, die sie sich nicht erlauben dürfen, weil sie sonst untergehen. Sensibel und einfühlsam erzählt Pohl von einem überforderten Mädchen und ihrer Scham, denn sie kann sich niemandem anvertrauen. Und von den immer neuen Lügen, die sie sich ausdenken muss.

Und von Mia. Aber ist sie auch wirklich die beste Freundin, wenn man ihr das nicht erzählen kann? Dann stellt sich heraus, dass auch Mia alles erfunden hat, dass auch sie sich schämt, weil auch ihre Eltern Alkoholiker sind. Denn auch Mia verheddert sich in einem Lügengestrüpp, als sie begründen muss, warum sie nicht mit auf die Klassenfahrt gehen kann. Und dass alles ein bisschen leichter ist, wenn man seine Sorgen wirklich teilen kann. Bei Pohl kommt das aber nicht als Plattitüde heraus, sondern entwickelt sich aus der Beziehung der beiden Mädchen: Ganz natürlich, nach und nach. Er erzählt fast beiläufig und nebenbei und mit großer Kunst von einer Gesellschaft, die nicht mehr zum Wohl der Kinder taugt, und von einer Freundschaft, die erst durch ihre erste Probe zu einer wahren Freundschaft wird.

Titelbild

Peter Pohl: Meine Freundin Mia.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
140 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783446237919

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