Die Welt ist eine Scheibe

Über Gisela von Wysockis Kindheits-Roman „Wir machen Musik“

Von Peter MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Vater ist die zentrale Figur in ihrem jungen Leben: Zu Beginn ob der ‚Zaubertricks‘ bestaunt, die er zu Hause vorführt, steigt er mit der Zeit in den Augen seiner Tochter in den Rang eines Magiers auf, denn „ganze Musikkapellen muss er zusammengequetscht und eng ineinandergeschoben haben, wie hätte er sonst die schwarzen Scheiben aus ihnen machen können“. Die Erklärungen des Vaters – zu dieser Zeit Produktionsleiter des Unterhaltungsprogramms bei Odeon, einem renommierten Grammophon- und Schallplattenhersteller in Berlin – erscheinen ihr nur wenig plausibel. Viel leichter fällt es dem Kind, an dessen magische Fähigkeiten zu glauben, auch wenn dies die Gefahr mit einschließt, durch ein Fingerschnippen des Vaters zu verschwinden.

Die Faszination des Mediums Schallplatte, welche moderne Tonträger aus Plastik kaum noch erzeugen können, und die damit verknüpfte (Ehr-)Furcht vor dem Vater bilden den losen Faden, der die essayistischen Kapitel in Gisela von Wysockis Prosadebüt zusammenhält. Diese zeigen, wie sich die junge Protagonisten im Berlin der Nachkriegszeit (beinahe) in einer rätselhaften Zauberwelt aus Schlager- und Filmstars verliert, die im heimischen Wohnzimmer ein- und ausgehen. Deren Erzählungen von fernen Welten, wilden Tieren und romantischen Abenteuern reihen sich nahtlos in das fantasievolle Weltbild der Protagonistin ein, die die Fiktionalität dieser Geschichten nicht zuordnen kann. Sie selbst fühlt sich in dieser Welt unbedeutend und fragt sich häufiger, „ob es in [ihrem] Leben jemals derart eindrucksvolle, unauslöschliche Szenen geben kann“.

Der Roman „Wir machen Musik“ beantwortet diese Frage mit einem klaren Ja, denn die Autorin fängt diese Szenen einer Kindheit in zwar oft handlungsarmen, aber dafür umso intensiveren und aussagekräftigeren ‚Schnappschüssen‘ oder vielmehr reich bebilderten Gemälden ein. Die thematische Nähe zur Musik und der mehrmals wiederkehrende Kapiteltitel „Galerie“ lässt den Leser dabei an Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ denken. Nur dass diese spezielle Ausstellung einer einzigen Person gewidmet ist: Einer namenlosen Protagonisten, deren Karriere bereits vorgezeichnet ist – denn es scheint ihr unmöglich, sich dem ,Rhythmus‘ des Elternhauses zu entziehen. Tatsächlich ist dieser Weg jedoch bereits von Beginn an zum Scheitern verurteilt, denn dem hohen Anspruchsdenken ihres Vaters fühlt sie sich nicht gewachsen. Somit bleibt ihr nichts anderes übrig, als in dem ihr gesteckten engen Rahmen ihren eigenen Weg zu finden und auch zu beschreiten.

Ist es nur Zufall, dass das Elternhaus der Protagonistin bis hin zum Vornamen des Vaters dem der Autorin gleicht? Nun, wie viel wahrhaftig Autobiografisches in diesen Szenen steckt, können wahrscheinlich nur wenige beurteilen. Allerdings tritt diese Frage auch schnell in den Hintergrund, angesichts dieser ungewöhnlich charmanten und wunderbaren literarischen Partitur, die man hier in Händen hält. Und das ist auch gut so. Denn es mag sein, dass die Geschichte, die geschildert wird, nur die „einer Suggestion“ ist und dem Motto folgt, „dass einem das Leben erst dann so richtig gehört, wenn man es erfindet“.

Titelbild

Gisela von Wysocki: Wir machen Musik. Geschichte einer Suggestion.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
258 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422083

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