„Ich schreibe für Menschen, die nicht da sind“ – Oliver Pfohlmanns Biografie über Robert Musil in der Reihe „Rowohlts Monographien“

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Leben ganz ohne Leerlauf und Kompromisse, als endloser Fluss von Liebe und Bedeutung – ist das möglich? Höchstens in der Fiktion. In der Realität lässt sich Glück immer nur als Ausnahmezustand erleben, für kurze Zeit. Das musste auch Robert Musil erfahren, der die Utopie vom „hundertprozentigen Sein“ zum Inbegriff seines Literaturverständnisses machte. Nicht dieser „andere Zustand“, der ihn zeitlebens faszinierte, bestimmte seine Schriftstellerexistenz, sondern Depressionen, Schreibhemmungen, Suizidgedanken. Und doch wollte er „nichts anderes als Dichter sein […], ich kämpfe dafür buchstäblich mit dem Einsatz des Lebens“. Für die Verheißungen der bürgerlichen Gesellschaft hatte er nur Verachtung übrig, nicht anders als seine Figuren. Ulrich, der „Mann ohne Eigenschaften“ und Alter Ego seines Autors, unternimmt gleich drei „Versuche, ein bedeutender Mann zu werden“, nur um am Ende „ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu nehmen, um eine angemessene Anwendung seiner Fähigkeiten zu suchen“. Er findet sie an der Seite seiner Schwester Agathe auf einer Wiese im Garten liegend, in einem meditativen Zustand, der für Ulrich dem seligen Reifen einer Traube in der Herbstsonne gleicht.

Musils Leben war nach bürgerlichen Maßstäben ein Desaster in Fortsetzungen: Geboren im November 1880, hätte er k.u.k.-Offizier werden können, wechselte aber zur Technik; dann hätte er Ingenieur werden können, wechselte aber zur Philosophie und Psychologie; er hätte Professor werden können, wurde aber freier Autor – um sich Jahre, sogar Jahrzehnte für seine Werke Zeit zu lassen, sodass er im April 1942 verarmt und vergessen starb. Heute würde man das die Patchworkbiografie einer prekären Existenz nennen. „Ich weiß nicht, wozu man lebt: könnte ich sagen. Was lockt, lockt mich nicht“, gestand Musil einmal. Er erfand daher Prototypen eines anderen Menschen, dem eine böse, aber mit „Seele“ begangene Tat lieber ist als alles Gutmenschentum. Wer dank seines Möglichkeitssinnes erkennt, dass es der Welt bestimmt ist, sich fortwährend zu verwandeln, will sich nicht länger so „benehmen wie ein bestimmter Mensch in einer bestimmten Welt, in der […] nur ein paar Knöpfe zu verschieben sind, was man Entwicklung nennt; sondern von vornherein so wie ein zum Verändern geborener Mensch, der von einer zum Verändern geschaffenen Welt eingeschlossen wird, also ungefähr so wie ein Wassertröpfchen in einer Wolke.“

Wohin solche Wirklichkeitsverachtung führt, ob es Alternativen zum „Seinesgleichen geschieht“ gibt, ob sich die Augenblicke der „taghellen Mystik“ vielleicht doch auf Dauer halten lassen – das versuchte der österreichische Romancier im Seelenlaboratorium seiner Werke herauszufinden. Hätte er gewollt, er wäre „ein Erzvater der neuen Erzählungskunst“ geworden, spottete der späte Musil. Heute gilt er, weil er die Dichtung auf die Höhe der Human- und Naturwissenschaften und darüber hinaus, „in das Grenzgebiet der Ahnung, Mehrdeutigkeit, der Singularitäten“ führte, als Erzvater einer Literatur im Zeitalter von Poststrukturalismus und Systemtheorie, als „Prophet einer neuen, vielseitig vernetzten Intelligenz“ (Karl Corino). Er selbst war überzeugt, dass nicht er seiner Zeit voraus war, sondern seine Mitmenschen 100 Jahre hinter ihr zurück. Musil dachte groß von der Literatur: „Ich messe der Dichtung eine Wichtigkeit bei, die weit über die Wichtigkeit andrer menschlicher Tätigkeiten emporragt.“ Und er dachte groß vom Leser: „Ich habe überhaupt immer eine viel zu große Vorstellung von dem gehabt, was man anderen zumuten müsse. Oder davon, daß die Menschen zu den Büchern kommen sollen, und nicht umgekehrt“. Von seinen Büchern wurden bis zu seinem Tod keine 35.000 Exemplare verkauft. Dabei dürfte kein Autor so viel über die Wirkung von Literatur nachgedacht haben wie dieser Dichter-Ingenieur und promovierte Experimentalpsychologe. Musils Texte kennen kaum Erholungspausen; ihr Ziel ist ein Höchstmaß an Bedeutungsfülle, Beziehungsdichte und Bildhaftigkeit. Sie verweigern sich der erleichternden Spannungsauflösung, setzen auf eine, psychoanalytisch gesprochen, anhaltende Vorlust, folgen einer Ästhetik „reine[r] Aktualität und Erregung“, die den Leser dauerhaft verändern will. „Wir brennen an den Büchern, wie der Docht im Öl. Wir nehmen sie eigentlich ohne jede andere Wirkung als diese auf, daß wir brennen…“ Nachdem Musil zu dem Schluss kam, dass seine Zeitgenossen nicht mehr lesen konnten, blieb ihm nur die Hoffnung auf die Nachwelt: „Thomas Mann und ähnliche schreiben für die Menschen, die da sind, ich schreibe für Menschen, die nicht da sind!“

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Titelbild

Oliver Pfohlmann: Robert Musil.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012.
160 Seiten, 8,99 EUR.
ISBN-13: 9783499507212

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