Tagebuch-Häppchen

Rainer Wieland präsentiert mit seinem „Buch der Tagebücher“ eine eher unterhaltsame als seriöse Anthologie

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2008 war im Museum für Kommunikation in Frankfurt am Main die Ausstellung „@bsolut privat!? Vom Tagebuch zum Weblog“ zu sehen. Die faszinierende Schau, die anschließend auch in Nürnberg und Berlin gezeigt wurde, präsentierte bedeutende Dokumente wie die Diarien Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs, Johann Wolfgang von Goethes, Clara Schumanns, Arthur Schnitzlers, Harry Graf Kesslers, Thomas Manns, Franz Kafkas, Joseph Goebbels’, Anne Franks oder Theodor W. Adornos. Neben diesen prominenten Beispielen illustrierten unzählige Tagebücher und Weblogs von Privatpersonen den Facettenreichtum des Genres. Durch diese Fülle beeindruckender Archivalien wurden mehrere Jahrhunderte Tagebuchkultur sinnlich erlebbar gemacht. Abgerundet wurde die stimmige Inszenierung durch ein begehbares Tagebuch: Tagebuchzitate für alle 365 Tage des Jahres bildeten in den Ausstellungsräumen ein Fußbodenmosaik. Als Begleitpublikation erschien ein kleiner Buchkalender mit diesen Zitaten.

Nur zwei Jahre später wurde im Piper Verlag „Das Buch der Tagebücher“ veröffentlicht. Der Herausgeber Rainer Wieland hat sich von der Ausstellung kräftig inspirieren lassen. Die Grundidee, Tagebucheinträge verschiedenster Autoren wie in einem Jahreskalender vom 1. Januar bis zum 31. Dezember anzuordnen, ist in beiden Fällen die gleiche. Nicht wenige der ausgewählten Textpassagen sind aus der Frankfurter Ausstellung bekannt, und sogar die Überschrift, mit der Wieland sein plattitüdenreiches Vorwort versieht, ist identisch mit dem Titel der Einleitung im Ausstellungskatalog. Wie man diese Anleihen beurteilt, ist die eine Sache. Die andere Frage ist, was aus dem spielerischen Tagebuch-Mosaik wird, wenn es in einem voluminösen Band zwischen zwei Buchdeckel gepresst wird. Dass der Witz der ästhetischen Inszenierung in der Buchform – trotz ansprechendem Erscheinungsbild – weitgehend verloren geht, liegt auf der Hand. Dass dieser Verlust aber nicht durch Seriosität kompensiert wird, wie sich dies von einem so repräsentativ daherkommenden Buch erwarten ließe, ist bedauerlich.

Was hier geboten wird, sind zumeist nur pikante Tagebuchhäppchen. Kaum ein Text ist länger als eine Seite, häufig wurden Einträge sogar gekürzt, ohne dass dies kenntlich gemacht würde. Als Textgrundlage dienen teilweise – so im Falle Franziska zu Reventlows oder der nach dem Ersten Weltkrieg verfassten Tagebücher Harry Graf Kesslers – indiskutable, editorisch längst überholte Ausgaben. Für die Zeit vor 1800 hat der Band nicht viel mehr zu bieten als die Tagebücher von Samuel Pepys. Kaum nachvollziehbar ist ferner, dass wichtige Diaristen wie Johann Caspar Lavater oder Henri-Frédéric Amiel ganz fehlen und DDR-Autoren deutlich unterrepräsentiert sind – sogar die friedliche Revolution von 1989 wird weitgehend aus West-Perspektive geschildert. Dafür tritt reichlich Prominenz auf, die das Buch auch für Leser der „Bunten“ oder der „Neuen Revue“ attraktiv machen dürfte. Für Glamour sorgen Ludwig II. von Bayern und Romy Schneider, auch Richard Burton oder Eleanor Coppola fehlen nicht. Alltagsdokumente, wie sie die Frankfurter Ausstellung aus Beständen des Emmendinger Tagebuch-Archivs präsentierte oder wie sie Walter Kempowski in sein zeitgeschichtlich-dokumentarisch bedeutendes Echolot-Projekt aufnahm, sucht man dagegen vergeblich. Geboten wird vor allem Spektakuläres, von den unterschiedlichsten Sexpraktiken bis zur Lebenskrise.

Dass die Anthologie nur sehr spärlich und völlig willkürlich mit Texterläuterungen versehen ist, fällt dabei schon kaum mehr auf. Ganz im Gegenteil: Eine Kommentierung scheint gar nicht nötig, da hier eine Form von Oberflächlichkeit zelebriert wird, die durchaus ihren Reiz hat und so etwas wie Lebensintensität vermittelt. Trotz aller Vorbehalte ist dem Herausgeber – bei der Fülle der Texte – eine glückliche Hand bei der Auswahl und Komposition der Einträge zu attestieren. So kommt es zu interessanten Spannungsverhältnissen, wenn etwa Einträge von Klaus und Thomas Mann oder von Joseph Goebbels und Viktor Klemperer unter dem gleichen Datum miteinander konfrontiert werden. Immer wieder tauchen innerhalb des Geflechts von Tagebucheinträgen narrative Stränge auf; so reist der Leser eine Weile mit Robert Scott auf dessen Südpolexpedition, mit Herman Melville durch Ägypten oder mit Alexander von Humboldt durch Südamerika. Zumeist werden diese Handlungsstränge aber schnell wieder aufgegeben – im Fall der Novemberrevolution 1918 etwa zu schnell. „Das Buch der Tagebücher“ sorgt auf diese Weise für abwechslungsreiche und unterhaltsame Lektüre – ohne allerdings die Ansprüche einer seriösen Anthologie zu erfüllen.

Titelbild

Rainer Wieland (Hg.): Das Buch der Tagebücher.
Piper Verlag, München 2010.
694 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783492053266

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