Empor ins Reich der Edelmenschen

Karl Mays Vorstellungen von Rassenverbrüderung

Von Wolfram PytaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfram Pyta

I.

Karl May war in vielen Dingen seiner Zeit voraus und bewies eine unbeirrbare Resistenz, sich von Grundübeln wie überbordenden Nationalismus und rassenideologisch motivierte Herabsetzung anderer Völker nicht anstecken zu lassen. Als „Brückenbauer zwischen den Kulturen“[1] verkündete er ohne eurozentrische Superioritätsdünkel ein völkerverbindendes Weltethos nicht erst in seinem Spätwerk. Aber Mays Potential ist damit noch nicht ausgeschöpft. Denn der sächsische Erzähler ging noch einen konsequenten Schritt weiter und proklamierte nicht nur die Fraternisierung der Völker, sondern deutete an, dass die Verschmelzung der Ethnien in seinem Programm einer moralischen Veredelung der Menschheit angelegt war.

Solche Vorstellungen von „Rassenverbrüderung“ waren nicht die eines verschrobenen Außenseiters, sondern fügten sich ein in den Rassendiskurs in Europa nach 1900. Die Geschichtswissenschaft wie auch die Literaturwissenschaft neigt gelegentlich dazu, die Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu einer Vorgeschichte jener rassenbiologischen Wahnvorstellungen zu reduzieren, wie sie dann vor allem unter der nationalsozialistischen Herrschaft in monströser Weise in die Tat umgesetzt wurden. Eine solche perspektivische Verengung kann jedoch den Blick dafür versperren, dass der um 1900 praktizierte Rassendiskurs sehr viel deutungsoffener war und dass er ein Potential enthielt, das bislang vielfach übersehen wurde: nämlich die Vorstellung, dass die rassische Fusionierung zumindest bestimmter Ethnien die kulturelle Höherentwicklung des gesamten Menschengeschlechts befördere. Insofern steckte auch in einem so verstandenen, kulturanthropologisch konnotierten Konzept ein nicht zu unterschätzender Fortschrittsoptimismus, wie er für den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert häufig anzutreffen war.

Es ist kein Zufall, dass May solche Vorstellung in dem Kulturraum entwickelte, der nicht wenigen Literaten geradezu als Laboratorium für die Höherentwicklung der Menschheit erschien: den nordamerikanischen Kontinent. May war in dieser Hinsicht ein Amerikanist, welcher Nordamerika die kulturmissionarische Aufgabe zuerkannte, durch eine kulturelle Synthese aus indianischen und europäischen Elementen einen neuen Typus zu formen, welcher der Welt als moralisches Vorbild dienen sollte: den „Americano“. Insofern steht Mays Bild vom Wilden Westen in enger Beziehung zu den kulturellen Verheißungen, welche Amerika bei Verfechtern einer Synthese der bestehenden Rassen weckte.

II. Historische Einordnung des Rassendiskurses um 1900

Um 1900 war der Begriff „Rasse“ immer noch so vieldeutig, dass er zwischen zwei Bedeutungspolen changierte. Die geschichtswissenschaftliche Forschung hebt hervor, dass der Rassebegriff im Verlaufe des 19. Jahrhunderts eine immer stärker biologistische Aufladung erfuhr. „Rasse“ wurde zu einer Bezeichnung für eine rein biologisch definierte Abstammungsgemeinschaft, die als Träger der geschichtlichen Entwicklung verstanden wurde. Die sogenannte Reinhaltung der Rasse nahm dabei zunehmend den Status einer zentralen Bedingung dafür ein, dass sich rassische Einheiten historisch behaupten konnten; parallel dazu wurde Geschichte zu einer Geschichte der Rassenkämpfe umgedeutet, bei der diejenigen Rassen die Oberhand behalten würden, die ihre Reinheit bewahrten.

Unzweifelhaft war am Ende des 19. Jahrhunderts weltweit eine derartige Radikalisierung des Rassendiskurses zu verzeichnen. Doch dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es ein konkurrierendes Verständnis von Rasse gab, welches sich von der naturwissenschaftlich-biologistischen Variante deutlich absetzte. Nach dieser Lesart fungierte Rasse als eine soziokulturelle Ordnungskategorie: Rassen waren soziale Einheiten, die durch gemeinsame kulturelle Eigenschaften definiert wurden; damit wurden sie nicht länger als schicksalhafte Gegebenheit angesehen, sondern erhielten den Status flexibler und gestaltbarer Entitäten. Auf diese Weise konnte der Rassenbegriff auch zu einer Schlüsselkategorie für eine bestimmte Sicht der Zivilisationsgeschichte avancieren, die gerade in der Verbindung und Verschmelzung von Rassen einen zivilisatorischen Motor erblickte.[2]

Karl May war ein dezidierter Anhänger dieser zweiten, dieser kulturanthropologischen Rassevorstellung.[3] Mit dieser Position befand sich May im übrigen in guter und prominenter Gesellschaft unter den Kulturschaffenden.[4] Literaturwissenschaftlich ist dieser Befund insofern bedeutsam, als May ein Exempel dafür ist, dass eine positive Darstellung der Rassenvermischung keinesfalls auf einige wenige Vertreter des sogenannten „literarischen Primitivismus“ wie Klabund, Carl Sternheim oder wie Robert Müller, der uns noch beschäftigen wird, beschränkt war. Insofern ist das Argument nicht überzeugend, dass eine literarische Darstellung von Rassenvermischungen ihren eigentlichen Grund in der Wahl bestimmter Darstellungsverfahren habe[5]: Denn Karl May war beileibe kein Expressionist und benötigte daher keine ästhetischen Gründe für seine Utopie der Rassenmischung. Wie verbreitet in der deutschsprachigen Literatur nach 1900 das Spielen mit der Überschreitung der Rassengrenzen war, mag ein Blick auf Thomas Mann verdeutlichen. In seinem 1909 erschienenen Roman „Königliche Hoheit“ führt er mit Imma Spoelmann eine Hauptfigur ein, der es glückt, den Erben eines veritablen deutschen Großherzogtums zu ehelichen. Die Protagonistin zeichnet sich dadurch aus, dass sie auch indianisches Blut hat – eine Eigenschaft, die in Amerika laut Mann einen Makel bedeute, von der sich aber der Prinz keinesfalls abschrecken lässt – im Gegenteil![6]

Ein Ausblick auf den Begründer der Paneuropa Union soll diesen kurzen Streifzug beenden. Richard Coudenhove-Kalergi, der 1923 die Paneuropa-Union begründete und damit zu den frühen geistigen Vorreitern der europäischen Einigung zählt[7], war ein Kosmopolit durch und durch. 1894 in Japan als Sohn einer japanischen Mutter geboren, besaß er einen Vater, der die besten Traditionen der übernationalen Habsburgermonarchie in sich trug. Vor diesem Hintergrund kann es kaum verwundern, dass Coudenhove-Kalergi in den 1920er-Jahren eine radikale Gegenposition zu jenen Rassentheoretikern bezog, welche die sogenannte Reinhaltung der Rassen zum obersten politischen Gebot erklärten. Er nahm vielmehr eine konsequente Gegenposition ein und erblickte das Heil der Menschheit in der Rassenvermischung: „Der Mensch der fernen Zukunft wird Mischling sein. Die heutigen Rassen und Kasten werden der zunehmenden Überwindung von Raum, Zeit und Vorurteil zum Opfer fallen“.[8] Vor einem solchen Hintergrund kann es auch nicht verwundern, dass der erste weltweite Kongress, der sich im Jahre 1911 in London der Rassenfrage widmete, keine Versammlung von eingefleischten Rassisten war, sondern im Gegenteil ein durchaus pathetisches Bekenntnis zur Gleichheit der Rassen ablegte.[9]

Rezeptionsgeschichtlich hat das konsequente Eintreten Mays für die Überwindung der Rassenschranken durch „Rassenmischung“ wenig Widerhall gefunden. Dies hing zum einen damit zusammen, dass ab 1933 gerade das Bekenntnis Mays zur Rassenverbrüderung politisch inopportun war. Mays Witwe Klara ging sogar soweit, dass sie nicht vor rüden Eingriffen in den Urtext von Mays pazifistischem Werk „Und Friede auf Erden“ zurückschreckte: „Die Rassenmischung, die im Schluß bei „Friede“ auch noch kommt, muß fallen“.[10] In diesem Fall schreckte der Karl-May-Verleger E. A. Schmid aber vor einer solchen allzu dreisten Manipulation zurück. Hüter der NS-Rassenlehre stießen sich jedoch an May, der ihnen als „leidenschaftlicher Verfechter einer weitgehenden Rassenmischung aus ganz sentimentalen Menschlichkeitsgründen“[11] galt und den sie deswegen im NS-Staat aus dem Kanon der deutschen Literatur streichen wollten – allerdings ohne den gewünschten Erfolg, weil Adolf Hitler May in Ehren hielt. Der „Führer“ hatte die klassischen Reiseerzählungen Mays in jungen Jahren gelesen und sich als Autodidakt auf diesem Wege gewisse Kenntnisse über Land und Leute fremder Länder angeeignet, die ihm Zeit seines Lebens nützlich erschienen.[12]

Nach 1945 wurde May dann auf das politisch harmlose Format eines Jugendschriftstellers reduziert, weil auf diese Weise auch die im Jahre 1900 einsetzende Skandalisierung Mays, die zu seinen Lebzeiten sein Bild verdunkelt hatte, am besten zu tilgen war. Die Wiederentdeckung Mays durch die Literaturwissenschaft, weniger die Geschichtswissenschaft, ging einher mit einer häufig zu registrierenden Tendenz, May unter grober Gewaltanwendung hinsichtlich der von ihm verfassten Texte zu einem Vorläufer und Wegbereiter von Kolonialismus und Imperialismus zu stilisieren.[13] Dieser Umstand mag erklären, dass Mays avantgardistische Position hinsichtlich des Rassenthemas zwar immer wieder einmal zur Sprache kam, aber bislang nicht den Stellenwert einnimmt, der ihr gebührt.

III. Aufstieg zum Edelmenschentum durch Rassenverbrüderung

Karl May sympathisierte mit der Vorstellung, dass die Menschheit einen Entwicklungsprozess durchlaufe, die ihre moralische Vervollkommnung zum Ziel habe.[14] Die May-Forschung hat seit längerem herausgearbeitet, dass May dabei die moralische Vervollkommnung des Einzelmenschen mit jener der Menschheit parallelisiert. Diese Verschränkung von Ontogenese und Phylogenese in den Schriften Mays schöpfte aus mancherlei geistigen Quellen, auch und nicht zuletzt aus einer spezifischen Rezeption der Werke von Friedrich Nietzsche, dessen Werke zu Zeiten Mays auch im Sinne einer Entwicklungsgeschichte hin zum Edelmenschentum interpretiert wurden.[15] Im Unterschied zu Nietzsche ist dieser Prozess bei May allerdings kein ästhetischer Progress, sondern ein moralisch affirmierter Aufstieg.[16]

Dabei operiert May schon seit seinen frühen Werken mit Figuren, die sich über rassische Grenzen in ihren geschlechtlichen Beziehungen hinwegsetzen, um sein teleologisches Geschichtsbild im wahrsten Sinne des Wortes mit Farbe zu versehen. Eines der frühesten Zeugnisse ist die 1879 entstandene Erzählung „Der Boer van het Roer“, die 1897 in nur leicht veränderter Fassung in die gesammelten Reiseerzählungen aufgenommen wurde. Der weiße Titelheld Jan van Helmers heiratet ein sogenanntes Kaffernmädchen, ein Zulumädchen, das zwar bei den Buren aufgewachsen ist, sich aber als verschollene Tochter des Zuluhäuptlings Somi erweist. Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet die historischen Vorfahren der Apartheid als Tabubrecher in Sachen Rassenvermischung geschildert werden.[17] Denn auf die Frage des Ich-Erzählers nach der Schicklichkeit dieser Verbindung erhält er die Antwort: „Natürlich! Ihr dürft nicht glauben, daß wir dieselben Vorurteile hegen, wie ihr daheim“ (XXIII, 78). Und es spricht Bände, wenn der Ich-Erzähler ausgerechnet auf dem Boden einer der burischen Staatengebilde ein Plädoyer für die kulturelle Antriebskraft der Rassenvermischung ablegt und dazu das Beispiel Amerika anführt: „Blickt hinüber nach Amerika! Durch die Verbindung so verschiedener Elemente ist ein neues, eigenartiges Volk entstanden“ (XXIII, 66).

Auch dasjenige Werk Mays, das sein klarstes Bekenntnis zu Völkerverständigung und Pazifismus darstellt und zugleich eine unverhohlene Ablehnung der offiziellen deutschen China-Politik zum Ausdruck bringt. „Und Friede auf Erden!“, kennt als Nebenstrang eine sich über Rassenschranken hinwegsetzende europäisch-chinesische Liebesbeziehung. Es ist sogar ein Vertreter der europäischen Oberschicht, der Brite Lord John Raffley, der sich allein aufgrund eines Bildes in die Chinesin Yin verliebt. Diese Konstellation dient May dazu, die Abkehr des Onkels des Freiers, eines britischen Governors, von dessen Vorurteilen gegenüber Menschen anderer Hautfarbe in erzählerischer Form zu entfalten (XXX, vor allem 338f. und 488f.).

Rassenschranken werden auch immer wieder überschritten in der einzigen Trilogie, die May im „Wilden Westen“ einer anderen Hauptperson als Winnetou gewidmet hat, nämlich der zwischen 1894 und 1896 entstandenen Old-Surehand-Trilogie. Denn es stellt sich am Ende der dritten Bandes hinaus, dass der Titelheld Old Surehand, mit bürgerlichem Namen Leo Bender, eine indianische Mutter hat und Apanatschka, der Häuptling der Naiini-Komantschen, unter dem Taufnamen Fred Bender nicht weniger als sein leiblicher Bruder ist. Dass ein indianisch-weißes Bruderpaar es zu einem veritablen Westmann wie zu einem anerkannten indianischen Führer zu bringen vermag, spricht Bände, wie sehr für May die Kultur des „Wilden Westens“ eine hybride Kultur ist, in der sich Indianisches und Weißes zu einer auch äußerlich nicht mehr zu unterscheidenden Einheit verschmelzen.

Denn obwohl May ansonsten viele seiner Figuren durch physiognomische Eigenheiten zu charakterisieren sucht, versagt diese äußerliche Distinktionsstrategie bei den beiden Bender-Brüdern, denen selbst die scharfen Augen Old Shatterhands bis fast zum Schluss der Erzählung keinen Anlass bieten, hinter ihr Geheimnis zu kommen. Erst als ein Utah-Häuptling ihn abrupt auf diese Möglichkeit stößt, geht der Ich-Erzähler dieser Spur nach: „Diese Worte des Häuptlings frappierten mich. Old Surehand rotes Blut in den Adern! Er hatte nicht das Äußere und noch viel weniger den Charakter eines Mestizen; aber es hatte mir doch schon oft, wenn ich still und ihn beobachtend bei ihm saß, geschienen, als ob etwas Indianisches an ihm sei“ (XIX 388). Mit der Figur von Kolma Puschi, der indianischen Mutter der beiden Bender-Brüder, setzt sich May endgültig über vermeintliche biologisch vorgegebene Eindeutigkeiten und Zuordnungen hinweg. Denn sie versteht es, in die Rolle eines Mannes zu schlüpfen, zu reiten und zu schießen wie ein männlicher Indianer; ja besiegt sogar indianische Krieger im Zweikampf (XIX 530f.).

IV. Karl May als Amerikanist

Nordamerika ist für Karl May wie für andere wichtige literarische Gewährsmänner seiner Zeit das Menschheitslaboratorium, in dem ein neuer Menschenschlag gedeiht, der in kultureller Hinsicht die Vorzüge der Ureinwohner Amerikas mit denen der weißen Zuwanderer vereinigt und damit der Höherentwicklung der ganzen Menschheit den Weg weist. Insofern ist Karl May auch und nicht zuletzt als „Amerikanist“[18] ernst zu nehmen.

Dass die Vereinigten Staaten von Amerika für May ein Experimentierfeld waren, auf dem indianisches und europäisches Kulturerbe eine neue, fruchtbare Symbiose eingingen, lässt sich an einer Vielzahl von Stellen aus dem Werke Mays belegen. May greift damit zugleich eine zu seiner Zeit in Deutschland verbreitete Kritik an einem Selbstverständnis der USA auf, die sich etwa von 1880 an immer stärker als eine kulturell homogene Nation definierte, die von weißen, angelsächsischen Protestanten dominiert wurde.[19] Die Kritiker dieses Konzepts operierten vor allem mit dem Zerrbild des Yankee und hielten dem entgegen, dass Zuwanderer nach Nordamerika ein vielfältigeres Erbe als das englischsprachige eingebracht hätten. May ist in dieser Hinsicht insofern ein Avantgardist, als er sich nicht darauf beschränkt, den Anteil der deutschen Kultur zu betonen. Er beschreitet vielmehr ungewöhnliche Wege, indem er die indianische Kultur in das Zentrum der neuen amerikanischen Kultur rückt und gerade in der Synthese deutscher Kulturkräfte mit indianischen Elementen das probate Mittel zur kulturellen Vervollkommnung des Menschengeschlechts erblickt. In Mays Worten liest sich diese Position wie folgt, wobei wir immer bedenken müssen, dass May ein kulturanthropologisches Verständnis von „Rasse“ zugrundelegt: „Da drüben liegt Amerika… Dort lebt der rote Mann, vom dem Ihr meint, daß er dem Untergange geweiht ist. Ihr irrt. Dieser rote Mann stirbt nicht…. Und der Deutsche geht nicht hinüber, um des Indianers Feind zu sein. Sie haben beide das, was wohl kein Anderer hat, nämlich Gemüt, und das wird sie vereinen…. Der gegenwärtige Yankee wird verschwinden, damit sich an seiner Stelle ein neuer Mensch bilde, dessen Seele germanisch-indianisch ist. Diese neue amerikanische Rasse wird eine geistig und körperlich hochbegabte sein und ihren Einfluß nicht auf die westliche Erdhälfte allein beschränken. Sie wird sich aller geistigen Triebkräfte des Abendlandes bemächtigen.“ ( XXXI 18f.)

Es kann nicht bestritten werden, dass May die Verschmelzung europäischer, insbesondere deutscher kulturschöpferischer Kräfte mit indianischen Potenzen zu einem neuen Menschentypus postulierte.[20] Diese Entwicklung war bereits in seinen frühen Erzählungen, die in Nordamerika spielten, angelegt; und die Winnetou-Trilogie verhalf diesem Leitthema zu besonderer Expressivität. Ihre literarische Krönung erlebte dieses Kernanliegen Mays in Gestalt seines letzten Romans, „Winnetou IV“, der 1910 erschien als letzter Band seiner Gesammelten Werke. Es zeugt sowohl von geringer Textkenntnis wie von einer ahistorischen Ausblendung des historischen Kontexts, wenn man ausgerechnet „Winnetou IV“ unterstellt, der Verfasser habe darin „die amerikanische Assimilationspolitik des späten 19. Jahrhunderts“[21] propagiert.

Das genaue Gegenteil trifft zu, wie alle Kenner dieses Spätwerks wissen.[22] Denn May treibt in „Winnetou IV“ seine bereits in der Winnetou-Trilogie artikulierte Kritik am Yankee-Amerikaner auf die Spitze und erhebt den Apatschenhäuptling zum Propheten einer kulturellen Symbiose aus europäischen und indianischen Elementen. Dazu wird – wie Ulrich Scheinhammer – Schmid schon vor vielen Jahren eindrucksvoll nachgewiesen hat[23] – aus Winnetou ein posthumer Prophet, der ein überwiegend in englischer Sprache verfasstes Testament hinterlässt, das – mehrere hundert Seiten stark – eine Art Programmschrift für die zivilisatorische Vereinigung von indianischer und weißer Rasse ist (XXXIII, 262-266). Winnetou war schon zuvor durch eine für einen Indianer ungewöhnliche Belesenheit aufgefallen; in „Winnetou I“ lässt ihn der Autor Longfellows„Hiawatha“ lesen, einen der Schlüsseltexte amerikanischer Literatur, in dem das Schicksal der Indianer im Zentrum steht (VII, 304).Auch der indianische Verwalter des geistigen Vermächtnisses von Winnetou, Tatellah-Satah, verfügt über eine „große Büchersammlung“ (XXXIII, 287), aus der er sein Wissen schöpft. Die beiden Idealtypen der neuen indianischen Führungsgeneration, die Häuptlinge Athabaska und Algongka, zeichnen sich durch eine spezifische Synthese europäischer Gelehrsamkeit und indianischen Tiefsinns aus. Sie werden eingeführt als Experten auf dem Gebiete der Linguistik, welche die Sprachgeschichte der indianischen Zungen eingehend studieren und sich dabei fortwährend Notizen selbst bei der Einnahme der Mahlzeiten machen (XXXIII 55-57).

Winnetou wird in „Winnetou IV“ zum Begründer eines elitären Bundes, Clan Winnetou genannt, der aus allen indianischen Stämmen die kulturell Hochstehendsten aufnimmt und zu einer panindianischen Elite vereinigt. Wichtig ist, dass die Angehörigen dieses Bundes ihre ursprünglichen indianischen Fähigkeiten kreativ auf das technische Zeitalter übertragen, in dem die Erzählung angesiedelt ist. Die einstmaligen Naturmenschen entpuppen sich als exzellente Beherrscher der modernen Technik; im Roman wird dies am „Jungen Adler“ deutlich, der es zur Meisterschaft in der damals fortgeschrittensten Technik überhaupt, nämlich der Fliegerei, bringt und sich mit einem selbstkonstruierten Gerät in die Lüfte erhebt.[24]

„Winnetou IV“ ist das wichtigste literarische Zeugnis für das kulturanthropologische Rasseverständnis bei Karl May. Dies ist schon daran ersichtlich, dass May Figuren mit indianischen oder halbindianischen Wurzeln einführt, welche die indianische Kultur verleugnen und sich stattdessen dem von May perhorreszierten Yankeetum verschrieben haben. Besonders krass tritt dieser kulturelle Assimilationsprozess bei Antonius Paper hervor, dessen Mutter eine Sioux-Indianerin ist. Er wird porträtiert als ein reiner Geldmensch, von Beruf Bankier, dem alle indianischen Tugenden abhanden gekommen sind, der ängstlich und feige agiert (XXXIII, 303-305, 310, 371). Ihm zur Seite wird ein gewisser Mr. Evening gestellt, ein „Ganzindianer“ und „Agent für alles mögliche“ (XXXIII, 380).

Aber selbst honorige Westmänner mit indianischer Mutter, die in der Surehand-Trilogie noch so gerühmten Old Surehand und Apanatschka, sind in „Winnetou IV“ vom Krämergeist infiziert; dasselbe gilt für ihre Söhne Young Surehand und Young Apanatschka: „Sie wollten mit ihrem Projekte ein ,Geschäft‘ machen, und sie wollten ihre Söhne zu einer Berühmtheit emporschrauben, aus welcher immer neue Reichtümer zu schöpfen waren“. (XXXIII 433). Dieser übertriebene Geschäftssinn ließ sie selbst nicht vor dem Andenken Winnetous haltmachen: Waren es doch diese vier, die maßgeblich daran beteiligt waren, dass am Mount Winnetou ein kolossales Winnetou-Denkmal entstehen sollte, das zu einer geschäftlich verwertbaren Touristenattraktion avancieren sollte (XXXIII 398 und 412).

Diesen Negativbeispielen einer kulturellen Assimilierung durch den amerikanischen Kapitalismus stellt May gezielt indianische Beispiele einer gelungenen Kultursynthese aus indianischen und europäischen Tugenden gegenüber. Hier sind vor allem zu nennen die bereits angeführten Häuptlinge Athabaska und Algongka, die zwar ein Exempel des geglückten Bildungsaufstieg sind, aber immer einen Bezug zur Praxis bewahrt haben (XXXIII 395). Und gekrönt wird diese Synthese durch den „Bewahrer der großen Medizin“, Tatellah-Satah, der als großer Gelehrter erscheint, in dessen Bibliothek die schriftlichen Zeugnisse der indianischen Nation verwahrt werden (XXXIII, 435, 443, 483 und 507), darunter auch das Testament Winnetous. Tatellah-Satah befähigt die indianische Nation dazu, die Hoheit über ihre eigene Geschichte dadurch zu erlangen, dass sie den klassischen Weg aller Schriftkulturen wählt: nämlich traditionsbildende Schriftquellen zu produzieren und aufzubewahren, aus denen das kollektive Gedächtnis herausgelesen werden kann.

Aber die Indianer ahmen nicht nur nach, sie praktizieren nicht nur einen nachgeholten Bildungsaufstieg; sie marschieren bei May in der Gestalt des „Jungen Adler“ gewissermaßen an der Spitze des technischen Fortschritts. Tradition und Fortschritt gelangen zu harmonischer Synthese dadurch, dass besagter „Junger Adler“, der eigentliche Erbe Winnetous, mit seinem Flugapparat dreimal um den „Berg der Königsgräber“ fliegt, um dem indianischen Volk auf diese Weise den Zugang zu bislang nicht zugänglichen Dokumenten seiner Vergangenheit zu verschaffen (XXIII 579f.).

Insgesamt entwirft May das Bild einer Kultursymbiose aus indianischen und europäischen Elementen, in der ein universaler Bürgerlichkeitsdiskurs letztlich den Schlüssel für die Verschmelzung beider Kulturen abgibt. Die Wissensvermittlung geschieht auf genuin bürgerliche Weise dadurch, dass Old Shatterhand vor den Indianern aus einem Schlüsseltext vorliest, das heißt im eigentlichen Sinne eine Vorlesung hält, welcher die Zuhörer mit angehaltenem Atem folgen. Doch was Old Shatterhand vorträgt, sind keine Klassiker der antiken Philosophie oder der europäischen Literatur, sondern die von Winnetou selbst hinterlassene Beschreibung seines Lebens und dessen „Gedankenwelt“ (XXXIII 524). May kennt kein weißes Monopol der Wissensvermittlung, weil es der Indianer Wakon ist, der nach vielen Stunden seinen Vorgänger als Verkünder der Botschaft Winnetous ablöst (XXXIII 523).

V.

Allgemein lässt sich mithin festhalten, dass auf der von May propagierten Kulturstufe der Amerikanität der indianische Anteil erheblich ist. Der Wiener Expressionist Robert Müller, einer der scharfsinnigsten Kulturbetrachter und besten May-Kenner, hat bereits im Jahre 1912 bemerkt, dass in der Gestalt Winnetous „die Vorzüge einer sinnlichen mit denen einer vernünftigen Kultur“[25] verbunden sind. In Anknüpfung an neuere kulturwissenschaftliche Debatten um das Spannungsverhältnis zwischen Präsenzkultur und Sinnkultur kann man zu dem Eindruck gelangen, dass May danach trachtete, mit dem indianischen Erbe einen verstärkten präsenzkulturellen Anteil in die neue amerikanische Rasse einfließen zu lassen.[26] Auch Winnetous Lehrer Klekih-Petra erfüllt dieses Anforderungsprofil: May führt ihn ein in „Winnetou I“ mit der Bemerkung: „Man konnte nicht recht unterscheiden, ob er ein Weißer oder ein Indianer war“ (VII 105). Dieser aus Deutschland vertriebene Alt-48er, der die demokratischen Ideen der deutschen Revolution von 1848/49 in die Kulturbegegnung mit den Mescalero-Apatschen einbringt, wandelt sich äußerlich und innerlich zur ersten Personifikation jener europäisch-germanisch-indianischen Synthese, die May im vierten Band des „Winnetou“ ins Zentrum rücken wird.[27]

Noch weitere Anschlüsse an zeitgenössische kulturelle Diskurse lassen sich in der Komposition von Mays Winnetou erkennen: Mit Winnetou als dem Exponenten von Kaltblütigkeit, von innerem Gleichmaß und Selbstbeherrschung wird ein Gegenbild zum von Nervosität geplagten und von Hektik verfolgten europäischen Opfer technischer Beschleunigung gezeichnet. Der Historiker Joachim Radkau hat in einer faszinierenden Studie das Wilhelminische Deutschland, also den Zeitraum, in dem May seine Winnetou-Romane fertigstellte, als „Zeitalter der Nervosität“[28] charakterisiert, welches in der Literatur Gegenentwürfe geradezu provozierte. Insofern ist auch Mays Winnetou als Prototyp eines „neuen Nervenmenschen“[29] konzipiert, der in die indianisch-europäische Symbiose eine in der industriellen Moderne immer seltenere Kulturtugend einzubringen vermag.

Mays Plädoyer für die kulturelle Heilkraft der Amerikanität fußt auf einer Diagnose der Moderne, die deren Ambivalenzen hervorhebt und – fernab von jeder Fundamentalkritik – in Amerika einen Landschaftsraum erblickt, in dem westliche Zivilisationskrankheiten genesen können. Besonders anschaulich wird dies in seiner letzten Monografie, die noch dem Genre der Reiseerzählung verpflichtet ist: der 1897 entstandenen Erzählung „Weihnacht!“.[30] Hier ist es die Figur des Carpio, des Jugendfreundes des Ich-Erzählers und späteren Old Shatterhand, an dem May eine Art Pathologie der modernen Zivilisation vorführt. Carpio ist ein Opfer der verweichlichenden süßen Wirkungen der westlichen Zivilisation: Seine chronische Zerstreutheit gründet darin, dass er die auf ihn einströmenden sensuellen Reize kognitiv nicht verarbeiten kann; insofern ist auch er ein Opfer der bereits erwähnten nervlichen Überforderung und wird in dieser Erzählung als nervenkrank geschildert.

Doch leidet Carpio nicht nur an einer Nervenkrankheit; er weist auch körperliche Defizite auf, die als erster bezeichnenderweise Winnetou diagnostiziert: „Dein Schützling ist nicht nur krank am Geiste, sondern auch krank am Körper“. (XXIV 382).„Weihnacht!“ ist daher auch und nicht zuletzt eine Beitrag Mays zum zeitgenössischen Vitalismusdiskurs – einem Diskurs, der sich von bürgerlicher Distanz zu körperlicher Ertüchtigung, Gleichgültigkeit gegenüber Körperbeherrschung und Scheu vor den Eruptionen elementarer Körperfunktionen bewusst abhebt und stattdessen die unmittelbarer Begegnung mit dem Körper wie den Urkräften der Natur als lebensspendende Kraftquelle postuliert. Auch hier floss viel von Nietzsches Zivilisations- und Bürgertumskritik in die Schriften Mays ein.[31] Die Indianer sind Lehrmeister eines handwerklich geschickten und daher durchaus als ingeniös zu bezeichnenden Umgangs mit dem Körper; ihre Art, den Körper zu stählen, das nasse Element schwimmend zu durchqueren und sich durch Kunstfertigkeit im Reiten fortzubewegen, kann als vorbildlich gelten – bezeugt durch den Ich-Erzähler selbst, der sich nach Aussage Carpios bereits in Europa Grundfertigkeiten im Schwimmen, Turnen und Reiten aneignete (XXIV 380), um sie dann unter Anleitung Winnetous zu verfeinern. Carpio hingegen schöpft seine Kenntnisse über Amerika aus Schulbuchwissen und minderwertigen „Indianerbüchern“ (XXIV 379) und reduziert Amerika auf die Aussicht, es dort durch Goldfunde zu Reichtum zu bringen (XXIV 46f.), ohne die körperlichen und mentalen Voraussetzungen zu erwerben, um der Natur ihre Schätze abzuringen. Daher kann Carpio auch nur unzureichend reiten und schleppt sich förmlich auf dem Pferd voran(XXIV 360); seine körperliche Untauglichkeit wie seine geistige Teilnahmslosigkeit sind erschütternd (XXIV, 384-391).

Carpio und sein Jugendfreund, also der spätere Old Shatterhand, bezeugen die zwei entgegengesetzten Optionen kultureller Auseinandersetzung mit der indianisch geprägten Lebenswelt Nordamerikas: Carpio scheitert in der Konfrontation mit der robusten und harten Lebenswelt der Rocky Mountains, dem Stahlbad für verwöhnte Zivilisationsmenschen; er geht an der rauhen Begegnung mit der Natur zugrunde, in die ihn weiße Männer ohne jede Vorbereitung aus eigensüchtigen Motiven hineingeworfen haben. Insofern ist Carpio ein Exempel für die kulturellen Defizite zivilisatorischer Verweichlichung und enthält zugleich ein Bekenntnis dazu, daß diese Zivilisationskrankheit durch den Einfluss indianischer Naturheilkräfte kuriert werden kann.Hierzu führt May in „Weihnacht!“ eine Figur ein, nämlich Dr. Hermann Rost, der bewusst den Kulturkontakt mit den Indianern sucht, bei ihnen lebt – dem Stamme der Schoschonen –, dort in die Geheimnisse indianischer Naturheilkunde eingeweiht wird und danach wieder an die Ostküste zurückkehrt, wo er als „einer der angesehensten Naturärzte“ (XXIV 619) praktiziert.[32]

VI.

Gerade Mays Eintreten für den amerikanoiden Menschen als mélange zwischen europäischen und indianischen Kulturtraditionen machte ihn für den deutschsprachigen Expressionismus interessant. Der Expressionismus liebäugelte generell mit der Vorstellung der Erschaffung eines Neuen Menschen. Diese Einstellung barg zweifellos auch das Potential in sich, zum Vorreiter einer menschenverachtenden Verfügung über Individuen unter Berufung auf eine vermeintlich humane Menschheitsidee zu werden.[33] Aber dabei darf nicht außer acht gelassen werden, dass vor dem Ersten Weltkrieg der Expressionismus die Anbetung der revolutionären, der gewaltverherrlichenden Tat noch nicht in dem Maße auf seine Fahnen geschrieben hatte wie in der Zeit ab 1918, als sich besonders in München und Wien im Umkreis von Kurt Hiller Literaten als revolutionäre Vorkämpfer betätigten und dabei Andersdenkende zu ihrem vermeintlichen Glücke zwingen wollten.

Es war ein heute nahezu vergessener Vertreter des frühen Wiener Expressionismus, der entscheidend daran beteiligt war, Karl May zu einem letzten Triumph und zu einer verspäteten Genugtuung in der Öffentlichkeit zu führen, als er ihn zu seinem berühmten Vortrag „Empor ins Reich der Edelmenschen“ in den Sofiensaal am 22. März 1912 einlud, der als ein besonders eindrucksvolles Bekenntnis Mays zum Weltethos gelten darf.[34] Dieser Expressionist war Robert Müller, zum Zeitpunkt des Auftritts von May noch nicht einmal 25 Jahre alt; er hatte May in seiner Eigenschaft als literarischer Leiter des „Akademischen Verbands für Literatur und Musik“ eingeladen. Müller repräsentierte eine Vereinigung junger Künstler und Studenten, die gerade der avantgardistischen Kunst ein Forum bieten wollte; und dass ausgerechnet May einer Einladung durch diese progressive Vereinigung für würdig befunden wurde, spricht Bände.[35]

Robert Müller gehörte zu den expressionistischen Dichtern der multikulturellen Habsburger-Monarchie, die – nicht zuletzt weil sie selbst einige Zeit in der Neuen Welt lebten – ihre leitende Vorstellung eines neuen Menschentypus im Schmelztiegel Amerikas am ehesten verwirklicht sahen.[36] Wohl nicht zuletzt deswegen setzte Müller gewisse Hoffnungen in den bekannten, aber zugleich umstrittenen sächsischen Fabulierer, dass dieser vor einem großstädtischen Publikum der Metropole der multinationalen Donaumonarchie seine Menschheitsgedanken verkünden sollte. Müller plante Mays Auftritt wie den eines Literaturstars; er wählte bewusst ein amerikanisches Format des öffentlichen Auftritts Mays, das massentauglich war. Am 4. März 1912 schrieb Müller an den Herausgeber der avantgardistischen Zeitschrift „Der Brenner“: „Ich habe im Sinn, einen ethical clubevening im amerik. Sinne daraus zu machen: Er bekommt einen 2000er Saal, billige Preise. Da hat er seine Kirche“.[37] Das Kalkül Müllers, der sich selbst als „Kultur-Unternehmer“[38] einstufte, ging insofern auf, als sich mehr als 2000 Menschen im Sofiensaal versammelten und dem sächsischen Hakawati Ovationen darboten.

Nur das Vortragsthema dürfte nicht ganz die Erwartungen Müllers erfüllt haben. Zwar hatte May bei seinen Pressegesprächen, mit denen er seinen Wiener Vortrag professionell flankierte, nicht nur die universale Idee der Menschenliebe beschworen, sondern auch seine besonderen Hoffnungen hinsichtlich des erwachenden Amerika und der dort in statu nascendi befindlichen „amerikanischen Rasse“[39] artikuliert. Doch im Vortrag verweilte May allem Anschein ganz auf den Kammhöhen der Veredelung des Menschengeschlechts, ohne eine privilegierte Stellung des amerikanischen Menschentypus in diesem Prozess zu erwähnen.

Dennoch hatte Robert Müller allen Anlass, Karl May zu den geistigen Vorläufern jener vor 1914 durchaus geschichtsmächtigen geistigen Strömung zu rechnen, die in Amerika das Ursprungsland der Entstehung eines kulturell veredelten Menschentypus erblickten, der das Beste aus der indianischen wie der europäischen Kultur in sich vereinte. Die Hauptstadt des Vielvölkerstaats der Habsburgermonarchie war ein besonders fruchtbarer Ort, um diese Facette an den Werken Mays gebührend zu würdigen. So hat sich der in Wien ansässige Amand von Ozoróczy bereits 1909 in einer literarischen Porträtstudie in diesem Sinne geäußert.[40]

In einem 1923 erschienenen Essay taufte Robert Müller diesen Menschenschlag „Americano“. Dieser Aufsatz Müllers verdient es, im Kontext unserer Ausführungen herangezogen zu werden, weil er verdeutlicht, dass literarische Hochkaräter zu den Exponenten einer amerikanischen Kulturmission zu rechnen waren: neben Karl May kein geringerer als Walt Whitman, die lyrische Stimme der amerikanischen Demokratie. Bezeichnenderweise war der Rassebegriff bei Müller wie bei May und Whitman im Kern kulturanthropologisch ausgerichtet: Die amerikanische Rasse war weniger das Produkt einer geschlechtlichen Verschmelzung zwischen Menschen mit roter und weißer Hautfarbe als das Resultat einer Akkulturation der weißen Zuwanderer an indianischen Habitus.

Robert Müller gehörte dabei zu denjenigen, die den kulturprägenden Einfluss der amerikanischen Landschaft und Natur betonten. Es ist kein Zufall, wenn er in diesem Kontext einen geglückten Vererbungsprozess kultureller Fertigkeit vom roten auf den weißen Mann an einer vermeintlichen Indianisierung des Gesichts feststellen wollte. In Zeiten visueller Uneindeutigkeit war die Tendenz weitverbreitet, soziale Ordnung durch das Verfahren physiognomischer Klassifikation zu stiften. Der Boom der Physiognomie als Ordnungswissenschaft zeugt von einem nicht zuletzt im deutschen Kulturkreis verbreiteten Diskurs, Orientierungswissen durch das scheinbar Eindeutigkeit verbürgende Gesicht zu generieren; Rudolf Kassner mag hierfür als prominentes Beispiel genügen.[41] Lassen wir daher Robert Müller einmal ausführlich zu Wort kommen: „Rasse ist eben etwas geistig Atmosphärisches. Wir wissen, wie schnell sich die Physiognomie des Europäers und selbst des Levantiners ändert, wenn er einige Zeit unter dem Klima und dem stylisierenden Einfluß der amerikanischen Bodenprägung gelebt hat; er bekommt jene charakteristischen Züge, die wir ‚amerikanisch‘ nennen, sein Gesicht geht unbeschadet aller individuellen Einzelheiten in ein allgemeines Gesicht über; es ist das eigentlich amerikanische Gesicht, wie es auch die Indianer gehabt haben oder noch haben. Ein moderner Indianer im Gesellschaftsanzug ist bis auf den etwas dunkelmatteren Teint und die trockenen starken Haare kaum als Farbiger erkennbar, er hebt sich von indianisierten Physiognomien seiner kaukasischen Umgebung nicht ab. Der mokante wehmütige Mund, stärkere Backenknochen, Energiefalten zwischen Nase und Lippen und eine leichte Verlängerung in den Augenwinkeln, die an Mongolisches stößt, zeichnen den weißen Amerikaner ebenso aus, wie seinen roten Bruder und Vorgänger.“ [42]

Der Anschluss des Rassendiskurses an den Physiognomiediskurs erlaubte es, auch dann einen prädominanten indianischen Kultureinfluss zu postulieren, wenn an der ökonomischen und bevölkerungspolitischen Unterlegenheit der native americans kein Zweifel bestehen konnte. Gerade weil sich die Indianer als Naturmenschen den Bedingungen der Naturlandschaft perfekt anpassten, konnten sie diese Fähigkeit an die weißen Eroberer in physiognomischer Hinsicht weitergeben: „Die Indianer vermochten, das ist kein Zweifel, durch die eigentümliche Poesie, die ihrem Wesen entströmte und obwohl sie auf den Aussterbeetat gesetzt sind, bei ihren Bezwingern den Charakter der Amerikanität, um es so auszudrücken, körperlich festzubannen“.[43]

Der 1818 geborene und 1898 verstorbene Sänger amerikanischer Freiheit, Walt Whitman, erschien Müller, obgleich sein Name „Whit-Man“ die weiße Dominanz semantisch zu zementieren schien, als ideale Verkörperung des siegreichen kulturellen Indianertums, dem trotz seines voraussehbaren biologischen Verschwindens weltweit die Zukunft gehöre: Der Indianer „stirbt zwar aus; aber sein geistiges Wesen, sein Präriemenschentum brachte Walt Whitman als eigentlichen Vollender des amerikanischen Typs hervor und von diesem geht eine neue Reihe von Menschen über die Erde aus, die amerikanoiden Menschen, ein ganzes Volk“.[44] Whitmans Lyrik bot durchaus Anlass zu solcher Deutung: Er sang das Loblied auf die kulturell befruchtende Wirkung des Austausches der verschiedenen Ethnien und bezog darin ausdrücklich die „Native Americans“ ein.[45]

Damit sollte deutlich geworden sein, dass May nicht nur ein eindrucksvoller Verfechter der kulturellen Höherentwicklung der Menschheit durch Überschreiten der Rassengrenzen war. May stand mit dieser Position in der Zeit nach 1900 auch keineswegs alleine da. Es wird höchste Zeit, die kulturell hochaufregende Epoche vor 1914 nicht zur Vorstufe eines späteren, staatlich verordneten menschenverachtenden Rassismus zu degradieren. Insofern war Karl May nicht nur ein Dichter des 19. Jahrhunderts; er hatte auch Anteil an mächtigen geistigen Unterströmungen, die erst im Verlaufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Durchbruch gelangen sollten.

Anmerkung der Redaktion: Der vorliegende Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den der Verfasser auf einer von der Karl – May – Gesellschaft organisierten Tagung in Leipzig im März 2012 hielt. Er wird in gedruckter Form in dem von Hartmut Vollmer herausgegebenen Tagungsband erscheinen.

[1] Karl May: „Brückenbauer zwischen den Kulturen“. Hg. v. Wolfram Pyta, Berlin 2010.

[2] Zum Rassendiskurs generell vgl. Christian Geulen: „Geschichte des Rassismus“. München 2007; Peter Walkenhorst: „Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890-1914“. Göttingen 2007, S. 102-119.

[3] So auch schon Jürgen Kroll: „Karl May – Ein Sozialdarwinist“. In: MKMG 21 (1989), S. 27-32.

[4] Vgl. entsprechende Beispiele in dem erhellenden Beitrag von Franz-Josef Schulte-Althoff: „Rassenmischung im kolonialen System. Zur deutschen Kolonialpolitik im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg“. In: Historisches Jahrbuch 105 (1985), S. 52-94, vor allem S. 57-65.

[5] Mit diesem Argument relativiert Eva Blome: „Reinheit und Vermischung. Literarisch-kulturelle Entwürfe von „Rasse“ und Sexualität (1900-1930)“. Köln 2011, vor allem S. 14f. , die von ihr angeführten literarischen Beispiele für eine positive Darstellung der Rassenvermischung im „literarischen Primitivismus“.

[6] Bertin Nyemb: „Interkulturalität im Werk Thomas Manns“. Stuttgart 2007, S. 195-199.

[7] Anita Ziegerhofer – Prettenthaler: „Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren“. Wien 2004.

[8] Richard Coudenhove-Kalergi: „Praktischer Idealismus. Adel – Technik – Pazifismus“. Wien 1925, S. 22f.

[9] Papers on inter-racial problems communicated to the first universal races congress held at the university of London, London 1911.

[10] Zitiert aus der Korrespondenz Klara Mays mit E. A. Schmid aus dem Jahre 1938 bei Ekkehard Bartsch: „,Und Friede auf Erden!‘ Entstehung und Geschichte“. In: JbKMG 1972, S. 93-122, Zitat S. 115.

[11] So die Eingabe des Lehrers Wilhelm Fronemann an die Jugendschriftstelle des Nationalsozialistischen Lehrerbundes vom 16. November 1933, zitiert bei Erich Heinemann: „,Karl May paßt zum Nationalsozialismus wie die Faust aufs Auge‘. Der Kampf des Lehrers Wilhelm Fronemann.“ In: JbKMG 1982, S. 234-244, hier S. 237.

[12] Vgl. Hitlers Äußerung an der Abendtafel des „Führerhauptquartiers“ am 5. Oktober 1941, „daß er seine größten geographischen Kenntnisse durch die Lektüre von Karl May erhalten habe“; Hitler kannte überdies Mays „ganze Lebens- und Leidensgeschichte“; alles gemäß dem Bericht Koeppens, in: Herbst 1941 im „Führerhauptquartier“. Berichte Werner Koeppens an seinen Minister Alfred Rosenberg. Hg. v. Martin Vogt. Koblenz 2002, S. 61.

[13] Nähere Nachweise bei Wolfram Pyta: „Kulturwissenschaftliche Zugriffe auf Karl May“. In: Pyta [Anm. 1], S. 9-46.

[14] Hermann Wohlgschaft: „,Die Schöpfung ist noch nicht vollendet‘. Der Entwicklungsgedanke bei Karl May und Pierre Teilhard de Chardin“. In: JbKMG 2003, S. 141-188.

[15] Hermann Wohlgschaft: „Karl May und die Evolutionstheorie. Quellen – geistesgeschichtlicher Hintergrund – zeitgenössisches Umfeld“. In: JbKMG 2003, S. 189-243; vgl. zur Nietzsche-Rezeption auch Ernst Nolte: „Nietzsche und der Nietzscheanismus“. München 2000, S. 239f.

[16] Peter Uwe Hohendahl: „Von der Rothaut zum Edelmenschen. Karl Mays Amerikaromane“. In: „Karl Mays ,Winnetou‘.“ Hg. von Dieter Sudhoff u. Hartmut Vollmer. Osnabrück 2007, S. 187-209, hier S. 202.

[17] Vgl. auch Hermann Wohlgschaft: Karl May. Leben und Werk. Bd. 1. Bargfeld 2005, S. 505f.

[18] So die treffende Würdigung von Robert Müller: „Nachruf auf Karl May“. In: JbKMG 1970, S. 108.

[19] Volker Depkat: „Geschichte Nordamerikas“. Köln 2008, S. 158-160.

[20] Vgl. auch die eindeutigen Bekenntnisse Mays in zwei Schreiben an die bayerische Prinzessin Wiltrud aus dem Hause Wittelsbach, 7. März 1908 und 18. April 1909, abgedruckt in: Karl May: „Briefe an das bayerische Königshaus“. In: JbKMG 1983, S. 76-122, hier S. 110 und S. 115.

[21] So die kühne Behauptung von Peter Bolz: „Winnetou – Edler Wilder oder Edelmensch?“ In: JbKMG 2008, S. 113-124, hier S. 121; in dieselbe Richtung argumentiert – ebenso unter Verzicht auf geschichts- und kulturwissenschaftliche Erträge der american studies – Barbara Drucker: „Intertextualität im Zeichen der Germanisierung. Überlegungen zu Karl Mays Figur Winnetou“. In: JbKMG 2010, S. 205-219.

[22] Vgl. dazu die philologisch akribischen Ausführungen von Klaus Eggers: „Nach-Denken über Winnetou. Aus gegebenem Anlaß – und darüber hinaus“. In. JbKMG 2011, S. 175-201; siehe auch schon Dieter Sudhoff: „Karl Mays ,Winnetou IV‘“. Ubstadt 1981, S. 108-111.

[23] Ulrich Scheinhammer-Schmid: „Winnetous fliegende Feder. Abbreviaturen zum ,Testament des Apachen‘“. In: „Karl Mays ,Winnetou‘“. Hg. v. Dieter Sudhoff u. Hartmut Vollmer. Oldenburg 2007, S. 232-244.

[24] Ebd., S. 238.

[25] Robert Müller: „Das Drama Karl Mays“. In: JbKMG 1970, S. 98-104, Zitat S. 102.

[26] Harald Eggebrecht hat in einer grundlegenden Studie gerade den Abenteuerroman als adäqate Form der Expression von Sinnlichkeit rehabilitiert: Harald Eggebrecht: „Sinnlichkeit und Abenteuer. Die Entstehung des Abenteuerromans im 19. Jahrhundert“. Marburg 1985.

[27] In ähnliche Richtung argumentiert bereits der erhellende Beitrag von Claus Roxin: „,Winnetou‘ im Widerstreit von Ideologie und Ideologiekritik“. In: „Mays ,Winnetou‘“ [Anm. 23], S. 245-264, hier S. 260.

[28] Joachim Radkau: „Das Zeitalter der Nervosität“. München 1998.

[29] Müller: Drama [Anm. 25], S. 102.

[30] Wichtige Anregungen finden sich bei Eckehard Koch: „,Ich bin als Indianerfreund bekannt‘. Karl Mays Wilder Westen in ,Weihnacht!‘“. In: Karl Mays „Weihnacht!“. Hg. v. Dieter Sudhoff u. Hartmut Vollmer. Oldenburg 2007, S. 176-209, vor allem S. 202f.

[31] Ähnlich wie in Ernst Jüngers 1932 erschienen Werk „Der Arbeiter“, vgl. hierzu Reinhard Wilczek: „Nihilistische Lektüre des Zeitalters. Ernst Jüngers Nietzsche – Rezeption“. Trier 1999.

[32] Weitere Textstellen zu Rost in XXIV 130f., 136f., 283.

[33] Dazu treffend Günter Scholdt: „,Empor ins Reich der Edelmenschen.‘ Eine Menschheitsidee im Kontext der Zeit“. In JbKMG 2000, S. 94-110.

[34] Ekkehard Bartsch: „Karl Mays Wiener Rede. Eine Dokumentation“. In: JbKMG 1970, S. 47-80.

[35] Hans Wollschläger: „Sieg – Großer Sieg – Karl May und der Akademische Verband für Literatur und Musik“. In: JbKMG 1970, S. 92-97.

[36] Vgl. den Nachruf von Arthur Ernst Rutra: Robert Müller. In: „Expressionismus – Aktivismus – Exotismus“. Hg. v. Helmut Kreuzer und Günter Helmes. Göttingen 1981, S. 302-311; siehe auch das Nachwort von Hans Heinz Hahnl: „Atlantische Verlockungen“. In. Robert Müller: „Gesammelte Essays“. Paderborn 1995, S. 293-306.

[37] Dieser Brief ist auszugsweise abgedruckt bei Franz Cornaro: „Robert Müllers Stellung zu Karl May“. In: JbKMG 1971, S. 236-245, Zitat S. 238.

[38] Ebd., S. 238.

[39] So im Gespräch mit dem Journalisten Paul Wilhelm („Neues Wiener Journal“; dessen Bericht vom 2. April 1912 ist wiederabgedruckt: „Karl May in Wien. Letzte Interviews (1912)“. In: JbKMG 1970, S. 81-91, Zitat S. 90.

[40] Abgedruckt in: „Im Kampf für einen ,Vielgeschmähten‘. Die ,Augsburger Postzeitung‘ und Karl May – Eine Dokumentation“. Hg. von Jürgen Hillesheim u. Ulrich Scheinhammer-Schmid. Husum 2010, S. 180-189.

[41] Zu ihm die luziden Ausführungen bei Wolfgang Martynkewicz: „Salon Deutschland. Geist und Macht 1900-1945“. Berlin 2007, vor allem S. 366-371.

[42] Robert Müller: „Rassen, Städte, Physiognomien. Kulturhistorische Aspekte“. Berlin 1923, S. 54f.

[43] Ebd., S. 55f.

[44] Ebd., S. 61; zum Einfluss Whitmans auf Müller vgl. auch Christian Liederer: „Der Mensch und seine Realität. Anthropologie und Wirklichkeit im poetischen Werk des Expressionisten Robert Müller“. Würzburg 2004, S. 31f.

[45] David S. Reynolds: ,,Walt Whitman´s America. A Cultural Biography”. New York 1996, vor allem S. 289-291 und S. 317-321.