Eine Freundschaft im Jahrhundert der Wölfe

Nadeschda Mandelstams „Erinnerungen an Anna Achmatowa“

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anna Achmatowa (1889-1966) gilt nicht nur als herausragende Dichterin des 20. Jahrhunderts, sondern sie war und ist auch ein Mythos, zu dessen öffentlicher Wahrnehmung viele ihren Teil beigetragen haben. Nicht zuletzt Achmatowa selbst hat zu Lebzeiten beharrlich an ihrer eigenen Legende gestrickt, und das sowohl in ihren Gedichten und Poemen, wie auch in Kommentaren dazu und in Selbstzeugnissen. Freilich musste sie dabei aufgrund der politischen Umstände stets eine heikle und gefährliche Gratwanderung vollziehen und immer wieder abwägen, was sie – und auf welche Weise – sagen wollte und konnte.

Spätestens seitdem Achmatowas Werk mit der Perestroika in der Sowjetunion wieder in seiner ganzen Gestalt rezipiert werden konnte, hat eine regelrechte Flut von Artikeln und Büchern eingesetzt, die bestrebt sind, dem Phänomen der Dichterin auf die Spur zu kommen. Dabei interessiert nicht allein die Poetik ihres Werks, sondern immer auch die Biografie und die öffentliche Person, welche die Dichterin von sich geschaffen hat. Eine eigentliche Ikonografie ist dabei entstanden. Doch nicht alle mochten in den Lobgesang einstimmen: Vor ein paar Jahren hat ein Buch von Tamara Katajewa mit dem vielsagenden Titel „Anti-Achmatowa“ Aufsehen erregt, bei vielen treuen Anhängern der Dichterin aber für Empörung gesorgt. Die Autorin betreibt darin eine gezielte Dekonstruktion Achmatowas, indem sie alles zusammenträgt, was an negativen Äußerungen über die Dichterin zu finden war – dabei geht es nicht ohne Eingriffe ins Persönliche ab.

Nadeschda Mandelstam (1899-1980) war seit 1924 eng mit Anna Achmatowa befreundet. Nadeschdas Mann, den Dichter Ossip Mandelstam (1891-1938), hatte Achmatowa schon in ihren frühen Petersburger Jahren kennen gelernt. „Wie konnte es passieren, dass A.A., O.M. und ich, drei Dickschädel, drei Strohköpfe, drei unglaublich leichtsinnige Menschen, unseren dreifachen Bund, unsere unzerstörbare Freundschaft bewahrten, erhielten und durchs Leben trugen?“, staunt Nadeschda später selber. Nach Achmatowas Tod hat sie innerhalb eines knappen Jahres ihre Erinnerungen an die Dichterin aufgezeichnet, das Manuskript allerdings bald wieder vernichtet. Lange galt der Text deshalb als verschollen, bis dann ein Typoskript davon aufgetaucht ist, das der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Pawel Nerler 1989 zunächst in Fragmenten veröffentlichte. 2006 erschienen die Erinnerungen schließlich als Ganzes, und nun liegt die deutsche Übersetzung vor, die Christiane Körner besorgt hat. Nerler hat ein Nachwort beigetragen, das im Einzelnen über Hintergrund und Entstehung sowie über die Publikationsgeschichte Aufschluss gibt.

Nadeschda Mandelstams Aufzeichnungen sind das beindruckende Zeugnis einer Freundschaft, die über 40 Jahre lang auch unter schwierigsten Umständen gehalten hat. Mandelstam ist dabei durchaus nicht „blind“ vor Freundschaft – Misstöne werden nicht etwa unterdrückt. Nadeschda weiß sehr wohl um Achmatowas schwierige Seiten und zögert nicht, diese zu benennen. Auch für manche Handlungen Achmatowas hat Mandelstam kein Verständnis. Doch versteht sie es, auch solche Aspekte letztlich als durchaus normale Bestandteile einer wahren und tiefen Freundschaft aufzufassen. Jedenfalls kannte Mandelstam Achmatowa viel länger und näher als manch anderer Vertreter des russischen und sowjetischen Kulturlebens, der mit Achmatowa allenfalls eine kurze gemeinsame Wegstrecke geteilt hat. Aus den zahlreichen Arbeiten zu Achmatowa ragen die „Erinnerungen an Anna Achmatowa“ aber nicht allein deshalb heraus. Sie vervollständigen das Bild von der Dichterin, geben aber zugleich auch Auskunft über die kulturellen Wechselbeziehungen und vor allem die widrigen politischen Rahmenbedingungen, auf deren Hintergrund die drei Intellektuellen ihr Leben bewältigen und sich immer wieder bewähren mussten. Ein paar biographische Hinweise reichen an dieser Stelle aus, um die Dramatik ihrer Freundschaft zu bezeugen: Als Ossip Mandelstam 1934 in seiner Wohnung zum ersten Mal verhaftet wurde – er hatte sich in einem Gedicht kritisch zu Stalins Terrorregime geäußert –, war Anna Achmatowa zufällig anwesend. Später besuchte sie das nach Woronesch in Südrussland verbannte Ehepaar und hielt Ossip und Nadeschda die Freundschaft. Im Gedicht „Woronesch“ erinnert Achmatowa an diesen Besuch, wobei freilich die brisanten letzten Verse jahrelang gar nicht gedruckt werden durften: „Jedoch in des verbannten Dichters Zimmer / Stehn wechselnd Angst und Muse ihre Wacht. / Nun kommt die Nacht, / Und einen neuen Morgen kennt sie nimmer“ (übersetzt von Uwe Grüning).

1938 wurde Ossip erneut festgenommen und zu 5 Jahren Lagerhaft verurteilt. In einem Übergangslager in Russlands Fernem Osten verlor sich seine Spur. Nadeschda erhielt einen Totenschein, dem sie lange Zeit nicht recht glauben wollte. Vorsorglich hatte sie die Gedichte ihres Mannes auswendig gelernt und auf diese Weise für die Nachwelt erhalten. Als Achmatowas Sohn und ihr damaliger Ehemann Nikolai Punin während der Stalin’schen Säuberungen verhaftet wurden, war es ihrerseits nun Nadeschda, die ihrer Freundin Beistand leistete. Später teilte Nadeschda mit der Dichterin deren Exil in Taschkent: Leningrad wurde im Zweiten Weltkrieg von deutschen Truppen belagert, und die Machthaber entschieden, Achmatowa gegen ihren Willen nach Zentralasien zu „evakuieren“. Nach dem Krieg waren die Leiden aber nicht zu Ende: Achmatowa wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und von den Kulturpolitikern als „reaktionär“ beschimpft und öffentlich geächtet. Ein mehrere Jahre dauerndes Publikationsverbot war die Folge.

Nadeschda Mandelstams „Erinnerungen an Anna Achmatowa“ erzählen nicht allein von der Dichterin. In diesem Sinn ist der Titel sogar ein wenig irreführend. Auch wenn die Aufzeichnungen immer wieder zu Achmatowa zurückkehren, erfahren wir viel über die Autorin des Texts selber. So gibt Nadeschda etwa freimütig zu, dass sie – angesichts mehr oder weniger offensichtlicher Liebschaften ihres Mannes – einfach nicht fähig war, eifersüchtig zu sein. Interessanter sind freilich diejenigen Momente ihres Buchs, wo Mandelstam grundsätzliche Fragen zum Literatur- und Kulturbetrieb aufwirft, wo sie etwa ihre Gespräche mit Achmatowa über ihr Verständnis von Literatur nachzeichnet. Hier lobt Mandelstam beispielsweise Achmatowas Fähigkeit zur Analyse und bezeichnet diese als wesentliches Strukturelement ihres Denkens. Auch in die Arbeitsweise der Dichterin dringt Mandelstam tief ein. Immer wieder versucht sie, Achmatowa zu fassen: „Charakteristisch für Achmatowa ist die Suche nach der Großtat, der Entsagung, dem Verzicht auf irdische Güter um höherer Ziele willen. Ihr Leben orientiert sich an moralischen Kategorien, nicht an Sinneseindrücken oder einer Ontologie“, schreibt sie an einer Stelle. Stets hat Mandelstam auch den weiteren Kontext im Blick, die schwierigen Jahre der Stalinzeit, den Krieg, später das zögerliche Tauwetter, von dem Achmatowa in ihren letzten Lebensjahren noch ein wenig profitieren konnte. Nun wird auch deutlich, dass Mandelstams Buch im Grunde genommen Teil eines viel größeren Erinnerungswerks ist, das den deutschsprachigen Lesern bereits seit den 1970er-Jahren zugänglich ist. Gemeint sind hier Nadeschda Mandelstams Memoiren „Das Jahrhundert der Wölfe“ sowie „Generation ohne Tränen“.

Mandelstams Aufzeichnungen über Achmatowa scheinen bisweilen etwas hastig hingeschrieben, sind nicht überall immer fein ausgearbeitet. Doch wird dadurch der Gewinn aus der Lektüre nicht geschmälert. Eher im Gegenteil, Mandelstam wirkt umso authentischer und trägt gerade dadurch die eine oder andere neue Facette zum Bild von Achmatowa bei. Zahlreiche Fotos illustrieren die Informationen. Das Buch richtet sich nicht nur an Spezialisten. Wer immer sich für Lyrik und/oder die sowjetische Epoche interessiert, wird an Mandelstams Erinnerungen Gefallen finden. Hilfreich sind dabei die zahlreichen Anmerkungen des Herausgebers sowie das Personenverzeichnis mit knappen biografischen Angaben. Mandelstams „Erinnerungen an Achmatowa“ sind letztlich ein ganz eigenes Genre, eine Mischung, die sowohl Biografisches und Autobiografisches beinhaltet, wie auch Literatur- und Kulturkritik, Gesellschafts- und Politikanalyse und nicht zuletzt eine gehörige Portion Lebensweisheit – die freilich dem Leben selbst hart abgerungen werden musste.

Titelbild

Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an Anna Achmatowa.
Übersetzt aus dem Russischen von Christiane Körner.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
200 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783518224656

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