Nichts ist so schwer, wie einfach zu leben
In „Walpurgistag“ präsentiert Annett Gröschner ein Berlin zwischen Umzug, Schlafperformance, Blind Date und Supermarktplünderei und abseits des „richtigen Riechers für Moden“
Von Andreas Tiefenbacher
Besprochene Bücher / Literaturhinweise1983 kam die gebürtige Magdeburgerin Annett Gröschner nach Berlin, weil es damals – wie sie im Interview mit „ZEIT online“ bekennt – „die Stadt in der DDR [war], in der man am freiesten leben konnte“. Und auch wenn digitale Überwachung inzwischen zum Alltag gehört, die Mieten hoch sind und zwischen Oktober und April Dauernebel herrscht, wie sie in den 2008 unter dem Titel „Parzelle Paradies“ erschienenen „Berliner Geschichten“ bekrittelt, hat sie ans Wegziehen nie gedacht. Im Gegenteil. Sie ist sogar der Meinung, dass sie „nur aus Versehen nicht in Berlin geboren“ worden ist, wie man auf „Cicero.de“ nachlesen kann. Dementsprechend ist die Hauptstadt mittlerweile nicht nur Lebensmittelpunkt, sondern auch Hauptthema ihres Schreibens, das sich der Dokumentation einer „Geschichte von unten“ verpflichtet fühlt und von sorgfältigen Recherchen und der Fähigkeit geprägt ist, Faktenmaterial in spannende Geschichten zu verwandeln.
Vom Zusammenspiel dieser Aspekte profitiert auch der neue Roman, dem konkrete Vorstellungen zugrunde liegen: Erstens sollte sich die Handlung auf einen einzigen Tag, nämlich die 24 Stunden des 30. Aprils, konzentrieren. Und zweitens sollte alles, was erzählt wird, „wirklich passiert sein“, so Gröschner.
Und weil es ihr auch darum ging, dass „möglichst viele Leute […] ihren Tagesablauf“ schildern, hat sie „über Zeitungen, Radio, Internet, Plakate und Flyer“ die Berliner Bevölkerung dazu aufgerufen, ihr mitzuteilen, was sie „am 30. April getan“ hat. „Über hundert Zuschriften“ sind letztlich zusammengekommen. Neben diesen individuellen Statements haben noch Polizeibericht und zusätzlich Recherchiertes als Quelle gedient.
Neun Jahre hat es bis zum fertigen Buch gedauert, in dem sich nun mehr als zwanzig Personen in insgesamt 78 Kapiteln tummeln. Was sie so alles an diesem Tag erleben, erfährt man aus wechselnden Perspektiven. Den Ereignissen stehen genaue Zeitangaben voran, inklusive abbreviationsartigen, einen Satz langen Zusammenfassungen des jeweiligen Geschehens.
Und es geschieht wirklich einiges: Turbulentes und Witziges, Dramatisches und Unvorhergesehenes. Nicht immer steckt dahinter eine klare Absicht des jeweils Betroffenen. Vieles wird einfach getan, weil man keine andere Wahl hat, wie Gerda Schweickert die im „Seniorenwohnhaus: Betreutes Wohnen am Kollwitzplatz“ anheuert, zumal das Haus, in dem ihre Familie 80 Jahre wohnte, mit allen Mitteln leer geräumt worden ist, „um es in einem halben Jahr mit höherem Erlös verkaufen zu können“.
Genauso keine Wahl bleibt auch der 38-jährigen Annja Kobe, Heldin schon in Gröschners ersten Roman „Moskauer Eis“: Sie muss aus dem „Keller unter der Backfabrik in der Prenzlauer Allee“ raus, weil das Gebäude „wegen Baufälligkeit“ abgerissen wird. In zwei Tagen sollen „die Bauarbeiter durch die Wand des Bunkers brechen“, in dem sie seit sieben Jahren mit ihrem inzwischen 65-jährigen Vater wohnt, den sie „am 1. Dezember 1991 in eingefrorenem Zustand gefunden“ hat. Seitdem lebt sie mit ihm im Untergrund, aus Mangel an Vertrauen in Polizei und Justiz, die sie verdächtigen, ihren „Vater ermordet und entsorgt zu haben“.
Dieses Leben am „Rand der Gesellschaft“ unter falschem Namen und mit wenigen Sozialkontakten hat natürlich Spuren hinterlassen: Annja ist, „was die Nähe von Fremden angeht“, empfindlich und neigt „zu Schweißausbrüchen“. Ihr Alltag wird geprägt von der Suche nach einem gültigen Ausweis und dem Wunsch, nicht weiter aufzufallen. Das heißt: „Nie bei Rot über die Straße gehen“, kein Handy haben und sich nicht zu verlieben. Denn „verlieben bringt Illegale immer in Gefahr“.
In Gefahr befinden sich aber nicht nur Illegale, die mit einer Gefriertruhe im Schlepptau „eine Dreiraumwohnung in einem Hochhaus“ beziehen, sondern auch ganz normal registrierte Stadtbewohner. Andreas Hosch ist so einer und sich dessen bewusst. Darum schaut er „jeden Morgen nach dem Aufstehen“, ob sein Taxi „nicht geklaut worden ist“. Dass er dann bei einem Überfall auf eine Kneipe, in der er gerade Gast ist, „mit dem Kopf gegen den Heizkörper“ kracht und ein „Schädeltrauma“ erleidet, trifft ihn aber doch überraschend. Genauso geht es Candy, die mit dem Rad nach Hause fährt und plötzlich „etwas Dunkles“ auf sich zukommen sieht. Oder Ilona Kaufmann, die nach dem Crash nicht mehr weiß, wie sie heißt und wo sie wohnt.
Das weiß Paul Bülow glücklicherweise noch. Doch überrascht ist auch er, als ihm die in einem unversperrten Abstellraum stehende Kühltruhe nicht nur Moskauer Eis bietet, sondern auch einen „mit Reif“ überzogenen Mann, der lächelt.
Lächeln kann die Sonderschullehrerin Heike Trepte gerade gar nicht: Erstens ist sie schwanger und will abtreiben, weil das Kind „wahrscheinlich nicht von Micha“ ist, mit dem sie sich in einer Scheinehe „zusammengerauft“ hat, sondern von einem Oboisten „der Berliner Philharmonie“. Und zweitens überkommt sie beim Betreten der Schule, an welcher sie unterrichtet, ständig „das Gefühl, in eine dunkle, gefährliche Höhle hineinzulaufen“.
Kein gutes Gefühl hat auch Paul, wenn er dort ankommt, begrüßt ihn doch sein Mitschüler Murat jeden Morgen mit „Schwule Ratte“, weshalb er beschließt, „so unsichtbar wie möglich“ zu sein.
Davon hält Katrin Manzke eher weniger. Sie will schon gesehen werden: und zwar vom richtigen Mann, der endlich einmal „kein Trinker, kein Schläger und kein Neonazi“ sein soll. Ob aber gerade ein Blind Date dafür geeignet ist, um erfolgreich zu sein, darf bezweifelt werden.
Was die Realisierung eines Wunsches anbelangt, hat Trude Menzinger eindeutig bessere Karten. Sie benötigt nur einen „Kohlenanzünder“, um den Porsche Cabrio des Hausbesitzers, der für ihren Umzug verantwortlich ist, in Brand zu setzen.
Für Sugar, Cakes und Candy, die eine richtige „Mädchenbande“ sein und „für die Unterdrückung der jungen Kurdinnen und Türkinnen in Berlin“ kämpfen wollen, sieht die Sachlage eher unrosig aus. Oder für jene „achtzig Prozent“ Schulabgänger, die keine Lehrstelle bekommen. Oder für die schnorrenden Bettler und Roma-Frauen mit ihren frierenden Kindern. Oder für die türkischen und arabischen Mädchen, denen „eine Kinderhochzeit“ bevorsteht und die gewillt sind, sie „wie eine Naturkatastrophe“ hinzunehmen.
Hingenommen werden muss schon so einiges. Vor allem dann, wenn einem nichts anderes übrig bleibt, wie Andreas, der – trotz unerträglicher Schmerzen im Kopf – nach dem Überfall weiter Taxi fährt, weil er sich einen „Verdienstausfall nicht leisten kann“. Als er dann aber erfährt, dass er schon lange Vater ist und wenig später seinen Sohn kennen lernt, wird ihm alles zuviel.
Zuviel wird es auch Heike, wenn sie sieht, wie Mütter „ihren Kampfhunden mehr Zuwendung geben als ihren Kindern“. Ja! Zuviel werden kann es jedem, wenn „etwas Entscheidendes fehlt“. Und das tut es bei einigen in diesem Roman. Und die wollen dann natürlich schon mehr, als bloß dass ihnen die kaputte Kaffeemaschine aus früherer DDR-Produktion repariert wird. Und sei es nur mehr Spaß oder ein spannender Abend. Der schwebt jedenfalls den „drei alten Damen“ vor, während die Kneipenräuber eher Geld im Auge haben, „Sperrkassierer Trepte“ offene Gasrechnungen seiner Kunden und Aso Aksoy, dass sie ihre Kinder wieder in den Griff bekommt.
Einzig der wie ein Helfersyndrom durchs Geschehen wandelnde Stadtstreicher Alex scheint nichts zu wollen und „grundsätzlich zufrieden mit seinem Leben“ zu sein, was der Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Viola Karstädt aber ein schlechtes Gewissen bereitet, weil sie „dauernd Bedürfnisse hat, die sie für wichtig hält“. Doch dass Menschen Bedürfnisse haben, ist normal, seit sie keine Kugeln mehr sind und deswegen „auf der Erde lauter Halbmenschen“ herumrennen, die „die andere Hälfte der Kugel suchen“. Problematisch dabei ist nur, dass jeder „wie ein Irrer rumtrampelt und nicht sieht, was [er] kaputt latscht“. Denn ist das Gefühl der Verliebtheit im Spiel, legt sich eben ein Zauber über alles, sogar über „die Besoffenen in der S-Bahn, die Kotze, die Kacke, die überquellenden Abfallbehälter, die Obdachlosen mit den Zeitungen“. Und schon ist nichts mehr „widerwärtigste Gegenwart“.
In dieser Erkenntnis liegt eine der großen Botschaften des Romans, der rasant und humorvoll aus dem Innenleben eines „Großstadtdschungels“ berichtet, von Menschen aus der unteren Hälfte der Gesellschaft, von Werktätigen mit „Ostsozialisation“, der „arbeitslosen Arbeiterklasse“, Pensionistinnen, Jugendlichen, Müttern, schrägen Vögeln; und der einem eines umso deutlicher macht: „Nichts ist so schwer, wie einfach zu leben“. Ein kleiner Satz auf einem Kalenderblatt, aber eine große Leitlinie in diesem schicksalsreichen, nie langweilig werdenden Buch.
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